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Der Dokumentarfilm »Sie ist der andere Blick« kommt ins Kino.
Eva Brenner
Anfang November hatte der beeindruckende feministische Kunstfilm der jungen Cineastin Christiana Perschon über ein unterbelichtetes Kapitel der jüngeren Kunstgeschichte bei der Viennale 2018 Premiere. Unaufdringlich und in kontrastreichem Schwarz-weiß ereignete sich ein kleines Filmwunder
BRENNERmit hoch-ästhetischen, langsamen, minimalistischen Bildern abseits großer Inszenierungen. Fünf arrivierte Künstlerinnen hat Perschon zum Gespräch ins Atelier geladen: die Revolutionärinnen der österreichischen Avantgarde Renate Bertlmann, Linda Christanell, Lore Heuermann, Karin Mack und Margot Pilz. Neben den weitaus bekannteren männlichen Aktionisten der Zeit werden sie allzu oft vergessen – und haben dennoch die Kunstgeschichte nachhaltig beeinflusst. Mühelos schafft es der Film, der weitgehende Unsichtbarkeit und dem Mangel an Anerkennung vom Kunstbetrieb entgegen zu wirken.
»Die Siebziger Jahre waren für mich eine Zeit der Veränderung.« – Lore Heuermann
Vor stummen 16mm-Sequenzen, beginnend mit einer stillen Anfangseinstellung, in der bedächtig eine leere Leinwand weiß grundiert wird, erzählen die fünf Frauen aus dem Off von ihren künstlerischen Anfängen, ihrem Werdegang, ihren kulturpolitischen Kämpfen und der Normalität des Sexismus jener 60er und frühen 70er Jahre, in denen die eigene Befreiung und Grenzüberschreitung Voraussetzung jeglicher weiblicher Kreativität und Kunstausübung war, in der ohne Utopie, Experiment und Tabubruch nichts ging. Empört, dann wieder lakonisch schildern sie die Szenerien multipler Abhängigkeiten – von Ehe, Familie, Mann, Arbeitgeber, Kunstinstitutionen – und davon, wie sie mit Einsatz aller Kräfte zu ihrer eigenen Kunst/Form fanden, die im zweiten, digital in Farbe gefilmten Teil präsentiert wird. Sie werden plastisch durch das Aufzeigen ihrer Arbeitsweisen, in denen je neues künstlerisches Terrain erobert wurde. So experimentiert Renate Bertlmann, die als erste Frau den österreichischen Pavillon der Biennale in Venedig 2019 alleine bespielen wird, mit Latex-Skulpturen, um die Porno industrie zu desavouieren, filmt Linda Christanell in penibler Collegearbeit surreale Fantasiewelten am Reißbrett ab, und setzt Lore Heuermann lange asiatische Reispapierrollen mit behutsamen Tuschezeichnungen von Menschen in Bewegung.
»Eine Frau in einem Jahrzehnt reicht anscheinend.« – Lore Heuermann
Mit dieser Ansage steigt Perschon in die Thematik der jahrhundertelangen und bis heute andauernden Ungleichbehandlung von Frauen in der Kunst ein. Dass es neben VALIE EXPORT oder Maria Lassnig andere weibliche Künstlerinnen gab und gibt, davon spricht eingangs die 81-jährige Künstlerin, Malerin und Grafikerin Lore Heuermann, mit der ich in den letzten Jahrzehnten mehrfach bei Theaterprojekten kooperieren durfte und die ich auch zu dem Film befragte.
»Immer ist alles noch fest in der Hand der alten Männer.« – Lore Heuermann
Die Gespräche über Vorbilder und Bilder, Visionen und Selbstentwürfe, über Feminismus damals und heute bleiben lange in Erinnerung. In einer Zeit der Stagnation und Regression in Kunst und Kultur – mit immer bombastischeren Großevents, Retrospektiven und Happenings – erscheinen im empathischen Rückblick die bescheidenen, aber kunstgeschichtlich von gewaltigen Durchbrüchen geprägten Gesten dieser Vorreiterinnen geradezu revolutionär.
Für viele jüngere Künstlerinnen, die mit neuen Hindernissen wie wachsender Prekarisierung zu kämpfen haben, ist die radikale Aufbruchszeit der 70er Jahre bereits Geschichte; für die meisten ist der hohe Preis, den Frauen damals für ihr Kunst-Machen zahlen mussten, nicht mehr vorstellbar. Die künstlerischen Strategien, die sie anregten, gelten heute als selbstverständlich: Interdisziplinarität und Performativität, die schonungslose Ausstellung von Körper und Sexualität, die Kritik an Patriarchat und Kunstbetrieb, die Erforschung neuer Wahrnehmungsmuster, das Überschreiten von Genres.
Perschon gelingt, was vielen Dokumentationen fehlt: herausragende Vertreterinnen einer Gattung werden porträtiert und gleichzeitig schließt sich eine Lücke in der Entwicklung der (Kunst)Geschichte – ein überfälliger Nachholvorgang! Am Ende verlässt man den übervollen Kinosaal mit dem Gefühl, den Frauen ein stückweit näher gekommen zu sein – und erhält ganz nebenbei und leichtfüßig einen fundierten Einblick in das reiche feministische Kunstschaffen der ersten avantgardistischen Generation von Künstlerinnen nach 1945. y
Frauenfilmtage / Vienna International Womens Film Festival: 28. Februar bis 7. März; Kinostart: Mai 2019, Weltpremiere: VIENNALE ‘18
LEO FURTLEHNER gibt einen Überblick über die Arbeiterkammerwahlen 2019.
Zwischen 28. Jänner und 10. April 2019 werden – gestaffelt nach Bundesländern – von den rund 3,64 Millionen Mitgliedern die 840 Mandate in den Vollversammlungen der neun Arbeiterkammern neu vergeben. Das Wahlrecht für die gesetzliche Interessenvertretung der Lohnabhängigen ist zwar vergleichsweise demokratisch, jedoch nicht frei von Verzerrungen.
So sind alle in einem umlagepflichtigen Betrieb unselbständig Beschäftigten – das sind de facto alle ausgenommen die sogenannte Hoheitsverwaltung – wahlberechtigt. Geringfügig Beschäftigte, Lehrlinge, Präsenz- und Zivildiener, Karenzierte oder freie Dienstnehmer_innen müssen sich vielfach aber erst selbst in das Wählerverzeichnis reklamieren.
Während die formale Voraussetzung für eine Kandidatur – die Unterschrift von mindestens fünf Kammerrät_innen oder 300 Wahlberechtigten – in allen Ländern gleich ist, sind die Mandate unterschiedlich teuer. So »kostete« 2014 ein Mandat in Oberösterreich 1.901 Stimmen, in Vorarlberg hingegen nur 602 Stimmen. Ursache dafür ist, dass die Zahl der Mandate – zwischen 50 im Burgenland und 180 in Wien – nicht der unterschiedlich wachsenden Zahl der Beschäftigten angepasst wurde.
Ergebnisse der letzten AK-Wahl 2014
Bei der Wahl 2014 war – bei einem Rückgang der Wahlbeteiligung von 44,8 auf 39,9 Prozent – großer Wahlverlierer der ÖAAB, der von bundesweit 217 auf 182 Mandate zurückfiel, aber seine Mehrheit in Vorarlberg und Tirol behaupten konnte. Hingegen gelang es der FSG die Verantwortung für die Regierungspolitik auf den schwarzen Koalitionspartner abzuwälzen und sich von 473 auf 495 zu steigern. Zugewinne konnten auch die FP-Arbeitnehmer von 72 auf 79 und die AUGE von 37 auf 46 Mandate verzeichnen, die sonstigen Listen fielen von 38 auf 30 Mandate zurück.
Abschneiden des Gewerkschaftlichen Linksblocks
Der Gewerkschaftliche Linksblock (GLB) konnte 2014 seine Stimmen gegenüber 2009 von 9.972 auf 14.750 erhöhen was eine Steigerung von 0,87 auf 1,35 Prozent bedeutet, was das beste Ergebnis nach Stimmen seit 1989 und das beste Ergebnis nach Mandaten seit 1974 bedeutet. Mit der Verdoppelung der Mandate in Wien und der Steiermark sowie dem Einzug in die AK-Vollversammlungen in Salzburg nach 45 Jahren und in Oberösterreich nach 25 Jahren konnte sich der GLB von drei auf acht Mandate steigern und ist damit derzeit bundesweit die fünftstärkste Fraktion. Wermutstropfen waren 2014 die Stimmverluste in Tirol und Niederösterreich und dass es nicht gelang in Kärnten anzutreten, erfreulich hingegen, dass der GLB erstmals seit 25 Jahren wieder im Burgenland kandidieren konnte.
Entsprechend seinem Wahlmotto »Mut zum Widerspruch« übten die GLB-Vertretungen bei insgesamt 46 Vollversammlungen der vier Länderkammern mit 159 Anträgen und zahlreichen Wortmeldungen ihre Funktion als linke Opposition engagiert aus, nahmen gegen unsoziale Maßnahmen und Belastungen durch die damalige rot-schwarze wie auch seit Ende 2017 die schwarz-blaue Regierung Stellung und wiesen die wachsenden Angriffe auf die Arbeiterkammer zurück. Gleichzeitig ermunterte der GLB zum Widerspruch in Betrieb und Gewerkschaft sowie durch außerparlamentarischen Protest den Interessen der Lohnabhängigen eine Stimme zu verschaffen.
Von »Mut zum Widerspruch« zu »Mut zum Widerstand«
In einem mit dem Regierungswechsel von 2017 sozial wie politisch verschärften Klima tritt der GLB mit dem Slogan »Mut zum Widerstand« in acht Bundesländern an, diesmal wieder in Kärnten, nicht aber im Burgenland. Als Sonderfälle sind Tirol – wo der GLB Teil des Wahlbündnisses »Gewerkschaftliche Linke« ist – und die Steiermark – wo wie schon 2014 wieder als GLB-KPÖ kandidiert wird – zu sehen. Seine inhaltlichen Schwerpunkte hat der GLB in einem Wahlaufruf sowie in seinem Forderungsprogramm »Mit 13 Punkten zu einem besseren Leben!« zusammengefasst.
