Theoretische Seiten von KARL REITTER
Eine paradoxe Situation
Dass wir im Kapitalismus leben, ist weit über die Linke hinaus Konsens. Wie selbstverständlich wird das Kapital als politischer Akteur erkannt. Attac etwa zeigt unermüdlich das Bestreben der Konzerne auf, politische und rechtliche Verhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern und zu manipulieren. Und dass es die Profitinteressen der KapitaleignerInnen sind, die zu rücksichtsloser Naturzerstörung führen, ist in kritischen Kreisen Gemeinplatz. Aber wie steht es um den anderen Pol des Kapitalverhältnisses, der ArbeiterInnenklasse? Diese scheint, wenn schon nicht verschwunden, doch weitgehend inaktiv zu sein. Während der eine Pol des Klassenverhältnisses, das Kapital, als mächtig und politisch präsent erkannt wird, erscheint der andere Pol, das Proletariat, als blasses Abziehbild früherer Zeiten. Als zentrales politisches Subjekt des um eine nachkapitalistische Gesellschaft scheint es verschwunden. Niemand kommt auf die Idee, die Donnerstagsdemos als Aufmärsche der österreichischen ArbeiterInnenklasse zu bezeichnen. An die Stelle des Proletariats tritt offensichtlich eine Vielzahl unterschiedlicher AkteurInnen; Frauen, MigrantInnen, Studierende, Scheinselbständige, Erwerbsarbeitslose und – eben auch – Beschäftigte. Aber vom Kapital zu reden und von der ArbeiterInnenklasse zu schweigen, das wäre so, als ob wir über Berge sprechen ohne die Täler zu erwähnen. Wenn wir das Kapital begreifen wollen, müssen wir an seinem Gegensatz, dem Proletariat, festhalten. Aber wie das scheinbare Rätsel des geschwundenen Proletariats lösen?
Verschiedenste politische Reaktionen
Die Linke reagiert auf diese paradoxe Situation unterschiedlich. Manche ignorieren diese Frage, andere sprechen von neuen Subjekten wie der Multitude, dem Multiversum der WeltarbeiterInnenklasse oder erklären umstandslos: »Wir sind die 99%«. Weitere bevorzugen Theorien der Politik, in denen der Bezug zu ökonomischen Verhältnissen gekappt ist. Zu erwähnen ist auch die Gruppe jener, die nach wie vor eine Art Zwiebeltheorie sozialer Verhältnisse bevorzugen, in deren Mitte sich sogenannte Kernschichten der ArbeiterInnenklasse befinden sollen, ummantelt von anderen politischen AkteurInnen. Ich weiß nicht wie es euch, liebe LeserInnen, geht, aber mich überzeugt keines dieser Angebote. Ich möchte euch alternativ meine Sichtweise vorstellen.
Wie war es denn früher?
Historisch entstand das Proletariat als scharf abgegrenzte soziale Schicht. Obwohl es niemals homogen und einheitlich war, war doch der Unterschied zu anderen sozialen Gruppen wie den Bauern und Bäuerinnen, den HonoratiorInnen und den BeamtInnen allen bewusst. Dass es eine ArbeiterInnenschaft gab, war eine unbestreitbare soziale Gewissheit. Jeder wusste, wo die ArbeiterInnen wohnen, wo sie verkehren, wo sie ihre Freizeit verbringen usw. Die Abgrenzung zu anderen Schichten war scharf und klar. Die ArbeiterInnenschaft bildete ein eigenes soziales Universum, mit ArbeiterInnensiedlungen, einer ArbeiterInnenkultur, ArbeiterInnen-Sportvereinen, ArbeiterInnenliedern und ArbeiterInnenparteien. Diese Ausdrucksformen wurden von der Linken bewusst gefördert und organisiert. Die soziale Tatsache der ArbeiterInnenschaft wurde auch von der politischen Mitte und auch der Rechten nicht in Frage gestellt. So sollte die ArbeiterInnenschaft im österreichischen Austrofaschismus durchaus einen angestammten Platz im Ständestaat bekommen. Der Faschismus hofierte die ArbeiterInnenschaft als notwendigen Teil des arischen Staats- und Volkskörpers. Nach 1945 wurde der Tatsache, dass es eben auch eine ArbeiterInnenschaft gibt, mit der Sozialpartnerschaft Rechnung getragen. Nicht dass es eine ArbeiterInnenschaft gab, war umstritten. Der Konflikt drehe sich um ihre gesellschaftliche Rolle. Wollte sie die Rechte als untergeordneter Teil einer als harmonisch phantasierten Ordnung eingliedern, so beharrte die Sozialdemokratie auf gegensätzlichen Interessen, die doch letztlich über Kompromisse und Sozialpolitik zum Ausgleich gebracht werden sollten. Allein der kommunistische Flügel erkannte die Unversöhnbarkeit der sozialen Widersprüche und erblickte in der ArbeiterInnenschaft das revolutionäre Proletariat. So unterschiedlich die jeweilige Haltung zur ArbeiterInnenschaft auch war, als soziale Tatsache wurde sie bis in die 50er-Jahre hinein von niemandem in Frage gestellt. Erst nach und nach wurde die soziale Existenz einer einheitlichen ArbeiterInnenklasse selbst in Frage gestellt.
