In Lesekreisen versammeln sich Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen, Vorkenntnissen und Sozialisierungen, um gemeinsam Texte zu lesen und zu diskutieren. Das ist manchmal zwar ganz schön anstrengend, bringt aber meistens einen deutlichen »Mehrwert« gegenüber der vereinzelten Lektüre im stillen Kämmerlein.
Im Zeitalter allgegenwärtiger Digitalisierung über »richtige« Bücher zu sprechen, erscheint fortschrittsoptimistischen Linken möglicherweise als romantisch, also verzichtbar. Und dann erst »Lesekreis« – alleine schon das Wort riecht nach dem Muff männlich dominierter Post-68er-Mühseligkeiten. »Wir studiern, wir studiern, es vertrocknet unser Hirn«, sang die frühe EAV, damals noch so etwas wie die Band des Grazer KSV, in schlechtester intellektuellen feindlicher Manier. Warum also 2022 über Lesekreise schreiben?
Der folgende Text von Martin Birkner versucht eine Antwort in fünf Thesen, gefolgt von einer kleinen Handreichung für die Praxis.
Lesekreis macht sichtbar
Durch die multiperspektivische Sicht auf den Text – es gibt kaum zwei identische Lektüren bzw. Interpretationen – entstehen diskursive Räume. Die Bereitschaft zum produktiven Austausch vorausgesetzt entstehen in diesen Räumen Sichtweisen auf Aspekte des Texts, die vorher für die Teilnehmer:innen nicht erkennbar waren. Damit verbundene Diskussionen gehen freilich nicht immer reibungslos vor sich, manchmal wird auch gestritten, mitunter kommt man auch nach längerer Diskussion auf keinen »grünen Zweig«. Aber selbst – oder vielleicht gerade – in diesen Momenten zeigt sich, dass es keinen sich selbsterklärenden Text gibt, dass es um seine Interpretation geht. Und kollektive Interpretation ist komplexer, multidimensionaler und erkenntnisreicher. Mit Marx gesprochen könnte man sagen, der »General Intellect«, also das implizite Wissen der »gesellschaftlichen Gesamtarbeiterin« erscheint im Rahmen kollektiver intellektueller Anstrengung.
Lesekreis macht dicke Bücher bewältigbar
Im Groben gibt es zwei Arten von Lesekreisen: Entweder man liest mehrere eher kürzere Texte zu einem bestimmten Themenkomplex, oder aber es geht um die gemeinsame Lektüre komplexer, meist umfangreicher Bücher. Letzteres kann dabei helfen, Bücher durchzuackern, die man alleine sonst nicht lesen würde. Gerade bei vielschichtigen Argumentationssträngen verliert der bzw. die Einzelne oft das große Ganze aus den Augen, viele Augen können hier jedoch Abhilfe schaffen. Wichtig erscheint mir dabei eine gute Dokumentation des Diskussions- und Leseprozesses, damit auch Teilnehmer:innen, die einmal nicht anwesend waren, gut wieder einsteigen können. Dabei entstehende Protokolle sind auch für andere Leser:innen desselben Textes, die nicht beim Lesekreis dabei waren, eine große Hilfe.
Lesekreis macht Haltung
Die kollektive Interpretation verändert die Welt. Dies mag der elften Marxschen Feuerbachthese widersprechen, dies ist jedoch ein notwendiger Widerspruch. Politische und soziale Praxen sind nie völlig abgetrennt von der Interpretation der Welt zu betrachten, letztere sind vielmehr sowohl Teil als auch Voraussetzung eines politisch nicht im luftleeren Raum agierenden politischen Handelns. Es macht natürlich einen Unterschied, ob eher abstrakt-theoretische oder konkret politische Texte gelesen werden, aber dieser Unterschied tritt zumal bei linken Lesekreisen für gewöhnlich immer hinter die Verknüpfung von Erkenntnis und Interesse zurück. Wir lesen ja gemeinsam Texte, um – wie vermittelt auch immer – eine den realen Gegebenheiten adäquatere politische und soziale Praxis entwickeln zu können. Und so kann auch die gewonnene Erkenntnis, dass es eben »nicht so geht«, wie es der gelesene Text nahelegt, eine wichtige Erkenntnis darstellen.