Sozialdemokratischer Verbalradikalismus
Mit dem Regierungswechsel zu Schwarz-Blau wurde die SPÖ – wie schon zwischen 2000 und 2006 – aus der Regierung verdrängt. Grund genug für die übermächtige SPÖ-Fraktion kräftig gegen die ungeliebte Regierung Dampf abzulassen, ein Verbalradikalismus, den man in SPÖ-Regierungszeiten vermissen musste. Was die FSG freilich nicht hindert weiterhin der vom »Partner« de facto schon aufgekündigten Sozialpartnerschaft nachzuweinen und – wie die letzten KV-Verhandlungen gezeigt haben – nach wie vor magere Kompromisse zu schließen, die als Erfolg hochgejubelt werden.
Die »Kammerjäger« kommen
Freilich hat sich die Lage für die Arbeiterkammern mittlerweile verschärft. Bereits im Wahlkampf 2017 gerieten die in Österreich als öffentlich-rechtliche Institutionen verankerten Kammern mit kräftiger medialer Unterstützung verstärkt ins Visier der neoliberalen »Kammerjäger« der NEOS sowie der FPÖ. Insbesondere die Pflichtmitgliedschaft ist dabei das Objekt der »Begierde«.
Was formal gegen alle Kammern gerichtet ist, zielt freilich de facto vor allem darauf, die Arbeiterkammer als Interessenvertretung der Lohnabhängigen zu demontieren. Die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft würde die AK mit 3,64 Millionen Mitgliedern, 432,6 Mio. Euro Kammerumlage und 2.609 Beschäftigten in ihrer Substanz erschüttern. Eine freiwillige Zugehörigkeit würde die Mitgliederzahl und damit auch den Handlungsspielraum drastisch reduzieren.
Zwar musste die FPÖ bei den Koalitionsverhandlungen Federn lassen, noch war der ÖVP die Abschaffung der populistisch verteufelten »Zwangsmitgliedschaft« doch zu steil. Zumal damit einige ihrer wichtigsten Bastionen wie Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer und Ärztekammer in Frage gestellt worden wären. Ein Regierungsultimatum an die AK zur »Effizienzsteigerung« bis Ende Juni 2018 ließ man verstreichen.
Ein möglicher Hebel ist nun die Senkung der AK-Umlage – durchschnittlich etwa sieben Euro im Monat, maximal 14,44 Euro, 816.000 Mitglieder sind ohnehin befreit – populistisch als »Senkung von Lohnnebenkosten« verkauft und jetzt im Zuge der Steuerreform-Debatte wieder aufs Tapet gebracht.
Ähnlich wie bei der Sozialversicherung winkt man mit einer »Entlastung« durch Beitragssenkung: die rund 900.000 von der Lohnsteuer befreiten Niedrigverdiener_ innen auch von der AK-Umlage zu befreien, hätte einen Einnahmenausfall von rund 50 Mio. Euro zur Folge. Eine Senkung der Umlage (derzeit 0,5 Prozent des Bruttobezuges) um nur ein Zehntel Prozent würde die Kammern gleich um 20 Prozent der Mittel, jährlich um 86 Mio. Euro schwächen.
AK bleibt!
Der Vorwurf des »Reformunwillens« negiert freilich, dass mit dem AK-Gesetz von 1992 eine umfassende Reform erfolgte und die AK heute eine der vertrauenswürdigsten Institutionen der Republik ist. Zur Disposition stehen Beratung und Vertretung zu Arbeits- und Sozialrecht und Konsumentenschutz, aber auch die Funktion der AK als »Think Tank« für Gewerkschaften, NGOs sowie die Mitsprache bei der Gesetzgebung und in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen – bekanntlich für die aktuelle Regierung ein Dorn im Auge.
Brauchen Sexarbeiter*innen eine Gewerkschafts vertretung? Dazu haben DILARA AKARÇEŞME und CHRISTINE NAGL von der Frauen- und Sexarbeiter* innen-Beratungsstelle Pia in Salzburg ein Gespräch miteinander geführt, Vertreter*innen von dem Onlineforum sexworker.at und FRAU BICHLER*, eine österreichische Sexarbeiterin befragt.
DILARA AKARÇEŞME: Liebe Christine, sowohl durch deine langjährigen Erfahrungen in der Beratungsstelle Pia Salzburg, als auch durch deine Funktion als Mitglied bei dem europäischen Netzwerk TAMPEP hast du eine erhebliche Expertise zum Thema Sexarbeit. Was hältst du von den Forderungen bzgl. einer Gewerkschaft für Sexarbeiter*innen?
CHRISTINE NAGL: Das ist eine zum Teil sicher sehr gut gemeinte Forderung von NGOs. Eine Gewerkschaft ist eine Institution von und für Arbeitnehmer*innen. Sexarbeiter*innen sind allerdings keine Arbeitnehmer*innen. Das hat mit der Frage zu tun, wie Sexarbeiter*innen bewertet werden sollen. Nach dem Alter? Nach der Form der Dienstleistung? Nach dem Brustumfang? Wenn eine Sexarbeiter*in ein Gehalt bekommen würde, würde es dazu führen, dass ein*e Chef*in ihr anschaffen könnte, mit welchem Kunden er*sie wie viele Stunden für welchen Betrag in ein Zimmer gehen soll. Das geht nicht, weil Sexarbeit nicht delegierbar sein kann, da es um das Recht auf Intimität sowie körperliche und sexuelle Selbstbestimmung geht. Das sind Menschenrechte, die nicht von Dritten beeinflusst werden können. Genauso wenig kann ich mir daher eine Zuteilung durch das AMS vorstellen.
DILARA AKARÇEŞME: Heißt das, es ist eine Frage des Charakters der Sexarbeit?
CHRISTINE NAGL: Genau. Prinzipiell geht es eine*n Betreiber*in auch nichts an, wie ein*e Sexdienstleister*in Preise gestaltet. Während eine Dienstleistung von einer Person beispielsweise für € 50 angeboten wird, kann eine andere für die gleiche Dienstleistung € 300 verlangen.
DILARA AKARÇEŞME: Wie sehen deine Erfahrungen bzgl. Selbstständigkeit in der Beratungsstelle aus?
CHRISTINE NAGL: Das wichtigste Thema in der Beratung war heuer die Frage, wie man in Salzburg ohne Betreiber*innen selbstständig arbeiten kann. Es ist sehr schade, dass man auf diese Frage keine Antwort findet, weil es aufgrund des gesetzlichen Rahmens fast unmöglich ist. Kürzlich wurde vom Finanzamt ein Einschätzungsschreiben verfasst, wie Sexarbeit einzuordnen ist. Darin wurde als selbstständige Arbeit nur die im Laufhaus, im Escort-Bereich, der fast in ganz Österreich verboten ist, das Arbeiten in der eigenen Wohnung, was ebenso fast unmöglich ist und das Arbeiten auf der Straße, was nur in Wien erlaubt ist, eingestuft. Eine besondere Hürde für das Arbeiten in der Wohnung stellt in Salzburg die sogenannte Bannmeile dar. Im Landessicherheitsgesetz ist in diesem Zusammenhang festgehalten, dass eine (Bordell-)Bewilligung nur dann erteilt werden kann, wenn sich im Umkreis von 300 Meter des Standortes z.B. keine Schule, religiöses Gebäude, Friedhof, Amtsgebäude, Krankenanstalt, Alten- oder Pflegeheim oder Sportstätte befindet. Damit kommen wir wieder zur Forderung, dass Gesetze aufgemacht werden und den Frauen mehr Möglichkeiten bieten müssen, selbstbestimmt und selbstständig zu arbeiten.
DILARA AKARÇEŞME: Was wurde in diesem Einschätzungsschreiben als nichtselbstständig eingestuft?
CHRISTINE NAGL: Als unselbstständig wurde das Arbeiten in Bars, Saunas oder FKK-Anlagen gesehen. Hier gibt es aber erhebliche Missstände. Einige Betreiber*innen haben sich z.B. überlegt, dass Frauen zusätzlich zum Eintrittspreis und anderen Abgaben € 600 aus ihren Einnahmen an die Betreiber*innen für die Anmeldung bezahlen müssen. Es gibt dazu einen konkreten Fall. Eine Frau hat in einer FKK-Anlage gearbeitet und hat am Tag ca. € 80 für Eintritt und € 30 Euro pro Tag für die Anmeldung bezahlt. Das musste sie tun, auch wenn sie an einem Tag nichts verdient hat. Es kann nämlich durchaus passieren, dass in einer großen Anlage, in der zwischen 40 und 60 Frauen anwesend sind, nicht jede Frau Kunden bekommt. Nun ist diese Frau schwanger und wir haben herausgefunden, dass sie nicht angemeldet war. Das ist eine Katastrophe.
DILARA AKARÇEŞME: Wie würde ein Umgang mit Sexarbeit aussehen, der funktionieren könnte?
CHRISTINE NAGL: Mir ist das sogenannte »Opting in« am sympathischsten. In diesem Fall wären Sexarbeiter*innen selbstständig und über die SVA versichert. Man muss allerdings hinzufügen, dass dies auch Schattenseiten hat. Die Beiträge steigen von Jahr zu Jahr und das Problem ist, dass es in der Sexarbeit üblich ist, dass Personen am Anfang ihrer Tätigkeit gut verdienen und die Einnahmen mit der Zeit abnehmen.
