Was bedeutet Bildung heute? Eine Polemik von Stefan Vater
Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache und die Spra-che wiederum ist untrennbar mit der sozialen Praxis verbunden, schrieb Ludwig Wittgenstein Mitte des 20. Jahrhunderts in seinen Philosophischen Untersuchungen. Mit Antonio Gramsci lässt sich ergänzen: Die soziale Praxis und ihre Diskurse sind bestimmt von hegemonialen Vorstellungen und den materiellen Verhältnissen.
Wie wird über Bildung gesprochen? Es geht heutzutage in hegemonialen öffent lichen Diskursen – der EU, der Mainstreammedien aber auch andernorts – um Verwertbarkeit der Bildung und Employability, für die klarerweise jede und jeder verantwortlich ist, egal ob es Arbeitsplätze gibt oder nicht. Es geht um effektive Organisation der Bildungsinstitutionen, um die Qualität von Bildung, die in unzähligen kostspieligen Qualitätssicherungsverfahren gewährleistet werden soll. Zumindest verdienen die diese verkaufenden Consulting Institute gut damit. Qualitätssicherungssysteme, die die Kund*innennähe, das gelungene Lernen, die Effektivität sichern, aber meist ohne jeglichen Inhalt auskommen.
Zentral ist die Brauchbarkeit von Bildung angesichts der Bedürfnisse der Wirtschaft oder drohender Krisen. Es geht um den Output der Bildung, um Abschlüsse, Prüfungen, Klausuren, Ergebnisse, Punkte, ETCS ... Bestätigt wurde diese Aussage von einem ehemaligen Bildungsminister, der treffend festhielt: Auch in der Zeit von Corona sei das Wesentliche der Bildung, der Abschluss, die Prüfung nicht gefährdet. Nennen wir es Ignoranz und Ideologie.
Real errichtet die Ausbreitung der Outputorientierung, von quantifizierenden Mess- und Legitimationssettings, eine neue, kalkulierende und prüfende Kultur des Abrechnens. Oder radikalisiert diese. Und warum? Die Antwort ist erschreckend simpel: um die Vermessenen in kapitalistische Konkurrenz zu setzen und den erlösenden Wettbewerb freizusetzen. Und auch darum, den Einfluss der Konkurrenz und des kapitalistischen Egoismus auf alles auszudehnen. Der Markt soll alles durchströmen. Mit seiner erfrischenden Zerstörungskraft kann nur er für Profit und Ungleichheit sorgen.
Die Wirtschaft braucht Kompetenzen, die für den Markt verwertbar sind, die für Resilienz bürgen. Die Gebildeten sollen ihre Kompetenz ja nicht nur haben, sondern auch billig und willig einsetzen. Ziel ist die Nutzbarmachung von Humankapital, die billige Arbeitskraft, die disponible und mobile Arbeitskraft. Und es geht um Empowerment, die Armen und Bedürftigen sol-len sich doch endlich mal empowern und nicht den Leistungswilligen länger auf der Tasche liegen. Empowerment zur Employability!
Aktuell reduziert sich – besonders unter Covid Bedingungen – die Idee der Bildung und die Praxis des Lernens auf Defizitbehebung, oder auf eine Vorstellung der schlichten Abfüllung von Inhalten in leere oder halbleere Köpfe. Ein Abfüllen ohne Bezug zu den Problemen der Menschen oder zu demokratischer Praxis. Noch dazu sind Teile der Bildungspolitik – wie die Erwachsenenbildung - intensiv mit harter, rechter Migrationspolitik verschränkt, wo Bildung nicht dem Wissenserwerb dient, sondern der Ausgrenzung und Abgrenzung.
Wir leben in einer Zeit ohne Reflexion über Machtverhältnisse, in einer Zeit der Individualisierung und des »Wir schaffen das!«.
