Kevin Guillas-Cavan über Frankreich nach zwei Wahlgängen.
2017 wird Emmanuel Macron mit den Stimmen der linken Parteien gewählt. Am Abend seines Sieges verspricht er, alles zu tun, um den Rassemblement National (RN, vormals Front National) zurückzudrängen. 2022: Erneut tut der sogenannte »republikanische Damm« seinen Dienst und Macron wird wieder gewählt. Der Abstand verringert sich jedoch nach fünf Jahren seiner brutalen neoliberalen Politik.
2024: Nach einer krachenden Niederlage bei der Europaparlamentswahl, bei der seine Partei weniger als 15% erreicht, kündigt Macron überraschend die Auflösung der Nationalversammlung an und setzt die Wahlkampfzeit auf 21 Tage fest, das verfassungsrechtlich zulässige Minimum. Das Kalkül: Die linken Parteien sind so zerrissen und haben sich während des Wahlkampfs so hart bekämpft, dass sie sich nicht innerhalb von fünf Tagen (der Frist für die Einreichung der Listen) vereinen können. Die französische Parlamentswahl hat zwei Wahlgänge. Das Wichtigste sei, zumindest Zweiter zu sein, um sich für den zweiten Wahlgang zu qualifizieren, und wer im zweiten Wahlgang gegen Le Pens Partei antritt, gewinne zwangsläufig, da es immer noch 60% der Menschen gibt, die nicht für den RN stimmen. Etwa so rechnete Macron...
Die Volksfront: zwischen Wunder und Lebensnotwendigkeit
Die Linksparteien brachten diesen mittlerweile gut geölten Zug jedoch zum Entgleisen, indem sie in Rekordzeit ein Wahlbündnis gründeten – die Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire, NFP) und sich auf ein Programm und die Verteilung der Wahlkreise einigten. Zur NFP gehören Mélenchons La France Insoumise, die Parti Socialiste, Les Écologistes und die Parti Communiste Français.
Alle linken Parteien und Massenorganisationen sahen die Gefahr eines Sieges des RN. Die Rentenreform, von Macron ohne Abstimmung im Parlament durchgesetzt, obwohl 70 bis 80% der Bevölkerung dagegen waren, hatte ihre Spuren hinterlassen und alle fürchteten, dass der republikanische Damm nicht halten würde.
Rasch entwickelt sich eine Dynamik. Innerhalb weniger Tage steigt die Neue Volksfront in den Umfragen von 23% auf 28%. Aber auf der anderen Seite entwickelt sich auch eine Dynamik für den RN, dem sich ein Teil der Konservativen anschließt. Das erste Schlachtfeld der Wahl sind also die Nichtwählenden. Schon im ersten Wahlgang hatten sich viele mobilisiert, aber das scheint genauso für die Volksfront wie für den RN gegolten zu haben.
Nationale Front gegen Volksfront ... oder nicht?
Das zweite und nunmehr wichtigste Schlachtfeld tauchte auf: die Übertragung der Stimmen der Mitte und der Konservativen in den zweiten Wahlgang. Zwar hielt die Volksfront den Schock im ersten Wahlgang aus und erreichte 28%, der RN 33%. Gäbe es ein Verhältniswahlrecht wie in Österreich, hätten wir erleichtert aufgeatmet.
Bei einer Mehrheitswahl spielt es aber für den Sieg keine Rolle, ob man in einem Wahlkreis 51% oder 80% der Stimmen hat. Besser ist es, ein landesweit gut verteiltes Ergebnis zu erzielen. In dieser Hinsicht hatte der RN einen Vorsprung. Der hatte in 297 von 577 Wahlkreisen die Nase vorn (150 für die Volksfront).
Die größte Überraschung fand sich aber bei Macron, der weiterhin 21% der Wählerschaft angezogen hatte. Nach französischem Recht kann eine Partei, die mehr als 12,5 % der Stimmen erreicht, in den zweiten Wahlgang einziehen. Dank der hohen Wahlbeteiligung ist das in 268 Wahlkreisen möglich. Die drittplatzierten Kandidaten und Kandidatinnen sind jedoch nicht verpflichtet, im zweiten Wahlgang anzutreten.
Von der Volksfront zur republikanischen Front
Die verschiedenen Volksfrontparteien kündigten sofort an, dass sie in 130 Wahlkreisen, wo sie auf Platz 3 gelandet waren, ihre Kandidaten und Kandidatinnen zurückziehen und dazu aufrufen würden, für Macron oder konservative Kandidaten zu stimmen.