Vom ArbeiterInnenbewusstsein zum Klassenbewusstsein?
Solange die ArbeiterInnenschaft als klar abgegrenzte soziale Gruppe, noch dazu mit eigener Kultur, eigenen Organisationen und Vereinen existierte, solange war das ArbeiterInnenbewusstsein eine notwendige und logische Folge. Das Bewusstsein, eben Arbeiterin oder Arbeiter zu sein und deswegen auch das Recht auf Anerkennung und ein würdiges Dasein zu haben, ist nicht unbedingt revolutionär. Dies war für Marx ebenso selbstverständlich wie für Engels und Lenin. Kurzum, wohl alle DenkerInnen und AktivistInnen der kommunistischen Bewegung konstatierten: ArbeiterInnenbewusstsein ist keineswegs gleichbedeutend mit Klassenbewusstsein, schon gar nicht mit revolutionärem. Aber, und das war sozusagen in Stein gemeißelt: Klassenbewusstsein könne nur aus dem ArbeiterInnenbewusstsein erwachsen. Das ArbeiterInnenbewusstsein wurde als die Basis, als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines revolutionären Klassenbewusstseins erachtet. Deswegen war (und ist) auch die Formel von der Entwicklung der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« so populär. Die Klasse an sich, das sei eben die gegebene ArbeiterInnenschaft, die wohl um ihren sozialen Status weiß – »Wir sind ArbeiterInnen« –, aber nur vage und verschwommene Vorstellungen über ihre emanzipatorischen Möglichkeiten hätte. Wie diese Weiterführung möglich sei, darüber gab und gibt es durchaus Kontroversen. Aber dass am ArbeiterInnenbewusstsein anzuknüpfen sei, das schien unmittelbar evident. Es mag mache überraschen, aber das Schema der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« existiert bei Marx nicht. Es gibt keine einzige Passage im Marxschen Werk, in dem er ein derartiges Schema entwickelt.1 Es ist tatsächlich ein genuin Leninistisches Konzept, wobei Lenin der Avantgardepartei die Rolle zuschreibt, diese Transformation zu bewirken. Solange aber eine klar erkennbare kulturell und sozial bestimmte ArbeiterInnenschaft existierte, solange war die Leninsche Formel vom gegebenen »trade-unistischen« Bewusstsein als Ausgangspunkt für tatsächliches Klassenbewusstsein so überzeugend.
Klassentheorie in der Krise: Die schwindende ArbeiterInnenschaft
Nun ist die ArbeiterInnenschaft nicht völlig verschwunden. Aber als spezifische kulturelle und soziale Schicht erscheint sie als ein Milieu unter vielen anderen. Die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen versteht sich kaum als der ArbeiterInnenschaft zugehörig. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass das Proletariat verschwunden ist, im Gegenteil. Im Schwinden begriffen ist bloß eine spezifische kulturelle und lebensweltliche Ausprägung des Proletariats. Soziale Identitäten sind stets im Alltagsbewusstsein verankert. Sie sind unmittelbar sinnlich gewiss, wenn ich das etwas philosophisch formulieren darf. Die alte ArbeiterInnenschaft mit ihrer Kultur, ihren Organisationen und Vereinen ist versunken und wird auch nicht wieder entstehen. Um den Begriff des Proletariats angemessen zu verstehen, gilt es ein weit verbreitetes Missverständnis zu überwinden. Marx hat das Proletariat niemals mit einer ganz bestimmten kulturellen und sozialen Gestalt identifiziert, sondern als hoch abstrakten Pol des Klassenverhältnisses bestimmt. »Träger der Arbeit als solcher, d. h. der Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht daher seinen ökonomischen Charakter aus; er ist Arbeiter im Gegensatz zum Kapitalisten. Dies ist nicht der Charakter der Handwerker, Zunftgenossen etc., deren ökonomischer Charakter grade in der Bestimmtheit ihrer Arbeit und dem Verhältnis zu einem bestimmten Meister liegt etc.« (MEW 42: 218f.) Mein Argument lautet also: Die klassische ArbeiterInnenschaft hatte noch immer bestimmte kulturelle und soziale Züge, ähnlich wie es die HandwerkerInnen oder ZunftgenossInnen hatten. Eine eindeutige Identifikation des Proletariats mit einer bestimmten sozialen Ausprägung funktionierte schon zu Marxens Zeiten kaum. Engels zeichnet in seiner Studie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« zwei weitgehend unterschiedliche soziokulturelle Ausprägungen des Proletariats: die englische und die migrantische irische ArbeiterInnenklasse unterschieden sich hinschlich Lebensweise, Ideologie und sozialer Position teilweise beträchtlich. Das alles gilt heute noch viel mehr. Identifizieren wir das Proletariat nicht mit bestimmten, deskriptiv zu erfassenden ArbeiterInnenmilieus, so zeigt es sich, dass das Proletariat sich erst gegenwärtig in jener Form verwirklicht, die Marx vor Augen hatte. ProletarierIn zu sein bedeutet, dem Kapital als abstraktes Arbeitsvermögen, das tendenziell zu jeder bestimmten Arbeit eingesetzt werden kann, gegenüberzustehen. Und so ist es auch für die überwiegende Mehrheit: das eigene Arbeitsvermögen muss unabdingbar am Arbeitsmarkt verkauft werden, in welcher Form dies auch immer geschehen mag. Kulturelle Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den VerkäuferInnen der Arbeitskraft inzwischen allerdings oft nur wenige. Zeichnet sich die vor- und frühkapitalistische Arbeitskraft durch eine besondere Bestimmtheit aus (ich bin SchlosserIn, ich bin BuchdruckerIn usw.), eine Bestimmtheit, die notwendig ein ebenso bestimmtes Standes- und Schichtbewusstsein ergibt (»wir BuchdruckerInnen«), tendieren kapitalistische Verhältnisse dazu, die Arbeitskraft von allen bestimmten und identitätsprägenden Merkmalen abzulösen. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise schafft ein Proletariat, das in zahlreiche Milieus und Szenen aufgesplittert ist. Diese Tendenzen widerlegen nicht, sondern bestätigen umgekehrt den Marxschen Begriff des Proletariats: es ist ein hoch abstrakter analytischer, kein soziologisch deskriptiver Begriff. Es ist ein Pol des Klassenverhältnisses, das im Grunde immer schon unterschiedlichste Formen und Ausprägungen angenommen hat.