Das ist Neoliberalismus! – Mikropolitiken des Neoliberalismus
Es geht in diskursiven Mikropolitiken des Neoliberalismus um die Deutungshoheit des Alltags, um die Formierung einer neuen Subjektivität, eines neuen Bezuges zur Welt und zu den Anderen – die Stichworte sind: Konkurrenz, Individualität, Eigenverantwortung, Kompetenz und Willigkeit, diese einzusetzen. Dazu Judith Butler: »Die neo liberale Vernunft fordert Autarkie als moralisches Ideal, während gleichzeitig neoliberale Machtformen genau diese Möglichkeit auf der ökonomischen Ebene zunichtemachen, indem sie jedes Mitglied der Bevölkerung zum potenziell oder tatsächlich Gefährdeten machen und die allgegenwärtige Bedrohung der Prekarität sogar zur Rechtfertigung der verstärkten Regulierung des öffentlichen Raumes und der Marktexpansion nutzen.« Jede soll »zum Unternehmer seiner/ihrer selbst werden – unter Bedingungen, die diese dubiose Berufung unmöglich machen«1. Scheitern und Angst sind Grundelemente des Neoliberalismus ebenso wie Entbürokratisierung und Mitarbeiter*innen-Animation. Die Strategien dazu – ich verstehe Strategien hier mit Foucault – wie lebenslanges Lernen, Validierung, New Public Management, Output-orientierung, Qualitätssicherung und Professionalisierung formen in ihrer Gesamtheit das, was ich in diesem Beitrag als Neoliberalismus bezeichne. Moderne Bildungsdiskurse spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Ist das alles?
Aber das Arbeiten in Bildungszusammenhängen ist von einer Art Schizophrenie gekennzeichnet oder – um wieder Gramsci zu bemühen – von einem Pessimismus der Analyse und einem unbeugsamen Optimismus der Praxis. Weil es sie gibt, ist die gegenhegemoniale Bildung als Wunsch, als Erfahrung und auch als Praxis historisch und aktuell. Die folgenden Zeilen sprechen aus der Perspektive des Erwachsenenbildners: Alternative, heterotope Bildungspraxen, Gegenpositionen, Nischen und Konzepte gibt es viele. Erwähnt werden können Initiativen kritischer Bildung, Migrant*innenvereine oder Frauenbildungsvereine. Theoretisch kann von gegenhegemonialen Bewegungen oder von epistemischem Ungehorsam dieser Bewegungen gesprochen werden, um diese Praxen zu benennen, von Standpunktbezug oder situiertem Wissen. In diesen Bewegungen und Theorieansätzen zeigt sich eine Wissensproduktion und Praxis, die Voraussetzungen für die Dekolonisierung von Bildung darstellen. Es gibt kein Wissen für alle, auch wenn Bildung für alle natürlich ein Anspruch bleibt. Handlungsermächtigung, Orientierung an den Interessen der Teilnehmer*innen, Partizipation und Mitbestimmung stehen im Zentrum dieser Bildungspraxen, gegen die hegemonialen Diskurse, gegen das Alltagsverständnis von Bildung.
»Wir sehen uns mit einer klaren Wahl konfrontiert: Bildung zur Befreiung oder Erziehung zur Herrschaft«. (bell hooks)
Es geht in der Bildungspraxis um eine Widerständigkeit des Handelns in hegemonialen Strukturen. bell hooks beschrieb Widerständigkeit als »Queerness«, als ein »in der Welt mit anderen Sein«, das ständig im kon-struktiven Widerspruch zu allem anderen steht. Im Widerspruch nicht ausschließlich durch eigene Wahl oder Haltung, sondern auch schlicht durch den eigenen Standpunkt, die Klassenposition, die Hautfarbe sowie das Geschlecht. bell hooks schreibt in Where We Stand: Class Matters (2000) über die Lebens-Bedingungen einer schwarzen Arbeiterklasse, über den Mangel an Wohnraum und Geld, über versteckte Kosten des Bildungssystems und über die Widersprüchlichkeiten, die Bildungsaufsteiger*innen zu ertragen haben, als Fremdkörper und Außen im vermeintlich neutralen System der Bildung. Ein Bildungssystem, für das Weiß-Sein, Mittelschicht-Werte und Mittelschicht-Kultur – neben anderen Charakteristika – unhinterfragte, unsichtbare Normalität darstellen.
»I will not have my life narrowed down. I will not bow down to somebody else’s whim or to someone else’s ignorance.« (bell hooks und Maya Angelou im Gespräch 1998)
Stefan Vater ist Erwachsenenbildner und lebt in Wien
1 Vgl. Butler, Judith (2016). Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt: Suhrkamp, S. 24ff.