Außerdem muss man auch einen Selbstbehalt für gewisse medizinische Behandlungen bezahlen, was für viele Frauen nicht möglich ist. Viele Leistungen, die Sexarbeiter*innen in Anspruch nehmen, wie etwa Zahneingriffe, lassen sie - so sie aus dem Ausland kommen - ohnehin in ihrer Heimat vornehmen, da es dort einerseits billiger ist und sie andererseits mehr Vertrauen zu ihren Ärzt*innen haben.
Zuletzt ist noch wichtig zu erwähnen, dass die Sicht auf Sexarbeit als Teilzeitjob oder Nebentätigkeit nirgendwo am Programm steht. Betreiber*innen wollen, dass Frauen Vollzeit und mehr als das arbeiten. Das ist oft nicht möglich, wenn man eine andere Arbeit oder eine Familie hat.
Gespräch mit sexworker.at
DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Was haltet ihr von der Forderung einer Gewerkschaftsvertretung für Sexarbeiter*innen?
SEXWORKER.AT: Trotz der wunderbaren Ergebnisse der Gewerkschaft darf man nicht den Fehler begehen, Sexarbeit unter dieser Prämisse zu behandeln. Eine Gewerkschaftsvertretung als eine Arbeitnehmer*innenvertretung ist für Sexarbeiter*innen nicht durchführbar, weil sie keine Arbeitnehmer*innen sind. Das Hauptcharakteristikum der Sexarbeit ist, dass sie nicht delegierbar ist. Daher kann eine arbeitnehmerrechtliche Betreuung nicht funktionieren.
Ein weiterer Blick zeigt uns, dass sofort die Frage auftauchen würde, wer der/die Arbeitgeber*in ist. Der Kunde? Der/die (Bordell-)Betreiber*in? Aufgrund der Weisungsgebundenheit eines Angestellten ist es absolut unvorstellbar, dass ein*e Betreiber*in ein/e Arbeitgeber*in ist. Die Rechte der Sexarbeiter*innen sind nur über deren Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit zu schützen. Das geht nur mit der Einräumung von Rechten, aber nicht von Auflagen, die mit der Arbeitsrealität nichts zu tun haben.
DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Was sind in diesem Zusammenhang konkrete Forderungen?
SEXWORKER.AT: Die Forderungen sind, nicht über Sexarbeiter*innen, sondern mit ihnen zu sprechen. Frau Helga Amesberger hat dafür eine pointierte Feststellung formuliert, dass es typisch für die Sexarbeit ist, dass die meisten eine Meinung, aber die wenigsten eine Ahnung haben. Die zweite Forderung lautet, Sexarbeiter*innen und ihre Expertise bei Beratungen oder Besprechungen mit ins Boot zu holen. Faktum ist, dass derzeit Entscheidungen mit Personen getroffen werden, die nichts mit Sexarbeit per se zu tun haben. Das sind meist Organe der ausübenden Gewalt. Zuletzt müssen wir Sexarbeit unter einem völlig neuen Fokus betrachten. Wenn wir Ausbeutung, Zuhälterei und Menschenhandel bekämpfen wollen, geht das nur mit Gewährleistung von Rechten. Nur ein potenzielles Opfer, das Rechte hat, kann gegen Ausbeutung vorgehen. Das ist die Grundvoraussetzung, um das Übel zu bekämpfen.
DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Was ist das Problem am gegenwärtigen Fokus?
SEXWORKER.AT: Gerade die Modelle, die zwingend eine/n Betreiber*in vorsehen, müssen hinterfragt werden. Es muss möglich sein, dass Sexarbeiter*innen ihre Tätigkeit ohne Betreiber*in und allgemeiner ausgedrückt ohne Mitverdienende ausüben können. Das ist derzeit nicht der Fall, außer am Straßenstrich in Wien, wo es sich um ca. 30 – 40 Frauen handelt. So sehr der Ruf nach Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld oder Krankenstand verständlich sein mag, so ist er doch im Bereich der Sexarbeit als Sozialromantik abzutun, weil kein Angestelltenverhältnis vorhanden sein kann. Sexarbeiter*innen stehen die gleichen Rechte und Pflichten zu wie allen selbstständig Arbeitenden in Österreich auch.
Ausschnitt aus dem Gespräch mit Frau Bichler
DILARA AKARÇEŞME/CHRISTINE NAGL: Liebe Frau Bichler, Sie bieten Sexualdienstleistungen im unsichtbaren Bereich an. Was halten sie von Forderungen einer Gewerkschaftsvertretung für Sexarbeiter*innen?
FRAU BICHLER: Ich höre oft Stimmen, die sagen, Sexarbeit ist eine Arbeit wie jede andere. Das kann ich nicht unterschreiben. Ich kann die Sexarbeit, die ich als Nebentätigkeit mache, nicht in einen Lebenslauf schreiben. Solange das der Fall ist, kann es aufgrund von Diskriminierung und aufgrund der gesellschaftlichen Haltung nicht eine Arbeit wie jede andere sein. Außerdem will ich in diesem Bereich auch keine Steuern zahlen, solange ich keine Anerkennung vom Staat und von der Gesellschaft und vor allem keine Rechtssicherheit habe. Zum Zahlen von Steuern bin ich ohnehin durch meine bürgerliche Tätigkeit verpflichtet. Wie gesagt bin ich in meinem Nebenjob als Sexarbeiter*in tätig und vermute, dass die Höhe meiner Einnahmen unter der einkommensteuerpflichtigen Grenze ist.
Wie soll ich außerdem die Zwangsuntersuchung machen lassen, wenn ich einen Hauptberuf habe? Und was passiert, wenn mein Arbeitgeber das herausbekommt? Ich kenne viele Migrantinnen, die sich nicht registrieren lassen, weil sie Angst haben, dass ihnen der Deckel [Anm: Gesundheitsbuch/Kontrollkarte] am Deckel fällt, wenn sie sich beruflich umorientieren wollen.
*Name geändert
Reportage von SUSANNE HASLINGER
Viele tausend ErntehelferInnen arbeiten jedes Jahr in Österreich zu niedrigen Löhnen, extrem langen Arbeitszeiten und miserablen Arbeitsbedingungen. SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft sind eine der am meisten ausgebeuteten Gruppen von ArbeitnehmerInnen im Land. Doch anstelle einer Verbesserung ihrer Situation drückt Schwarz-blau auch hier massive arbeitsrechtliche Verschlechterungen durch.
Zugleich tut sich etwas auf Österreichs Feldern: Die LandwirtInnen werden nervös, der Bauernbundpräsident Georg Strasser mischt sich mit hochrotem Kopf live im Parlament in Gewerkschaftsarbeit ein und sogar Peter Turrini weiß neben seiner Abrechnung mit der Kurz-Republik und der Gesellschaft im Herbst 2018 auch Schönes zu berichten, dass ihn für die Zukunft hoffen lässt: Er sei auf junge GewerkschafterInnen gestoßen, die von Feld zu Feld ziehen, um ErntehelferInnen über ihre Rechte aufzuklären.
Von Feld zu Feld für die Rechte der ErntehelferInnen
Seit 2014 versucht ein einzigartiger Zusammenschluss der Ausbeutung in der heimischen Landwirtschaft etwas entgegen zu halten. Die Produktionsgewerkschaft (PRO-GE) hat gemeinsam mit NGOs und engagierten Einzelpersonen als AktivistInnen die Kampagne »Sezonieri« (zu Deutsch: SaisonarbeiterIn) ins Leben gerufen.
Über eine mehrsprachige Website, Infovideos, Folder und Info-Hotlines werden die Betroffenen informiert und ihnen Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung geboten. Mit Erfolg: 2016 und 2017 wurden mit Hilfe der PRO-GE knapp 70.000 Euro erstritten. Die Kampagne zeigt auch nicht eine andere Wirkung, wenn auch nicht die naheliegendste: »In Österreich fehlen ErntehelferInnen – unser Gemüse bleibt liegen!« So oder so ähnlich lauteten im vergangenen Frühjahr die Schlagzeilen. Die »Ursache« war schnell gefunden: Die Deutschen würden einfach alle abwerben – durch den fiesen Wettbewerbsvorteil höherer Löhne. Umso erstaunlicher jedoch die Reaktion der türkisblauen Bundesregierung: Im Herbst wurde ein Paket vorgelegt, dass das Landarbeitsgesetz (LAG) gleich in mehreren Punkten verschlechtern sollte: Einerseits konnte man es gar nicht eilig genug haben, auch in der Land- und Forstwirtschaft den im Frühsommer überfallsartig eingeführten 12h-Tag und die 60h-Woche »nachzuholen«. Zum anderen wurde – in Österreich bis dato einzigartig – eine gesetzliche Regelung zum Lohndumping exklusiv für ErntehelferInnen geschaffen.
Verschlechterung miserabler Ausgangsbedingungen
Nun ist in der Anbau- und Erntehilfe eine Tagesarbeitszeit von bis zu 17 Stunden nichts Seltenes – das trotz Sonntagsarbeitsverbot sieben Tage die Woche. Das liegt weit über der gesetzlich erlaubten Höchstarbeitszeit. Die Bedingungen, unter denen diese Arbeit geleistet wird, sind miserabel: Kälte Hitze, schwere körperliche und mitunter auch gefährliche Arbeit. Die Bezahlung ist ebenso miserabel, die (ohnehin nicht sehr hohen) kollektivvertraglichen Mindestlöhne werden selten eingehalten, Überstundenzuschläge noch seltener bezahlt. Beste Voraussetzungen also, um die Arbeitszeit zu erweitern?
