»Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit«

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Brauchen Sexarbeiter*innen eine Gewerkschafts ­vertretung? Dazu haben DILARA AKARÇEŞME und CHRISTINE NAGL von der Frauen- und Sexarbeiter* innen-Beratungsstelle Pia in Salzburg ein Gespräch miteinander geführt, Vertreter*innen von dem Online­forum sexworker.at und FRAU BICHLER*, eine österreichische Sexarbeiterin befragt.

DILARA AKARÇEŞME: Liebe Christine, sowohl durch deine langjährigen Erfah­rungen in der Beratungsstelle Pia Salz­burg, als auch durch deine Funktion als Mitglied bei dem europäischen Netzwerk TAMPEP hast du eine erhebliche Exper­tise zum Thema Sexarbeit. Was hältst du von den Forderungen bzgl. einer Gewerkschaft für Sexarbeiter*innen?

CHRISTINE NAGL: Das ist eine zum Teil sicher sehr gut gemeinte Forderung von NGOs. Eine Gewerkschaft ist eine Institu­tion von und für Arbeitnehmer*innen. Sex­arbeiter*innen sind allerdings keine Arbeit­nehmer*innen. Das hat mit der Frage zu tun, wie Sexarbeiter*innen bewertet wer­den sollen. Nach dem Alter? Nach der Form der Dienstleistung? Nach dem Brustum­fang? Wenn eine Sexarbeiter*in ein Gehalt bekommen würde, würde es dazu führen, dass ein*e Chef*in ihr anschaffen könnte, mit welchem Kunden er*sie wie viele Stun­den für welchen Betrag in ein Zimmer gehen soll. Das geht nicht, weil Sexarbeit nicht delegierbar sein kann, da es um das Recht auf Intimität sowie körperliche und sexuelle Selbstbestimmung geht. Das sind Menschenrechte, die nicht von Dritten beeinflusst werden können. Genauso wenig kann ich mir daher eine Zuteilung durch das AMS vorstellen.

DILARA AKARÇEŞME: Heißt das, es ist eine Frage des Charakters der Sexarbeit?

CHRISTINE NAGL: Genau. Prinzipiell geht es eine*n Betreiber*in auch nichts an, wie ein*e Sexdienstleister*in Preise gestaltet. Während eine Dienstleistung von einer Per­son beispielsweise für € 50 angeboten wird, kann eine andere für die gleiche Dienstleis­tung € 300 verlangen.

DILARA AKARÇEŞME: Wie sehen deine Erfahrungen bzgl. Selbstständigkeit in der Beratungsstelle aus?

CHRISTINE NAGL: Das wichtigste Thema in der Beratung war heuer die Frage, wie man in Salzburg ohne Betreiber*innen selbstständig arbeiten kann. Es ist sehr schade, dass man auf diese Frage keine Ant­wort findet, weil es aufgrund des gesetzli­chen Rahmens fast unmöglich ist. Kürzlich wurde vom Finanzamt ein Einschätzungs­schreiben verfasst, wie Sexarbeit einzuord­nen ist. Darin wurde als selbstständige Arbeit nur die im Laufhaus, im Escort-Bereich, der fast in ganz Österreich verbo­ten ist, das Arbeiten in der eigenen Woh­nung, was ebenso fast unmöglich ist und das Arbeiten auf der Straße, was nur in Wien erlaubt ist, eingestuft. Eine besondere Hürde für das Arbeiten in der Wohnung stellt in Salzburg die sogenannte Bannmeile dar. Im Landessicherheitsgesetz ist in die­sem Zusammenhang festgehalten, dass eine (Bordell-)Bewilligung nur dann erteilt wer­den kann, wenn sich im Umkreis von 300 Meter des Standortes z.B. keine Schule, religiöses Gebäude, Friedhof, Amtsgebäude, Krankenanstalt, Alten- oder Pflegeheim oder Sportstätte befindet. Damit kommen wir wieder zur Forderung, dass Gesetze auf­gemacht werden und den Frauen mehr Möglichkeiten bieten müssen, selbstbe­stimmt und selbstständig zu arbeiten.