Lesekreis macht sozial
Manchmal bilden sich Untergruppen, die gemeinsam geteilte Sichtweisen gegenüber anderen vertreten, manchmal gibt es so viele Perspektiven und Meinungen wie Teilnehmer:innen, manchmal sind auch alle einer Meinung. Diese kann sich auf positive, aber auch in negativer Weise auf das Gelesene beziehen. Manche Lesekreise scheitern konstruktiv, da alle oder fast alle Teilnehmenden zur Überzeugung gelangen, dass es nicht wert ist, den Text weiter zu verfolgen – oder aber, dass die Differenzen in Interpretation und Diskussion zu groß sind, um noch konstruktiv weiterzulesen. Es gibt aber auch – und zum Glück auch mehrheitlich – positiv sozialisierende Momente. Man trifft sich über größere Zeiträume hinweg, lernt sich besser kennen: So mancher politische Zusammenhang hat sich ganz oder teilweise aus Lesekreisen heraus entwickelt, weil die Teilnehmer: innen Vertrauen zueinander gefasst haben, sich ihre Kompetenzen und Affekte gut ergänzten.
Lesekreis macht Spass
Last but not least macht ein guter Lesekreis Freude, Freude auf das Wiedersehen mit den Mit-Lesenden, Freude auf gute Inputs und spannende Diskussionen, Freude auf ein Bierchen danach, Freude auf das gemeinsame Planen des nächsten zu lesenden Buches, Freude an der Tatsache, dass männliche Dominanzen – und ja, diese gibt es auch und vielleicht gerade in Lesekreisen – ein Stückchen zurückgedrängt werden konnten, Freude, sich zum Beispiel das Marxsche Kapital in seinen unzähligen Dimensionen, Schichten und Geschichten gemeinsam erschlossen zu haben. In diesem Sinne: Schafft 2, 3, viele Lesekreise!
Dos und Don’ts
✖Der richtige Text
Er kann ruhig schwierig und komplex sein, aber er soll Räume für Befragungen öffnen, »gut diskutierbar sein«. Es gibt Texte, die in ihrer Hermetik nur wenig Spielräume für konstruktive Diskussionen öffnen. Manchmal sind es gar nicht die argumentativ »besten« Texte, die auch am besten zu lesen und zu diskutieren sind.
✖Die richtige Größe
Sehr kleine Lesekreise können zwar ungemein produktiv sein, oft aber schon beim Ausfall weniger Teilnehmer:innen zusammenbrechen; sehr große Lesekreise befördern wiederum Hierarchisierungen in den Diskussionen (ev. Moderation andenken!), sie erschweren es tendenziell auch zurückhaltenden Teilnehmer:innen mitzudiskutieren. Eine gute Größe ist in etwa 7, 8 Personen. Auch bei den Textabschnitten auf die richtige Größe und Zeitbeschränkungen achten – erfahrungsgemäß nimmt man sich eher zu viel vor.
✖Angenehme Atmosphäre
Eine ruhige Umgebung, ansprechendes Ambiente, kulinarische Genüsse, ev. Pausen einplanen und genügend Zeit für soziale Interaktionen lassen. Dazu gehört auch die gegenseitige Rücksichtnahme, indem z.B. lange Monologe vermieden werden. Produktiv ist Runden einzubauen, bei denen alle zu Wort kommen.
✖Gute Vorbereitung
Eine gute Debatte braucht gute Vorbereitung. Möglichst alle sollen die jeweiligen Textstellen gelesen haben, ein konziser, auch auf Leerstellen und Widersprüche hinweisender Input zu Beginn ist hilfreich.
✖Dokumentation
Sie hilft nicht nur jenen, die einmal fehlen, sondern auch beim abschließenden Fazit. Bei längeren Texten sind ansonsten frühere Leseeinheiten gerne schon in Vergessenheit geraten.
✖Aufhören können
Ein Lesekreis, der zur Pflichtübung verkommt, ist ein schlechter Lesekreis. Dann lieber einen Spritzer trinken und plaudern. Vielleicht taucht dabei ja ein neues Buch am Horizont auf.
Martin Birkner arbeitet im Mandelbaum Verlag. Er liest andauernd, seit über 20 Jahren gerne auch in Lesekreisen. Er ist noch unsicher, ob er Graeber/Wengrows Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit oder Jane Bennetts Lebhafte Materie. Eine politische Ökonomie der Dinge als nächstes vorschlagen soll. Sein Lieblingslesekreis war jener zu Paolo Virnos Grammatik der Multitude im Rahmen der Zeitschrift Grundrisse im Jahr 2005.