In der Erntezeit kommt es in der Landwirtschaft zu massiven Arbeitsspitzen – doch durchhalten kann man das nicht lange. Aus gutem Grund hat der Gesetzgeber diesen Zeitraum auf 13 Wochen im Jahr begrenzt. Und genau da setzt Schwarz-blau an: 12 Stunden sind nun immer dann zulässig, wenn »Arbeit anfällt«, 52 Wochen im Jahr. Um die heftig diskutierte Freiwilligkeit hat man sich in der Landwirtschaft gar nicht erst bemüht. Während bisher Überstunden nur in den nachvollziehbaren Situationen drohender Wetterumschläge oder Verderben der Ernte nicht verweigert werden durften, müssen die ArbeitnehmerInnen nun vorweisen, dass sie »berücksichtigungswürdige Interessen« für die Ablehnung haben, wie bspw. Kinderbetreuungspflichten oder einen Arztbesuch. Bei den ErntehelferInnen, die keinen anderen Bezugspunkt und Kontakt haben als Hof und Feld, vielleicht mal der Greißler im Dorf, eher praxisfremd.
»Erleichterung« Lohndumping
Anstatt sich für faire Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft einzusetzen, hat Schwarz-blau einen simplen Mechanismus gefunden, den vermeintlichen »Wettbewerbsvorteil« zum deutschen Nachbarn auszugleichen: eine gesetzliche Erlaubnis zum Lohndumping. Zur »Erleichterung« der Beschäftigung von ErntehelferInnen dürfen die landwirtschaftlichen Kollektivverträge – derer gibt es neun, da verfassungsmäßig die Landarbeit noch immer Ländermaterie ist – eine Pauschalierung der Sonderzahlungen, sprich Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld vorsehen. Was zunächst wie eine Vereinfachung im Dschungel der Lohnverrechnung wirkt – schließlich sind die betroffenen LandwirtInnen ja keine ExpertInnen in dieser Materie – heißt übersetzt: In Zukunft darf in einem Kollektivvertrag geregelt werden, dass ErntehelferInnen – bei gleicher Dauer des Arbeitsverhältnisses – schlicht weniger an Urlaubs- und Weihnachtsgeld zusteht.
Wenn die ÖVP mit der ÖVP … Landwirtschaft, halt
Äußerst unrühmlich in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Landarbeiterkammer, das ist die gesetzliche Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen in der Land- und Forstwirtschaft. Nicht nur, dass man dem vorgelegten Entwurf bedingungslos zugestimmt hat, nein, mittels Presseaussendung rühmte sich die Landarbeiterkammer auch noch, diesen ausgehandelt zu haben. Am Tisch mit Bauernbund (dessen Präsident Georg Strasser praktischerweise Nationalratsabgeordneter ist) und Landwirtschaftskammer eine beschauliche, harmonische Runde aus ÖVPlerInnen. Vielleicht zeigt uns auch, oder besser gerade, dieses Beispiel, warum es wichtig ist, bei der Wahl der eigenen Interessenvertretung nicht zu Hause zu bleiben.
Institutionalisierter Rassismus
Die arbeitsrechtlichen Verschlechterungen für ErntehelferInnen stellen jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Der Großteil der ErntehelferInnen kommt aus EU-Staaten wie Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien. Ihre Kinder haben sie zu Hause bei den Großeltern gelassen, ganze Dörfer sind verwaist. Man kann ohne weitere Umschweife sagen, dass Teil der Einkommenserwartung und -notwendigkeit die Aufstockung mithilfe der Familienbeihilfe für ihre zuhause gebliebenen Kinder ist – das ist gleichzeitig Teil des Arrangements, für die ArbeitgeberInnen (und die KonsumentInnen) die Kosten niedrig zu halten. Doch der flächendeckende Rassismus, die Triebkraft des »Erneuerungsprogramms« von Schwarz-blau, hat die Familienbeihilfe für WanderarbeitnehmerInnen gleich ganz zu Beginn der Regierungsperiode ins Auge gefasst: Mit Wirkung ab 1.1.2019 wurde ihnen die Familienbeihilfe drastisch zusammengestrichen, bei RumänInnen z. B. auf die Hälfte. Auch das spricht sich herum. Vielleicht werden die ErntehelferInnen auch deswegen ausbleiben. Vielleicht haben die ErntehelferInnen es einfach satt, in einem zutiefst rassistischen Land zu schuften?
Die jungen AktivistInnen und GewerkschafterInen werden jedenfalls auch in den nächsten Jahren über die Felder ziehen und die ArbeiterInnen über ihre Rechte aufklären. Wer mitmachen oder unterstützen möchte, kann sich ganz einfach auf der Webseite sezonieri.at eintragen oder im Frühjahr die Infoveranstaltung im Amerlinghaus besuchen (Termin wird auch auf der Homepage veröffentlicht).
Link: www.sezonieri.at
Susanne Haslinger ist in der Produktionsgewerkschaft PRO-GE für den Bereich Sozialpolitik zuständig und koordiniert – mit anderen – die sezonieri Kampagne.
Essay von HELGA WOLFGRUBER
„Erst die Arbeit, dann das Spiel« »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, »Ohne Fleiß kein Preis« – Sprüche dieser Art haben das Aufwachsen meiner Generation begleitet und sollten die Einübung in ein arbeitsames, pflichterfüllendes Leben »erleichtern«. Das war ganz im Sinne von Kirche, Kapital und Wiederaufbau. Das Bibelgebot »Brot essen im Schweiße seines Angesichts« schien mir besonders absurd und förderte früh meinen Widerstand gegen normative, mir nicht sinnvoll erscheinende »Handlungsanleitungen«.
Die Frage nach der Bedeutung von Arbeit im Leben der Menschen hat mich aber mein ganzes SozialarbeiterInnenleben begleitet und mir eine weitere Absurdität vor Augen geführt:
Das Evangelium der Arbeit
Während sich immer mehr Menschen unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen »abarbeiten« (müssen) und sich in einen Zustand der Erschöpfung (Burn-out) katapultieren, leidet ein immer größer werdender Teil unter den Folgen der schambesetzten Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit.
Als ich in den 80er-Jahren (!) als Gewerkschafterin auf die Notwendigkeit von Arbeitszeitumverteilung und Arbeitszeitverkürzung hinwies, wurde ich in der von Männern dominierten Welt der Gewerkschaft als Sozialromantikerin belächelt.
An der Ideologie der Vollbeschäftigung war nicht zu rütteln. Sie war Gewerkschaft und Politik als Daseinserfüllung heilig. Dieser begrenzte Arbeitsbegriff führte unter anderem zu einem beklagenswerten Mangel an Vorausschau auf sich lange schon abzuzeichnende Entwicklungen. Den Weg vom Nine-to-five-Job ins Prekariat oder in die Arbeitslosigkeit mussten viele Menschen daher alleine, ohne solidarische Begleitung gehen. Dass auf diesem Weg Mitglieder und WählerInnen verloren gingen oder nach »rechts abbogen«, wird von FunktionärInnen wenig selbstkritisch gesehen.
Diese ideologische Überhöhung der Arbeit, wie sie auch von den ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegungen des beginnenden 19. Jahrhunderts betrieben wurde, veranlasste schon damals den Sozialisten Paul Lafargue (Schwiegersohn von Karl Marx) zur prophetischen Feststellung: »Eine seltsame Tollheit beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation regiert. Diese Tollheit ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und Moralisten die Arbeit heiliggesprochen.«
Lafargues philosophische Frage, wie gutes Leben mit weniger Lohnarbeit aussehen könnte, mag vielleicht nicht ganz praxistauglich gewesen sein, er hat aber geahnt, wohin Politik und Wirtschaft führen können, wenn Gewinn- und nicht Sinnmaximierung unhinterfragtes Dogma bleibt.
Übrigens wurden Lafargues Schriften mit dem Vorwurf sie würden die Arbeitsmoral untergraben, in der Sowjetunion verboten und in der DDR nicht publiziert.
4 Stunden täglich sind genug
Auch der britische Philosoph Bertrand Russell hat schon in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinem provokanten Essay: »Lob des Müßiggangs« darauf hingewiesen, dass durch die modernen Produktionsmethoden die Möglichkeit gegeben wäre, dass alle Menschen behaglich und sicher leben könnten. »Aber«, so schreibt er, »wir haben es statt dessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und die anderen verhungern. Bisher sind wir immer noch so energiegeladen arbeitsam, wie zurzeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?«
Russells Hoffnung hat sich bis jetzt leider nicht erfüllt.
Time is money
Und mit dem neoliberalen Versprechen auf Erfolg und individuelles Glück sind beinahe alle Lebensbereiche zu ruhelosen, mit Mühsal (so die etymologische Bedeutung des Wortes »Arbeit«) verbundenen Arbeitsstätten geworden. Beziehungsarbeit (wo bleibt da Lust), Körperarbeit (begleitet von Fitnesswahn), Haus-und Sorge-Arbeit (sag mir, wo die Männer sind) und Lohnarbeit (von der Fabrikshalle ins Wohnzimmer) werden mit hohem Perfektionsanspruch und unter großem Optimierungsdruck geleistet. »Zeit haben« für gesellschaftlich wichtige, bisher als nicht »profitabel genug« bewertete Tätigkeiten (z. B. Pflege) geht als Wert und wichtige Kraftquelle verloren. Mit der »Effizienzpeitsche« im Rücken wird Handeln (time is money) zur lästigen, weil überfordernden Pflicht.
Sogar das Denken kann durch die immer kürzer werdende Laufstrecke zwischen den Gedanken an Kreativität und Phantasiekraft verlieren. Das wollte vielleicht auch Jürgen Habermas mit der Feststellung ausdrücken: »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.« An diesem Punkt von Ratlosigkeit und Perspektivlosigkeit scheint Politik schon lange angelangt zu sein. Aus Angst vor Macht- und Bedeutungsverlust hält sie künstlich an einer Arbeitsethik fest und predigt unhinterfragt Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung. Dabei verschläft sie Steuerung von Reichtumsproduktion, den Klimawandel und den längst fälligen Paradigmenwechsel unserer Arbeitsgesellschaft. Zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung wird in die Schaffung unsinniger und als unsinnig erlebte Bullshit-Jobs investiert, ohne den individuellen oder gesellschaftlichen Nutzen zu bedenken. Ob das eine wünschenswerte Freude an Arbeit fördert, ist zu bezweifeln.