DILARA AKARÇEŞME: Was wurde in die­sem Einschätzungsschreiben als nicht­selbstständig eingestuft?

CHRISTINE NAGL: Als unselbstständig wurde das Arbeiten in Bars, Saunas oder FKK-Anlagen gesehen. Hier gibt es aber erhebliche Missstände. Einige Betreiber*innen haben sich z.B. überlegt, dass Frauen zusätzlich zum Eintrittspreis und anderen Abgaben € 600 aus ihren Ein­nahmen an die Betreiber*innen für die Anmeldung bezahlen müssen. Es gibt dazu einen konkreten Fall. Eine Frau hat in einer FKK-Anlage gearbeitet und hat am Tag ca. € 80 für Eintritt und € 30 Euro pro Tag für die Anmeldung bezahlt. Das musste sie tun, auch wenn sie an einem Tag nichts verdient hat. Es kann nämlich durchaus passieren, dass in einer großen Anlage, in der zwi­schen 40 und 60 Frauen anwesend sind, nicht jede Frau Kunden bekommt. Nun ist diese Frau schwanger und wir haben herausgefunden, dass sie nicht angemeldet war. Das ist eine Katastrophe.

DILARA AKARÇEŞME: Wie würde ein Umgang mit Sexarbeit aussehen, der funktionieren könnte?

CHRISTINE NAGL: Mir ist das sogenannte »Opting in« am sympathischsten. In diesem Fall wären Sexarbeiter*innen selbstständig und über die SVA versichert. Man muss allerdings hinzufügen, dass dies auch Schattenseiten hat. Die Beiträge steigen von Jahr zu Jahr und das Problem ist, dass es in der Sexarbeit üblich ist, dass Personen am Anfang ihrer Tätigkeit gut verdienen und die Einnahmen mit der Zeit abnehmen.

Außerdem muss man auch einen Selbst­behalt für gewisse medizinische Behand­lungen bezahlen, was für viele Frauen nicht möglich ist. Viele Leistungen, die Sexarbei­ter*innen in Anspruch nehmen, wie etwa Zahneingriffe, lassen sie - so sie aus dem Ausland kommen - ohnehin in ihrer Heimat vornehmen, da es dort einerseits billiger ist und sie andererseits mehr Vertrauen zu ihren Ärzt*innen haben.

Zuletzt ist noch wichtig zu erwähnen, dass die Sicht auf Sexarbeit als Teilzeitjob oder Nebentätigkeit nirgendwo am Pro­gramm steht. Betreiber*innen wollen, dass Frauen Vollzeit und mehr als das arbeiten. Das ist oft nicht möglich, wenn man eine andere Arbeit oder eine Familie hat.

Gespräch mit sexworker.at

DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Was haltet ihr von der Forderung einer Gewerkschaftsvertretung für Sex­arbeiter*innen?

SEXWORKER.AT: Trotz der wunderbaren Ergebnisse der Gewerkschaft darf man nicht den Fehler begehen, Sexarbeit unter dieser Prämisse zu behandeln. Eine Gewerkschaftsvertretung als eine Arbeit­nehmer*innenvertretung ist für Sexarbei­ter*innen nicht durchführbar, weil sie keine Arbeitnehmer*innen sind. Das Haupt­charakteristikum der Sexarbeit ist, dass sie nicht delegierbar ist. Daher kann eine arbeitnehmerrechtliche Betreuung nicht funktionieren.

Ein weiterer Blick zeigt uns, dass sofort die Frage auftauchen würde, wer der/die Arbeitgeber*in ist. Der Kunde? Der/die (Bordell-)Betreiber*in? Aufgrund der Wei­sungsgebundenheit eines Angestellten ist es absolut unvorstellbar, dass ein*e Betrei­ber*in ein/e Arbeitgeber*in ist. Die Rechte der Sexarbeiter*innen sind nur über deren Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit zu schützen. Das geht nur mit der Einräu­mung von Rechten, aber nicht von Aufla­gen, die mit der Arbeitsrealität nichts zu tun haben.

DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Was sind in diesem Zusammen­hang konkrete Forderungen?

SEXWORKER.AT: Die Forderungen sind, nicht über Sexarbeiter*innen, sondern mit ihnen zu sprechen. Frau Helga Amesberger hat dafür eine pointierte Feststellung for­muliert, dass es typisch für die Sexarbeit ist, dass die meisten eine Meinung, aber die wenigsten eine Ahnung haben. Die zweite Forderung lautet, Sexarbeiter*innen und ihre Expertise bei Beratungen oder Bespre­chungen mit ins Boot zu holen. Faktum ist, dass derzeit Entscheidungen mit Personen getroffen werden, die nichts mit Sexarbeit per se zu tun haben. Das sind meist Organe der ausübenden Gewalt. Zuletzt müssen wir Sexarbeit unter einem völlig neuen Fokus betrachten. Wenn wir Ausbeutung, Zuhäl­terei und Menschenhandel bekämpfen wol­len, geht das nur mit Gewährleistung von Rechten. Nur ein potenzielles Opfer, das Rechte hat, kann gegen Ausbeutung vorge­hen. Das ist die Grundvoraussetzung, um das Übel zu bekämpfen.

DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Was ist das Problem am gegen­wärtigen Fokus?

SEXWORKER.AT: Gerade die Modelle, die zwingend eine/n Betreiber*in vorsehen, müssen hinterfragt werden. Es muss mög­lich sein, dass Sexarbeiter*innen ihre Tätig­keit ohne Betreiber*in und allgemeiner aus­gedrückt ohne Mitverdienende ausüben können. Das ist derzeit nicht der Fall, außer am Straßenstrich in Wien, wo es sich um ca. 30 – 40 Frauen handelt. So sehr der Ruf nach Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld oder Krankenstand verständlich sein mag, so ist er doch im Bereich der Sexarbeit als Sozial­romantik abzutun, weil kein Angestellten­verhältnis vorhanden sein kann. Sexarbei­ter*innen stehen die gleichen Rechte und Pflichten zu wie allen selbstständig Arbei­tenden in Österreich auch.

Ausschnitt aus dem Gespräch mit Frau Bichler

DILARA AKARÇEŞME/CHRIS­TINE NAGL: Liebe Frau Bichler, Sie bieten Sexualdienstleistun­gen im unsichtbaren Bereich an. Was halten sie von Forderungen einer Gewerkschaftsvertretung für Sexarbeiter*innen?

FRAU BICHLER: Ich höre oft Stimmen, die sagen, Sexarbeit ist eine Arbeit wie jede andere. Das kann ich nicht unterschreiben. Ich kann die Sexarbeit, die ich als Nebentätigkeit mache, nicht in einen Lebenslauf schreiben. Solange das der Fall ist, kann es aufgrund von Diskriminierung und aufgrund der gesellschaftli­chen Haltung nicht eine Arbeit wie jede andere sein. Außerdem will ich in diesem Bereich auch keine Steuern zahlen, solange ich keine Anerkennung vom Staat und von der Gesellschaft und vor allem keine Rechtssicherheit habe. Zum Zahlen von Steuern bin ich ohne­hin durch meine bürgerliche Tätigkeit verpflichtet. Wie gesagt bin ich in meinem Nebenjob als Sexarbeiter*in tätig und vermute, dass die Höhe meiner Einnahmen unter der einkommensteuerpflich­tigen Grenze ist.

Wie soll ich außerdem die Zwangsuntersuchung machen las­sen, wenn ich einen Hauptberuf habe? Und was passiert, wenn mein Arbeitgeber das herausbe­kommt? Ich kenne viele Migran­tinnen, die sich nicht registrieren lassen, weil sie Angst haben, dass ihnen der Deckel [Anm: Gesund­heitsbuch/Kontrollkarte] am Deckel fällt, wenn sie sich beruf­lich umorientieren wollen.

*Name geändert

Gelesen 7797 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 27 März 2019 15:13
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