Nach einigen Stunden des Zögerns entschied Macron, dass seine Kandidaten zugunsten der neuen Volksfront zurücktreten würden, wenn sie hinter ihr landen – außer für die Kandidierenden der linkspopulistischen France Insoumise (FI), die von Macron wochenlang wegen ihrer Unterstützung des palästinensischen Volks als »antisemitisch « dämonisiert und »außerhalb des republikanischen Bogens« gestellt wurde. In den 49 Wahlkreisen, in denen die FI vor Macron lag, sollte von Fall zu Fall entschieden werden, ob diese »mit den republikanischen Werten des Parlamentarismus, Universalismus und Antisemitismus vereinbar« seien.
Dies führte zu einer generellen Empörung. Nach ein paar Stunden machte Macron einen Rückzieher und zog seine Kandidaten auch zugunsten der FI zurück. War der Schaden aber nicht bereits angerichtet? Würden die Wähler der neuen Wahlanweisung folgen, nachdem sie wochenlang gehört hatten, dass der RN und die FI Jacke wie Hose seien? Am Abend des ersten Wahlgangs war eine absolute Mehrheit für den RN (289) nach wie vor möglich. Erste Hochrechnungen gingen von 260 bis 310 Abgeordneten aus. Die Konservativen schienen bereit, sich ihnen anzuschließen. Sie weigerten sich, sich zurückzuziehen oder aufzurufen, für die Volksfront oder für Macrons Partei gegenüber dem RN zu stimmen. Der EU-Abgeordnete François- Xavier Bellamy meinte sogar: »Die Gefahr, die unser Land heute bedroht, ist die extreme Linke.«
Auf dem Weg zu einer Volksfrontregierung?
Diese »republikanische Front« gegen den RN war jedoch sehr effizient. Der RN gewann nur in 42 Wahlkreisen und verlor in 173. Mit 143 Abgeordneten war er weit von der Mehrheit entfernt. Selbst mit den 66 konservativen Abgeordnete reichte das nicht aus.
Dank der Dynamik des ersten Wahlgangs wurde die Volksfront unerwartet stärkste Kraft mit 182 Sitzen. Aber noch überraschender war das Ergebnis für Macron; mit seinen 168 Abgeordneten ist er der Volksfront dicht auf den Fersen und liegt vor dem RN. Dank des linken Bündnisses hatte Macron es nicht geschafft, sich noch einmal als einzige Alternative zum RN zu etablieren, aber sein Poker hat sich dennoch ausgezahlt.
Mit drei praktisch gleich großen Blöcken ist die Nationalversammlung gespalten wie nie zuvor. Es ist schwer zu erkennen, welche Mehrheit möglich ist. Mehrere Macron nahestehende Minister haben zwar den 67 sozialdemokratischen und 35 grünen Abgeordneten ein Bündnis angeboten. Mit 270 Abgeordneten würde man sich dann einer absoluten Mehrheit nähern. Im Moment weigern sich jedoch die Sozialdemokraten, die Verantwortung für eine Spaltung der Volksfront zu übernehmen.
Die verschiedenen linken Parteien lehnen die Idee einer großen Koalition mit Macron noch ab. Sie fordern von ihm, den Premierminister zu ernennen, den sie vorschlagen würden. Eine linke Minderheitsregierung könnte per Dekret schon viel erreichen. Sie könnte den Mindestlohn, die Pensionen und die Gehälter der Beamten erhöhen. Für den Rest des Programms wäre sie gezwungen, eine Abstimmung durch das Parlament zu erwirken. Eine Minderheitsregierung darf jedoch auch ein Gesetz ohne Abstimmung erlassen, wenn die Opposition sich nicht auf einen gemeinsamen Misstrauensantrag einigt. Dieses Vorgehen hatte Macron sehr oft angewendet, z. B. um seine Rentenreform durchzubringen. Macron und die Konservativen würden dann vor der Wahl stehen, entweder die linken Reformen zu akzeptieren oder gemeinsam mit der RN einen Misstrauensantrag zu stellen. Die Linke hofft immer noch, Macron in seiner eigenen Falle zu fangen.