Auf den Weg bringen
Ein emanzipatorisches Modell zukünftiger Arbeitsorganisation verdanken wir Frigga Haug, Soziologin und marxistisch-feministische Kämpferin für die Überwindung des Kapitalismus (als Fernziel).
Ihr Projekt Vier-in-einem findet vor allem durch Frauen große Unterstützung. Radikale Arbeitszeitverkürzung dient nicht NUR als Mittel zur Armutsbekämpfung, vielmehr sollen alte Arbeitsteilungen aufgehoben werden und zu einem neuen Zeitregime führen. Weniger Zeit für Erwerbsarbeit, Gleichverteilung der Reproduktionsarbeit auf alle Geschlechter, Zeit für politische Bildung/Aktivität und Zeit für individuelle Entwicklungsmöglichkeiten sind die vier gleichberechtigten Säulen des langfristigen Projekts.
Haug ist außerdem davon überzeugt, dass Selbstveränderung und Veränderung der Umstände in der politischen Praxis zusammenfallen müssen. Emanzipatorischer Effekt wäre anders nicht zu erzielen und ohne diesen ist eine »neue Welt« nicht vorstellbar.
Abschied vom »Exzess der Arbeit«
Es ist bekannt, dass alte Gewohnheiten schwer aufzugeben sind, dass Neues auszuprobieren von Ängsten begleitet sein kann.
Je länger wir aber im Modus der Starre und des Bewahrens verharren und gleichzeitig an einem »Exzess der Arbeit« (Byung Chul Han) festhalten, desto schwieriger wird es sein, uns von den verheerenden Folgen dieser »Zurichtungen« zu trennen oder gar zu erholen. Die wechselhafte Geschichte der Arbeits- und Produktionsverhältnisse hat unsere Einstellung zu Arbeit und Sein geprägt. In vielen Köpfen schwirrt daher noch die Verachtung manueller Arbeit in der Antike, wirkt noch das Fleiß – Gebot des Protestantismus oder geistert die Kant'sche Idee der Selbstverwirklichung durch Arbeit. Diese »Schlacken« der Geschichte begleiten die Bemühungen um ein Bedingungsloses Grundeinkommen mit Skepsis und Widerstand. Für und Wider sind aber auch bestimmt von irrationalen Ängsten. Angst vor dem Verlust strukturgebender Imperative. Angst vor Zeitgewinn: was fange ich damit an? Angst vor Autonomiezuwachs: Wofür will ich Verantwortung übernehmen? Vielleicht auch Angst vor Nichts-tun-wollen und in der Stille »Bekanntschaft mit sich selbst« zu machen…
Der alte Slogan der revolutionären Arbeiterschaft: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will …« wirkt auf viele heute anachronistisch. Veränderung wird aber ohne an den »Rädern« zu drehen nicht erfolgreich sein. Und was geschieht dann, wenn die Räder einmal wirklich still stehen: Wird die Erleichterung über die Ruhe oder die Angst vor der Stille überwiegen? Vielleicht sollten wir uns zur Einübung in Muße und kreativer Stille diesem Vorhaben zuwenden: »Alle Smartphones stehen still, wenn dein starker Daumen will.«
Und: Müßiggang ist nicht aller Laster Anfang.
Zum Streit über die neuen Mittelstreckenraketen in Europa.
VON WALTER BAIER
Das Ende der Systemkonkurrenz führte zwar zu einer Erweiterung der NATO, nicht aber zu einer Entmilitarisierung Europas. Auch wenn die Landkarten neu gezeichnet wurden, die Drohung einer atomaren Vernichtung schwebt weiterhin genau über unseren Köpfen. Statt durchaus eigennütziger Friedenspolitik setzt Österreich auf europäische Streitkräfte und erhöhte Rüstungsausgaben.
Sollte Russland sich nicht bis Anfang Februar verpflichten, seine neuen Marschflugkörper zu verschrotten, so werden sich die USA nicht mehr an den 1987 geschlossenen Vertrag über die Beseitigung der Mittelstrecken in Europa gebunden fühlen und ein paar hundert atomar bestückte Raketen in Westeuropa stationieren. So lautet das Ultimatum, das der US-Präsident Russland gestellt hat. Die Antwort aus Moskau folgte prompt und lautete, dass man Gleiches mit Gleichem zurückzahlen werde.
Anders gesagt: Wenn sich die atomaren Supermächte im Streit darüber, wie oft sie die Welt vernichten können müssten, um von einem strategischen Gleichgewicht zu sprechen, nicht einigen, so einigen sie sich doch darauf, dass der Testlauf für den nuklearen Holocaust in Europa stattfinden soll.
Das Kalkül gleicht demjenigen, das Europa zu Ende der 70er-Jahre an den Rand eines Atomkrieges gerückt hatte. Die USA stellen in Europa mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen auf, die russische Städte in weniger als fünf Minuten in Asche verwandeln könnten. Die russische Seite rüstet für einen Entwaffnungs- oder Gegenschlag, der sich logischer Weise dorthin richtet, wo die Raketen abgefeuert werden: Westeuropa. Der Rest wäre dann Verhandlungssache zwischen den Oberbefehlshabern. So die schwarze Theorie, der zufolge sich das Inferno regional begrenzen und die Eskalation unterbrechen ließe.
Trump und Putin mögen die Illusion hegen, dem Desaster erste Reihe, fußfrei, aus mehreren tausend Kilometern Entfernung beiwohnen zu können; für die Europäer_innen kann diese nicht bestehen. Sie müssen wissen, dass der auf »Europe begrenzte Atomkrieg« bereits in den ersten 30 Minuten Dutzende Millionen Menschenleben kosten und das Ende ihrer Staaten bedeuten würde.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Vertrages bestand die Möglichkeit, Europa effektiv abzurüsten, insbesondere atomwaffenfrei zu machen. Die USA, die den Kalten Krieg gewonnen hatten, ließen diese historische Möglichkeit ungenützt. Durch die sukzessiven Erweiterungen der NATO, neue Stützpunkte und atomar bestückbare Raketen in Osteuropa wurden neue Spannungen provoziert.
Auf der anderen Seite besann sich Russland, als es die durch den Übergang zum Kapitalismus ausgelöste Krise überwunden hatte, seiner traditionellen imperialen Ansprüche. Es will wieder gelten. Und wie die Krisen in der Ukraine und Syrien zeigen, verfügt es auch über die entsprechenden Machtmittel. Man kann dieses neu erwachte russische Machtbewusstsein und seine strategischen Ziele vollkommen ablehnen, aber man muss sie ernst nehmen.
Statt in dieser Situation eskalierender internationaler Spannung etwas zu unternehmen, um die Lage zu beruhigen, einigten sich EU-Mitgliedsstaaten, darunter Österreich, 2017 auf die »Permanent Structured Cooperation« (PESCO), ein Militärkonzept, dessen Ziel es ist, über eine drastische Erhöhung der Rüstungsausgaben und bessere Koordinierung der Streitkräfte den Weg zu einer europäischen Armee zu öffnen.
Auch das zur Rechtfertigung eines EU-Militarismus bemühte Argument, man müsse, um sich von der unberechenbaren US-Politik frei zu strampeln, autonome militärische Mittel schaffen, würde mit der Aufstellung der neuen Raketen nun aber obsolet. Stehen einmal die Raketen, so sitzt der alleinige Herr über Krieg und Frieden in Europa nicht in Brüssel, weder bei der EU noch bei der NATO, sondern im Weißen Haus.
Spätestens jetzt muss der Öffentlichkeit klarwerden, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten, von denen die meisten der NATO angehören, eine sicherheitspolitische Kehrtwendung einleiten müssen. Auch ohne die neuen Raketen und PESCO ist Europa übermilitarisiert. Frieden kann nicht durch noch mehr Rüstung, sondern nur durch eine friedliche Politik, die auf Abbau statt auf Zuspitzung der Konfrontation zielt, gesichert werden.
Österreich ist ein neutraler Staat in der EU, und diese Stellung wurde von der EU im EU-Vertrag von Lissabon auch anerkannt. Von der österreichischen Regierung kann daher verlangt werden, sich aus allen der Neutralität widersprechenden Bindungen an die NATO zu befreien und im Rahmen der EU auf eine entmilitarisierte Außenpolitik zu dringen.
Vor allem darf es im Bereich der besonders gefährlichen nuklearen Mittelstreckenraketen nicht zu einem Wettrüsten kommen. Man muss aber weiterdenken. Lateinamerika etwa ist ein Kontinent ohne Atomwaffen. Warum sollte es nicht ebenso möglich sein, alle in Europa stationierten und auf Europa zielenden Atomwaffen abzubauen. Und wenn der Weg zum atomwaffenfreien Europa noch weit ist, warum nicht mit einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa den Anfang machen. Wäre das nicht ein lohnendes Ziel für die Europapolitik eines neutralen Kleinstaats?
Warum die Regierung ein Sozialhilfegesetz vorlegt, statt Mindestsicherung und BürgerInnenrechte zu garantieren.
HEIDE HAMMER sprach mit MICHAELA MOSER (Armutskonferenz) und ANNA SCHIFF (Sichtbar Werden Wien).
In der Plattform »Sichtbar Werden« der Armutskonferenz sind seit 2006 verschiedene Selbstorganisationen und Initiativen von Menschen mit Armuts- und Ausgrenzungserfahrungen vernetzt. Sie treten als Menschen mit wenig Einkommen für Partizipation in politischen Entscheidungsprozessen, die sie direkt betreffen, ein. Es geht um Einbindung, Mitsprache und Mitgestaltung in allen Bereichen: auf dem AMS oder im Sozialamt und Gesundheitssystem, aber auch im Kulturbereich, in der Bildung, in Mobilitätsfragen und ganz generell bei politischen Entscheidungen.
