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Jüngster Präsident: die Hoffnung gewinnt

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Dank feministischer Unterstützung, höherer Wahlbeteiligung trotz widriger Umstände und aus Angst vor einem rechtsextremen Kandidaten tritt Gabriel Boric am 11. März 2022 als neugewählter Präsident Chiles an. Der 35-Jährige steht für die Generation, die das Erbe des einstigen Diktators Augusto Pinochet beseitigen, das neoliberale System beenden und den derzeit stattfindenden, verfassungsgebenden Prozess vorantreiben möchte.

 

Von Hannah Katalin Grimmer

»No pasarán« (Sie werden nicht durchkommen) – dieser berühmte Ausruf wurde in Chile im Zuge der Präsidentschaftswahlen 2021 wieder zum Leben erweckt, insbesondere durch Feminist* innen. Im Jahr 1936, zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs, rief die kommunistische Abgeordnete Dolores Ibárruri damit zur Verteidigung der Republik und zur Mobilisierung gegen die faschistischen Truppen unter General Francisco Franco auf.

In Chile war der Auslöser, dass José Antonio Kast von der selbstgegründeten Partido Republicano de Chile (Republikanische Partei Chiles) mit 27,91 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis im ersten Wahlgang am 21. November 2021 erzielt hatte. Die Sorge war groß, dass der rechtsextreme Kandidat der nächste Präsident des Landes werden könnte. Mit 25,83 Prozent folgte an zweiter Stelle Gabriel Boric, der für das Parteienbündnis Apruebo Dignidad (Ich stimme für die Würde) antrat.

Dieses Ergebnis war in Anbetracht der Meinungsumfragen, die Boric zumeist vorne gesehen hatten, erstaunlich und für jene, die sich Veränderungen für das Land wünschten, ein Schock. Seit dem Ende der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet im Jahr 1990 war es die erste Wahl, bei der weder das Mitte-Links-Bündnis Concertación de Partidos por la Democracia (Pakt der Parteien für die Demokratie, später Nueva Mayoría) noch das Mitte-Rechts-Bündnis Alianza Por Chile (Allianz für Chile, heute Chile Vamos) dominierte. Auch aus diesem Grund wurde die Wahl als richtungsweisend bezeichnet.

 

Befreiung vom Erbe der Diktatur

Kast, der ultrarechte Kandidat, trat zur Verteidigung der Diktatur, die er als Militärregierung bezeichnete, und des neoliberalen Wirtschaftssystems an. Boric hingegen repräsentiert eine neue politische Generation, die gegen eben dieses System ankämpft. Es ist die Generation, die seit der Schüler*innenbewegung im Jahr 2006, der so genannten »Revolución pingüina« (Revolution der Pinguine), sowie der Studierendenbewegung des Jahres 2011 den öffentlichen Raum und den politischen Diskurs verändern. Sie wollen die Transition zu einem Ende bringen und das Land vom Erbe der Diktatur befreien. Über raschenderweise ging Boric aus der Stichwahl am 19. Dezember 2021 als Sieger hervor. Mit 35 Jahren ist er der bislang jüngste gewählte Präsident des südamerikanischen Landes.

Die Wahl wurde außerdem als maßgebend bezeichnet, weil sie vor dem Hintergrund eines sozialen Aufstands stattfand. Im Oktober 2019 wurde das gesamte Land von einer sozialen Bewegung erfasst, die nicht einmal die Pandemie hat beenden können. Als Konsequenz daraus fand im Oktober 2020 ein nationales Referendum statt, in dem sich die Mehrheit der Teilnehmenden für die Konstituierung einer verfassungsgebenden Versammlung aussprach. Es ist das erste Mal, dass eine Verfassung in Parität und unter Beteiligung der indigenen Bevölkerung erarbeitet wird.