Hemmnis oder Vorteil?
Diese Überlegungen führen uns zu entscheidenden Fragen: Ist es ein Problem, dass das Proletariat kein einheitliches, kulturelles und soziales Gesicht mehr hat? Ist das Schwinden des ArbeiterInnenbewusstseins für die Herausbildung eines Klassenbewusstseins ein Hemmnis oder gar ein Vorteil? Ich tendiere zu Letzterem. Zwischen Klassenbewusstsein und ArbeiterInnenbewusstsein gab es nicht nur kontinuierliche Übergänge, sondern auch klare Gegensätze. ArbeiterInnenbewusstsein ohne Klassenbewusstsein trägt die Bejahung der Verhältnisse in sich. Wir sind ArbeiterInnen, wir sind stolz darauf, wir fordern, gerade weil wir fleißig und ehrlich arbeiten, auch unseren Platz in der Gesellschaft – so wie sie ist! Diese konservative Tendenz zeigt sich auch im Wahlverhalten traditioneller ArbeiterInnenschichten, die offenbar eine fatale Neigung haben, auch rechte und rechtspopulistische Parteien zu wählen. Das Klassenbewusstsein ist hingegen verneinend. Es besteht im Kern im Streben nach der Selbstaufhebung des Proletariats als Proletariat. Soziale Verhältnisse, in denen Menschen gezwungen werden, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, soll es nicht mehr geben. Klassenbewusstsein beinhaltet auch die von Marx immer wieder geforderte Kritik der herrschenden Formen der gesellschaftlichen Arbeit. Das bedeutet: Arbeit darf nicht mehr Lohnarbeit sein, die Produktionsmittel nicht mehr Kapital und die Oberfläche der Erde nicht mehr Privatbesitz. Es ist evident, dass das ArbeiterInnenbewusstsein, insbesondere in seiner konservativen Ausprägung, meilenweit von solchen Haltungen entfernt war und ist.
Konsequenzen
Wenn die hier vertretene Auffassung akzeptiert und ernst genommen wird, so hat dies einige Konsequenzen. Eine strikt soziologische Orientierung auf die Arbeiter Innenschaft, eine Rhetorik, die stets das Wort Arbeiter und Arbeiterin in den Mund nimmt, ist obsolet. Wollten wir nur jene Menschen ansprechen, die sich subjektiv als ArbeiterInnen fühlen, würden wir eine hoffnungslose Orientierung auf eine Minderheit propagieren. Sogenannte orthodoxe Kreise werden jetzt wohl verblüfft sein, aber es ist so: Wir würden die überwiegende Mehrheit des gegenwärtigen Proletariats mit einer ArbeiterInnen-Rhetorik nicht mehr ansprechen. Die Marxsche Aussage »Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt« (MEW 13: 9) gilt selbstredend auch für das Proletariat. Die Orientierung auf das Proletariat darf nicht mit der Ausrichtung auf eine schwindende, sich subjektiv als ArbeiterInnenschaft verstehende Gruppe verwechselt werden. Klassenpolitik bedeutet gegenwärtig die Tatsache einer kulturell, sozial und lebensweltlich höchst unterschiedlichen ArbeiterInnenkasse zu Kenntnis zu nehmen. Einer ArbeiterInnenklasse, die trotz aller sozialer Verschiedenheiten letztlich gemeinsam dem Kapital als Arbeitsvermögen »gleichgültig gegen ihre besondre Bestimmtheit, aber jeder Bestimmtheit fähig« (MEW 42; 218) gegenübersteht.
1 Tatsächlich gibt es nur einen einzigen Satz, in dem Marx die Formel »Klasse für sich selbst« verwendet. (MEW 4; 181)