Die Armutskonferenz ist seit 1995 mit dem Motto »Es ist genug für alle da« als Netzwerk von mittlerweile über 40 sozialen Organisationen sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen aktiv. Sie thematisiert Hintergründe und Ursachen, Daten und Fakten, Strategien und Maßnahmen gegen Armut und soziale Ausgrenzung in Österreich. Gemeinsam mit Armutsbetroffenen engagiert sie sich für eine Verbesserung von deren Lebenssituation.
Seit Bekanntwerden des Entwurfs der Bundesregierung zum »Sozialhilfe Grundsatzgesetz« gibt es zahlreiche Einwände gegen diese Almosengesetzgebung. Allein von Mitgliedsorganisationen und ExpertInnen der Armutskonferenz liegen 32 qualifizierte Stellungnahmen gegen den Entwurf vor. Was ist euch dabei besonders wichtig?
MICHAELA MOSER: Als Armutskonferenz sehen wir einerseits Existenzsicherung, aber auch die Wahrung von Chancen zur wirklichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als zentrale Anforderungen an Sozialleistungen. Wenn Mindestsicherungs-BezieherInnen das Mindeste genommen wird, hat das nichts mit einem sogenannten Anreizsystem zu tun, sondern es geht um Verunsicherung und die bewusste Herbeiführung von Not und Armut. Ganz speziell geht es auch um Spaltung, also darum, Betroffene gegeneinander aufzubringen und auszuspielen. Verpackt wird das alles in einem Sicherheitsdiskurs, der aber natürlich die zentralen Aspekte ökonomischer Sicherheit weitgehend ausblendet. Zugleich ist die neue Sozialhilfe als »Almosensystem« angelegt und von einem Verständnis sozialer Rechte mit den entsprechenden Möglichkeiten, diese auch einzuklagen, weiter entfernt denn je. Von den Kürzungen betroffen sind letztlich nicht nur geflüchtete Menschen und MigrantInnen, wie oft suggeriert wird, sondern auch viele andere. Treffen tut es alle sehr schwer, weil ohnehin schon die bisherigen Beträge für ein würdiges Leben nicht ausreichten.
ANNA SCHIFF: Von den knapp 308.000 MindestsicherungsbezieherInnen sind 35,2% Kinder. 70,5% sind AufstockerInnen, darunter auch ich. Trotz meiner langjährigen Tätigkeit als Restauratorin verdiene ich in Teilzeitbeschäftigung so wenig, dass mir weitere Transferleistungen zustehen. Als AlleinerzieherIn steht man immer wieder vor denselben Problemen, es geht um fehlende Ressourcen. Es ist fast unmöglich, alles unter einen Hut zu bringen, konkret: Nehme ich mir Zeit für dieses Interview oder ist es wichtiger, mit meinem Sohn für die Englischschularbeit zu lernen? Wieviel Zeit kann ich mir für politisches Engagement nehmen?
Für viele gibt es ständig diese Entweder-oder-Entscheidungen, es wäre zwar genug für alle da, aber offenbar nicht für uns und unsere Kinder. Eine ausreichend große Wohnung und gutes Essen, beides geht sich für viele nicht aus. Oft dringend notwendige Therapien für Kinder, die von der Krankenkasse nicht bezahlt werden, sind privat nicht leistbar. Armut macht krank. Als Erwachsene kann man auf vieles verzichten, für meine Kinder ist es mir besonders wichtig, dass sie ihren Neigungen uneingeschränkt nachkommen können. Mein jüngster Sohn ist ein begeisterter und talentierter Fußballspieler, das darf und soll er auch im Verein tun, aber die Ausstattung dafür ist auf Willhaben nicht zu haben, und 13-jährige wachsen schnell. Die Talente der Kinder sind ebenso wie ein besonderer Förderbedarf schwer finanzierbar, das ist zermürbend.
Was wurde durch die Mindestsicherung verbessert und wird durch den vorliegenden Gesetzesentwurf zunichte gemacht?
ANNA SCHIFF: Grundsätzlich war es für mich eine deutliche Verbesserung, Amtswege online zu erledigen. Die e-card für alle war ebenso wichtig, damit etwa arbeitslose Personen nicht länger bei jedem Arztbesuch allein mit ihrem Krankenschein stigmatisiert werden. Dennoch ist es auch im Modell Mindestsicherung so, dass der Kontrollwahn der Ämter und der halbjährliche bürokratische Aufwand zum Weinen sind. Für Wohnbeihilfe, Ausgleichszulage, Kinderbeihilfe, Rezeptgebührenbefreiung bedarf es immer wieder derselben Offenbarungen und Offenlegung der »Vermögensverhältnisse«. Das macht hilflos, wütend und überfordert – ständig muss ich auch daran denken, bloß nichts zu übersehen, keine Frist zu versäumen.
Nun plant die Regierung also bei den Ärmsten der Gesellschaft zu sparen. Wer Deutsch nicht auf B1-Niveau kann (oder Englisch auf C1), bekommt 300 Euro weniger, die 863 Euro, die jetzt als Mindestsicherung gelten, liegen aber schon unter der Armutsgrenze. Und man ist fast versucht zu sagen, natürlich werden auch die Kinderzuschläge gekürzt. Für das erste Kind gibt es noch 216 Euro, für das zweite 130 und ab dem dritten Kind werden nur noch 43 Euro im Monat ausbezahlt. Dagegen werden aber jene, die mindestens 1.700 Euro brutto monatlich verdienen, mit einem jährlichen Bonus von 1.500,– pro Kind belohnt. Die Umverteilung von Arm zu Reich ist offensichtlich.
MICHAELA MOSER: Für uns als Armutskonferenz geht es immer auch um einen politischen Kampf: Es geht um Grundrechte statt Almosen. Das bedeutet auch, die strukturellen Gründe von Armut, allen voran die dramatische Ungleichverteilung von Ressourcen, sichtbar zu machen und den Diskurs vom individuellen Versagen zu den Versäumnissen staatlicher Pflichten zu verschieben: Der Staat hat für alle seine Bürger*nnen zu sorgen, das gilt für vulnerable Personengruppen, etwa Menschen mit Behinderungen oder Kinder, ganz besonders.
Die Regierung plant, die alte Sozialhilfe wiedereinzuführen, und zwar schlimmer als zuvor. Besonders problematisch ist der Wegfall der Vorgabe, dass Entscheidungen am Amt maximal drei Monate dauern dürfen. So wird Soforthilfe unmöglich und Ämterwillkür Tür und Tor geöffnet. Auch die Verpflichtung, schriftliche Bescheide auszustellen, ist gestrichen. Es gibt keine Mindeststandards mehr, sondern nach unten ungesicherte Kann-Leistungen. Die Leistungshöhen, das Wohnen, Hilfen für alleinerziehende Eltern und Menschen mit Beeinträchtigungen – all das sind »Kann«-Bestimmungen. Mit den bislang bekannten geplanten Beschneidung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld und Notstandshilfe) bedeutet das, dass stärker sozialstaatliche, statussichernde Leistungen in mehr »almosenhafte«, paternalistische Fürsorge überführt werden sollen.
Zuletzt hat die Aussage von Kanzler Sebastian Kurz über immer mehr Familien in Wien, in denen in der Früh nur noch die Kinder aufstehen, um zur Schule zu gehen, für viele Reaktionen gesorgt. Die Wiener Stadtregierung will den Regierungsentwurf zur Sozialhilfe nicht umsetzen. Zum rassistischen Grundtenor kommt nun eine Haltung roher »Bürgerlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer), die durchaus »im Dienste gesellschaftlicher Eliten« steht. Was möchtet ihr denn den Regierenden, Nutznießer_innen und Mitläufer_innen ausrichten?
ANNA SCHIFF: Würde unser Bundeskanzler jedem Menschen mit Respekt und Wertschätzung begegnen, wäre eine solche Aussage nicht möglich. Besonders Frauen gegenüber, die den Hauptteil der Sorgearbeit zuhause mit Kindern leisten, ist das ungeheuerlich.
MICHAELA MOSER: Dieses Bild ist zynisch, niederträchtig und falsch und so bewusst eingesetzt, um Menschen gegeneinander und vor allem gegen die Schwächsten aufzubringen, dass jeder Versuch, die Regierung hier mit Fakten und Argumenten zu erreichen, derzeit eher sinnlos scheint.
Allen Menschen, die in diesem Leben arbeiten, würde ich gern ausrichten: Lasst euch nicht blenden, lasst euch nicht spalten von solchen Bildern. Fallt nicht rein auf dieses billige Schema von den angeblich Faulen und den angeblich Fleißigen. Es stimmt nicht, dass Leistung belohnt wird – das zeigen die vielen unbezahlten Sorgetätigkeiten von vor allem Frauen, aber auch die hochlukrativen Spekulationen, wo nichts geleistet und viel verdient wird. Und es stimmt noch viel weniger, dass unser Wert als Menschen von so einem verzerrten Leistungsbegriff abhängig gemacht wird. Wichtig wäre zu erkennen, dass wir alle immer wieder auf Unterstützung angewiesen sind und dass ein solidarisches System, in dem wir die vorhandenen Reichtümer teilen, für alle besser ist.
Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine schöne Alternative zu all dem bürokratischen und oft auch demütigenden Antragswesen?
MICHAELA MOSER: In Kombination mit anderen Maßnahmen halte ich ein Grundeinkommen für eine wirkliche Alternative. Weil damit genau zum Ausdruck gebracht wird, dass jeder Mensch gleich viel wert ist, unabhängig von Herkunft, sogenannter Leistung oder gar Besitzstand. Wichtig ist dabei, dass das Grundeinkommen mit der Sicherung guter sozialer Infrastruktur verbunden ist, sonst kann es auch zu einer »Abspeisung« von Menschen mit schlechtem Zugang zu Ressourcen und Chancen werden.