»Et maintenant, cʼest la merde«: Hoffnung, Ohnmacht und Spaltungstendenzen
Wie lange kann sich eine Regierung halten, wenn Macron beschließt, einen Premierminister aus der Volksfront zu ernennen, wozu er allerdings nicht verpflichtet ist? Er könnte nämlich auch einen technischen Premierminister oder einen Premierminister aus seinem eigenen Lager ernennen.
Der Vorschlag der Volksfront für den Premierminister ist zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes noch nicht bekannt. Die Parteien hatten sich vor der Wahl auf eine Regel geeinigt: Die größte Fraktion schlägt einen Premierminister aus ihren Reihen vor.
Die Sozialdemokraten hatten auf einen Sieg gehofft. Mit 65 Abgeordneten bleiben sie hinter der Partei FI, die zwischen 69 und 75 Abgeordneten haben dürfte, je nachdem, ob sie die Abgeordneten wieder aufnimmt, die ausgeschlossen wurden, weil sie zu kritisch gegenüber der Person Jean-Luc Mélenchon und dem Mangel an Demokratie in der Bewegung waren.
Die Bilanz für die sogenannte »Aufbruchslinke« (der Teil der Linksparteien, die einen Bruch mit dem gegenwärtigen Kapitalismus oder dem Kapitalismus überhaupt will) fällt halbherzig aus. Zwar bleibt die FI die größte Fraktion, aber die Aufbruchslinke verliert die absolute Mehrheit innerhalb der Linken. Den 101 Sozialdemokraten und Grünen (die sogenannte »sozial flankierende Linke «) stehen nun nur 86 Abgeordnete der Aufbruchslinken gegenüber: 65 bis 75 aus der FI und 11 bis 21 Kommunisten oder verwandte Parteien aus den Übersee-Départements und Territorien.
Die zwei schwer vereinbaren Pole bleiben und keiner davon ist wirklich dominant, was zu großen Kompromissen zwingt, die daran hindern, eine offensive Linie zu vertreten, die eine vollständige Alternative zum liberalen Kapitalismus Macrons und zum liberalen Kapitalismus ethnischer Fassung des RN bieten könnte.
Dank der Volksfront hat das Volk der Linken eine letzte Chance gegeben, doch die RN lauert weiterhin auf seine Chance. Zwischen 2022 und 2024 hat er seine Stimmen und Sitze verdoppelt. Er scheitert nur, weil sich alle gegen ihn verbünden. Seit Sonntag prangert er die »Einheitspartei« an, von der Linken bis zu Macron.
Die Volksfront kann sich nicht mit Macron kompromittieren, ohne dieses Narrativ zu befeuern. Sie ist »zum Erfolg verdammt«, wie Sophie Binet, die Generalsekretärin der CGT es ausdrückt. Das wird ihr nicht durch eine große Koalition mit Macron gelingen. Eine Minderheitsregierung könnte der arbeitenden Klasse Zeit zum Atmen lassen, aber sie kann innerhalb weniger Wochen fallen, da es keine Mehrheit im Parlament gibt. Nur durch eine »außerparlamentarische Massenbewegung «, wie sie die historische Volksfront praktiziert hatte, kann eine Mehrheit zustande kommen. 1936 war das Programm der damaligen Volksfront sehr eingeschränkt. Der Druck der Massen und große Streiks hatten jedoch zahlreiche Fortschritte ermöglicht, die nicht im Programm vorgesehen waren.
Die Mehrheit liegt außerhalb des Parlaments
In diesem Sinne ruft die KPF nun »die lebendigen Kräfte der Nation, die Gewerkschaftsorganisationen und die Vereinsbewegung, die Akteure der Kultur- und Kreativwelt, die Jugend auf, überall im Land zu handeln, um diese Hoffnung aufzubauen «. Es sei »die einzige Dynamik, die in der Lage ist, die extreme Rechte dauerhaft zurückzudrängen und einen Weg in die Zukunft für Frankreich zu öffnen«.
In »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte « prangerten Marx und Engels die Tendenz der französischen Linken zum »parlamentarischen Kretinismus« an. Die Volksfront muss nun diese Krankheit der französischen Linken vermeiden und die 400 überparteilichen Organisationen, die die Volksfront mitbegründeten, nicht vergessen. Sie ist tatsächlich »zum Erfolg verdammt«.
Hinweis: Kevin Guillas-Cavan (KPF) spricht und diskutiert am Samstag, 31. August, 18 Uhr, im Diskussionszelt am Volksstimmefest zum Thema »Frankreich nach den Wahlen«.