Und dass rund um die Frage »Wer bekommt’s?« nicht neue Ausgrenzungs- und Spaltungsmechanismen geschaffen werden.
ANNA SCHIFF: Ich stimme Michaela zu und möchte noch ergänzen, dass es auch eine Grundsicherung für Kinder geben muss. Die oben erwähnten Kürzungen für Kinderzuschläge, also 43 Euro ab dem dritten Kind, sind wirklich nur zynisch und menschenverachtend.
Von MARGIT APPEL
Dieser Beitrag befasst sich mit einem seit den 2010er Jahren in Gang gebrachten Paradigmenwechsel. Soziale Rechte und sozialer Schutz sollen demnach nicht primäre Aufgabe sozialstaatlichen Handelns sein, sondern Investitionen in die BürgerInnen, die sich rechnen. Dass dieses Denken schon die konkrete (Sozial-)Politik und den medialen Diskurs erreicht hat, ist bereits bei einfachem Nachrichtenkonsum feststellbar. Die letzten Wochen zeigten das Bemühen politisch Verantwortlicher, die BürgerInnen auf die »neue Gerechtigkeit« einzuschwören: Wer noch nichts oder noch nicht lange etwas geleistet hat, der soll auch keine oder jedenfalls eine geringere sozialstaatliche Leistung bekommen. Dass sich Leistung lohnen muss, ist ein bereits gut gelerntes Mantra aus der Zeit der großen Koalition – gerade von Wirtschaftskammerpräsident Mahrer in einem Kommentar zur Debatte um das Christlich-Soziale in der Politik und in der Volkspartei wiederholt und gegen abhängig machende Daueralimentierung ins Treffen geführt (Der Standard, 5./6. Jänner 2019).
Was mit dem Paradigmenwechsel zum sozialinvestiven Staat gelernt werden soll, ist die nächste Stufe, dass sich auch die sozialstaatliche Leistung lohnen muss! Investitionen in Bedürftige, die für ein »return of investment« nicht geeignet sind oder sich nicht eignen sollen (Geflüchtete etwa), verbieten sich in dieser Logik und der daraus gezimmerten Sozialpolitik geradezu. Wer investiert schon in eine Angelegenheit, die keinen Ertrag bringt? Zum Selbstverständnis der aktuellen Regierungsparteien passt es, dass dieser Paradigmenwechsel mit dem Willen der LeistungsträgerInnen argumentiert wird, die es angeblich mehrheitlich ablehnen, ihr durch permanentes Leisten verdientes Geld via dem Staat zu gebender Steuern für die Abdeckung angeblicher Bedürfnisse von angeblich Bedürftigen einsetzen zu müssen. Eine anderslautende repräsentative Befragung, dass mehr als 70 Prozent mit der Gewichtung sehr dringend oder dringend der Regierung den Auftrag geben, darauf zu achten, »dass arme Menschen ausreichend Mindestsicherung bekommen« (Der Standard, 2.Jänner 2019), wurde noch nicht kommentiert.
Sozialstaat – gut, nicht perfekt
Der österreichische Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, als Sozialversicherungsstaat und als Transferleistungsstaat, wurde Schritt für Schritt erkämpft bzw. in zähem politischem Ringen erreicht. Seine Wirksamkeit in der Armutsvermeidung ist sehr gut, wenn auch nicht ausreichend. Das gilt auch für den Schutz des sozialen Status von Menschen, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen. Der österreichische Sozialstaat ist im Wesentlichen so konstruiert, dass er das kapitalistische Erwerbsarbeitsregime flankiert, dessen Wirkungen für Einzelne auch abpuffert – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der österreichische Sozialstaat ist konservativ und konservierend: Der Status am Arbeitsmarkt, StaatsbürgerInnenschaft, Geschlecht, Ethnie sind – wie Stefan Lessenich das ausdrückt – beharrliche Demarkationslinien zwischen Drinnen und Draußen: zwischen dem Anspruch auf gute sozialstaatliche Leistungen und weniger gute bis keine sozialstaatliche Leistungen.
Empirie schlecht, Diskurs intensiv
Aber anstelle den Sozialstaat so zu reformieren, dass diese »Demarkationslinien« verschwinden, wird sein Grundgedanke in Frage gestellt. Obwohl die Empirie über die Wirksamkeit sozialinvestiver Sozialstaatlichkeit schlecht ist, ist der Diskurs über diesen Ansatz anhaltend intensiv bzw. kommt in neuen Spielarten daher. Beteiligte bzw. Motoren dieses Diskurses bzw. dieser Umbaustrategien – geht man nach entsprechenden Veröffentlichungen (siehe »Weiterführende Informationen« unten) – sind etwa auf europäischer Ebene die EU Kommission, in Österreich die Industriellenvereinigung, aber auch die Arbeiterkammer. Die damit verbundenen Interessen unterscheiden sich allerdings deutlich. Der Industriellenvereinigung scheint es um eine sehr grundsätzliche Neukonzeption sozialer Sicherheit zu gehen, wo schon einmal die Frage diskutiert wird, wie sich soziale Investitionen des Staates in seine BürgerInnen überhaupt begründen lassen, oder laut darüber nachgedacht wird, ob sich nicht der Handel mit individuellen Verfügungsrechten für ein Sozialeinkommen eignen könnte. Da passt auch die jüngste Information, dass die Industriellenvereinigung mit einem ihrer Ökonomen im Leitungsteam von Insight Austria vertreten ist (Der Standard, 27. Dezember 2018). Diese seit 2018 existierende Forschungseinheit am Institut für Höhere Studien soll helfen, mit den Kenntnissen und Mitteln der Verhaltensökonomie den Erfolg politischer Maßnahmen zu optimieren. Die Anschubfinanzierung für drei Jahre kommt von Finanzministerium und Industriellenvereinigung. Offenkundig wird damit gerechnet, dass sich diese Investition rechnet, wenn die AMS-KundInnen oder die BMS-BezieherInnen durch verbessertes »nudging« zum richtigen Verhalten gebracht werden, also mit den in sie investierten Geldern optimiert umgehen. Interesse der Arbeiterkammer bei ihrer Mitwirkung an diesem Diskurs scheint es zu sein, mit entsprechenden Studien die »Selbstfinanzierung« von Sozialinvestitionen, die als gesellschaftlich sinnvoll und notwendig nicht in Frage gestellt werden, durch Beschäftigungseffekte, Wachstumsimpulse und Reduktion des Transfersbedarfs zu belegen.
Programmatische Verschiebung
Das Konzept des sozialinvestiven Wohlfahrtsstaates verschiebt den Fokus sozialstaatlicher Leistungen. Waren diese eher an der Wiederherstellung von Selbsterhaltungsfähigkeit bzw. am Ersatz fehlender oder verlorengegangener Ressourcen orientiert – also »restituierend« – , sollen sie nun als Aufwendungen für etwas gelten, das in der Folge besonderen Nutzen bringen soll – also »investiven« Charakter haben. Subsidiäre Unterstützungen für das konkrete Wohlergehen von Einzelpersonen oder Bedarfsgemeinschaften / Haushalten verlieren durch diese programmatische Verschiebung an Legitimität; Sozialausgaben, die zum Wirtschaftswachstum beitragen, sind hingegen die Favorisierten. So kommt es zu einer polarisierten Zuordnung von Sozialausgaben. Die »Guten« sind jene, die sich rechnen: durch Wachstumsgewinne, durch erweitertes und gestärktes Humankapital, durch die Förderung der Erwerbsbeteiligung bzw. der verstärkten Aktivierung dazu. Die »Schlechten« sind jene Sozialausgaben, die sich in dieser Logik nicht rechnen: sie dienen nur dem Verbrauch bzw. der Deckung der Bedürfnisse der BürgerInnen. Diese polarisierende Wertung von Sozialausgaben ist der Entstehungszusammenhang für zwei Folgewirkungen, die wir aktuell in den österreichischen Sozialstaatsdebatten vorgeführt bekommen. Das ist einmal die Stigmatisierung von Bedürftigen als BezieherInnen von Leistungen, die sich nicht oder nicht schnell genug rechnen bzw. rechnen sollen. Das ist weiters die Erzählung der für den Umbau des Sozialstaates verantwortlichen politischen Kräfte, unter Legitimationszwang zu stehen: »die Bevölkerung« würde staatliche Ausgaben zur Deckung länger andauernder Bedürftigkeit nicht goutieren.
Rationalität der Sorge
Diese programmatische Verschiebung von Sozialstaatlichkeit verheißt gerade auch aus einer feministischen Sozialstaatsperspektive nichts Gutes. Care-Arbeiten und Care-Tätige unterliegen einer anhaltenden Abwertung, das gilt für den privaten Haushaltssektor und die dort Care-Tätigen ebenso wie für den öffentlichen Sektor, den Unternehmenssektor und den 3.Sektor – in allen werden Care-Arbeiten schlecht bezahlt und unter ungeeigneten Rahmenbedingungen sowohl für die Sorgebedürftigen als auch für die Care-Tätigen erbracht. Diese anhaltende Abwertung hängt klar mit dem Umstand zusammen, dass Care-Tätige in jene Menschen »investieren«, die noch nicht, gerade nicht bzw. nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. »Inwertsetzung« von Care-Tätigkeiten ist im Paradigma des sozialinvestiven Staates höchstens dort zu erwarten, wo Sorgearbeit nach ökonomischen Zielsetzungen organisierbar ist, zum Beispiel der Bereich der frühkindlichen Betreuung – daraus kann längerfristig Rendite kommen.
Diskurs, programmatische Verschiebungen und konkrete Umsetzungen in die Sozialpolitik sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. »Sozialinvestiv« heißt genau nicht, orientiert an den sozialen Rechten und an sozialem Schutz angemessen und ausreichend in »das Soziale« zu investieren! Das Konzept des Social Investments ist ganz klar mit einer – vorgestrigen, aber nichts destotrotz politisch äußerst populären – Wachstumsrationalität verbunden. Der Gewinn aus diesem Wachstum ist für jene, die ihn abschöpfen können, umso größer, je optimaler es gelingt, Menschsein auf Produktionsfaktorsein oder ungeniert gleich auf Produktionsmittelsein zu reduzieren. Dem ist die Orientierung der Politik und des Sozialen an einer Rationalität der Sorge/ Fürsorge entgegen zu stellen. Menschen sind in erster Linie NutzerInnen bzw. ErbringerInnen von Tätigkeiten, die nicht ökonomisch messbar sind bzw. nicht unmittelbar zu Produktivitätssteigerungen und in der Folge Wachstum beitragen. Es ist eine gute Investition in die Zukunftsfähigkeit des österreichischen und des europäischen Sozialmodells, dieses Menschenbild zugrunde zu legen.
Margit Appel, Politologin. Von 1998 bis 2018 Mitarbeiterin der ksoe für politische Bildung und politische Grundlagenarbeit. Nunmehr als Referentin zu den Themen Rechtspopulismus / Demokratie, Bedingungsloses Grundeinkommen / Sozialstaat, Geschlechterhierarchische Arbeitsteilung, etc. tätig.
Dieser Text wurde auch auf dem Blog der Katholischen Sozialakademie (https://blog.ksoe.at) veröffentlicht. Wir danken Margit Appel für die Möglichkeit, den Text auch in der Volksstimme veröffentlichen zu können.
Linz kann auch ziemlich alt aussehen.
VON MICHAEL SCHMIDA
Anfang dieses Jahres soll nun »endlich« mit den Bauarbeiten für den so genannten A26-Westring, einer hauptsächlich im Tunnel geführten Stadtautobahn durch Linz, begonnen werden.
Wegen fehlender Finanzmittel und dem (hauptsächlich juristischen) Widerstand in Teilen der Bevölkerung zogen sich die Planungen in die Länge. Erste Baumrodungsarbeiten wurden schon vor dem endgültigen grünen Licht für dieses ursprünglich aus dem 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden Autobahnprojekt durchgeführt. Nun soll es aber ernst werden. Der erste Teil und Bauabschnitt des Westrings besteht aus einer Brücke über die Donau und verlauft im extra für die A26-Autobahn verkleinerten Naturschutzgebiet Urfahrwänd im Bereich der Linzer Donaupforte. Wertvoller innerstädtischer Baumbestand in Form von Bannwald und Erholungsflächen werden zerstört. Auch auf dem anderen Ende der Autobahn, im Bahnhofsbereich, ist mit erhöhten Luftschadstoffbelastungen zu rechnen. Sogar ein von der errichtenden Autobahngesellschaft Asfinag beauftragter Mediziner hat festgestellt, dass die Lärm- und Schadstoffbelastung durch den Linzer Westring in Bahnhofsnähe so hoch sein wird, dass ein Wohnen in der Umgebung nicht mehr möglich sein wird.
»Sinnloses Großprojekt«
Die Stadt Linz soll also 2019, über zwei Jahrzehnte nach Beschluss des Klima-Kyoto-Protokolls, wieder eine neue Stadtautobahn bekommen und macht damit dem auch außerhalb von Linz bekannten Ausspruch »Linz ist Provinz« alle Ehre. So geben sich Stadtpolitik und -marketing schon längere Zeit zwar alle Mühe die Stahl- und Industriestadt modern und innovativ darzustellen, in vielen Bereichen wie z.B. bei der Verkehrspolitik zeigt sich aber hinter der Imagepolitur eine Retropolitik der schlimmsten Sorte. Beim Westring gibt es eine breite Phalanx aus politischen Parteien (von SPÖ bis FPÖ), wirtschaftlichen Interessen und regionalen Medien, die hinter der Stadtautobahn stehen, so dass auch jahrzehntelange Kritik am Retro-Projekt diese nicht verhindern konnte und nun mit dem Bau begonnen wird. Obwohl nicht für Autobahnen zuständig, übernahmen Land Oberösterreich und Stadt Linz je zehn Prozent bzw. fünf Prozent der Netto-Gesamtkosten mittels Blanko-Scheck. Derzeit wird mit Kosten von mindestens einer Milliarde Euro gerechnet. Ein auch vorgesehener Nordteil der Autobahn durch den Stadtteil Urfahr wurde aus Kostengründen (vorläufig) gestrichen.
Der deutsche Kulturwissenschaftler und Autor Georg Seeßlen erfand für solche Bauvorhaben wie dem Westring die treffende Bezeichnung »sinnloses Großprojekt«. Für Seeßlen sind sie ein Symptom des späten Kapitalismus und bündeln Kapital, Mafia und Politik in einem scheinbar progressistischen Kraftakt, in aller Regel gegen die Interessen großer Teile der Gesellschaft. »Das sinnlose Großprojekt hat als erste Aufgabe keineswegs die Verbesserung der Welt, in der wir leben. Selbst jene Vorteile, die uns versprochen werden, tolle zehn Minuten früher irgendwo ankommen, noch mehr Shopping usw., auf die wir liebend gern verzichten würden, werden konsequent verfehlt. Die Nachteile dagegen steigen ins Unermessliche, beinahe immer werden sie vorher verschwiegen, schöngeredet, unterdrückt. Nein, das sinnlose Großprojekt hat ausschließlich zum Ziel, Geld zu bewegen und Macht zu verteilen.«
Breite Straßen
Auch sonst tut sich nicht viele Neues und Innovatives in Linz hinsichtlich einer Verkehrspolitik, die nicht (mehr) nur den motorisierten Individualverkehr im Fokus haben sollte. So hat Linz hinter Klagenfurt zwar den höchsten Anteil an Autoverkehr am Gesamtverkehrsaufkommen der Hauptstädte und auch der Radfahranteil ist mit nur sieben Prozent recht gering, trotzdem oder wahrscheinlich gerade deswegen steht das Auto bei verkehrspolitischen Entscheidungen noch immer ganz oben. Dementsprechend wird gerade die sechsspurige A7-Autobahnbrücke über die Donau, die so genannte »VÖEST-Brücke« durch zwei zweispurige Bypass-Brücken auf insgesamt zehn Spuren von der Asfinag ausgeweitet. Und auch die Stadt selbst baut bzw. verbreitert überall Straßenwege. Zum Beispiel wurde die alte Eisenbahnbrücke abgerissen und derzeit wird aktuell eine neue, breitere Donaubrücke für Autos errichtet. Ob jemals wieder eine Eisenbahn oder Straßenbahn diese Brücke überqueren wird, ist hingegen fraglich. Während sich das Land mit der Stadt beim Bau neuer Straßen schnell einig ist, spießt es sich bei der Finanzierung des öffentlichen Verkehrs.
Größenwahn auch bei Öffis
Apropos öffentlicher Verkehr: Auch hier versteigt sich die Politik in sinnlose und unfinanzierbare Großprojekte. Eine zirka eine halbe Milliarde Euro teure »zweite Schienenachse« soll den Osten von Linz in Form einer »U-Straßenbahn« großteils in Tunneln durchfahren. Kritik von VerkehrsaktivistInnen, eine unterirdische Führung ist nicht nur kostspielig, sondern auch unattraktiv für Fahrgäste, v. a. wenn auf der Erde genug Platz für den öffentlichen Verkehr vorhanden wäre, wurde von der Stadtpolitik einfach ignoriert. So lässt eine Attraktivierung des innerstädtischen öffentlichen Verkehrs weiter auf sich warten. Dazu sind groß angekündigte Öffi-Projekte, um die PendlerInnenströme aus dem Umland vom Auto wegzubekommen, erst in Planung oder liegen in der Warteschleife. Kleinere Maßnahmen, etwa wie mehr Busspuren, Taktverdichtungen bei den Fahrplänen, Errichtung von Umsteigeknoten und Park&Ride-Anlagen, Fahrverbote bzw. verkehrsberuhigte Straßen und vieles mehr, werden kaum bis gar nicht umgesetzt. Sie lassen sich von der herrschenden Politik schlecht verkaufen und stehen oftmals in Konkurrenz zum Auto. Stattdessen erfindet man lieber medienwirksam Luftschlösser, wie eine Seilbahn, die im Südosten PendlerInnen in das VOEST-Gelände bringen soll. Unisono stellt sich die herrschende Politik ganz retro-populistisch die Wählerin bzw. den Wähler ohnehin fast nur im bzw. mit Auto vor.
Bereit für die Wende
Im Gegensatz dazu haben die Erfahrungen mit dem täglichen Verkehrswahnsinn, ob als PendlerIn im Stau oder als luft- und lärmgeplagte StadtbewohnerIn, bereits zu einem Umdenken in der Bevölkerung geführt und auch die Bereitschaft für eine Wende im Verkehr deutlich erhöht. Eine Befragung der Arbeiterkammer Oberösterreich zufolge wünschen sich über 80 Prozent der PendlerInnen von der Politik mehr Geld für den öffentlichen Verkehr und viele AutofahrerInnen können sich auch einen Umstieg auf Öffis vorstellen. Auch bei der Frage der Ticketpreise ist das Ergebnis eindeutig: Bei einer Umfrage in einer oberösterreichischen Zeitung haben sich erst kürzlich fast 80 Prozent für einen »Nulltarif« auf Bus, Bim und Bahn, also für Gratis-Öffis, ausgesprochen.
Michael Schmida ist verkehrspolitischer Sprecher der KPÖ und Verkehrsaktivist in Linz