Kast bemühte sich sehr, diesen Prozess zu diskreditieren. Mit Slogans wie »Trau dich« oder »Alles wird gut« vermittelte er, dass Chile durch den sozialen Aufstand in einen furchteinflößenden Ausnahmezustand gerutscht sei, den es zu beenden gelte. Die frühere Ordnung müsse wiederhergestellt werden. Dabei beschwor er alte Geister des Kalten Kriegs: Boric bezeichnete er als Kommunisten und ließ verlauten, wäre Pinochet noch am Leben, hätte dieser ihm seine Stimme gegeben. Seinem Vorbild Donald Trump nacheifernd, wollte er einen Graben zur Abwehr von Migrant*innen im Norden Chiles einrichten lassen, und ebenso wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro wetterte er gegen Abtreibungen, sexuelle Diversität und gleichgeschlechtliche Ehe. Erst im Dezember 2021 hatte das chilenische Parlament ein Gesetz zur Legalisierung dieser verabschiedet.

Mit einer Rhetorik der Angst schien Kast in diesem Land extremer Ungleichheit zunächst erfolgreich zu sein. Das Ergebnis des zweiten Wahlgangs war auch deshalb unerwartet. Ungewiss war zudem, wie der Tod von Lucía Hiriart, Witwe Pinochets, drei Tage vor der Stichwahl, Einfluss nehmen würde. Außerdem wies der erste Wahlgang auf ein konservatives bis rechtes Wahlergebnis hin, denn auch der drittplatzierte Franco Parisi mit 12,80 Prozent vom Partido de la Gente (Volkspartei) und der viertplatzierte Sebatián Sichel mit 12,78 Prozent von Chile Podemos Más (Chile, wir können mehr) waren Kandidaten des rechten Spektrums.

 

Die Ursachen des Wahlsiegs

Seit 2012 ist Wählen in Chile ein freiwilliger Akt und die Wahlbeteiligung niedrig. Während im ersten Wahlgang 47,34 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung dieses Recht nutzten, waren es bei der Stichwahl mit 55,64 Prozent deutlich mehr. Boric erhielt 55,86 Prozent der Stimmen, Kast nur noch 44,14. Damit gelang es Boric, die meisten Stimmen bei einer Präsidentschaftswahl seit 1990 auf sich zu vereinen. Dabei mussten am Wahltag noch Fahrgemeinschaften zu den Wahllokalen gebildet werden, da in der Hauptstadt zu wenig Busse eingesetzt worden waren und die Menschen bei über 30 Grad lange Wartezeiten zu überstehen hatten.

Ausschlaggebend für Borics eindeutigen Sieg mit 971.024 Stimmen mehr als Kast sind verschiedene Faktoren: Zum einen war die Angst vor dem rechtsextremen Präsidenten groß, mit bei dessen Wahl vieles auf dem Spiel gestanden wäre: So hatte er bereits angekündigt, die neue Verfassung verhindern zu wollen. Zum anderen hat Borics Versuch, seinen Wahlkampf stärker auf die so genannte politische Mitte auszurichten, ihm viele Stimmen eingebracht.

Daneben ist der unermüdliche Wahlkampf in den Regionen, insbesondere im Norden Chiles, zu nennen. Bei einem über 4.000 km langen Land, das stark zentralisiert ist, ist die Bedeutung des ländlichen Raums nicht zu unterschätzen. Im Norden hatte der drittplatzierte Parisi gewonnen und anschließend dazu aufgerufen, Kast zu wählen. Boric konnte jedoch kurzfristig Izkia Siches als Kampagnenleiterin für den zweiten Teil des Wahlkampfes gewinnen. Die 35-Jährige gehört ebenso wie Boric zu der Generation der Studierendenbewegung 2011 gegen den damals in seiner ersten Amtszeit befindlichen Sebastián Piñera.

Nach dem schlechten Ergebnis für Boric im ersten Wahlgang legte Siches ihren Job im Colegio Médico de Chile, der chileni schen Ärzt*innenkammer, nieder, deren erste Präsidentin sie war. Anders als Boric und sein enger Vertrauter Giorgio Jackson gehörte sie jedoch nicht zu den Köpfen der studentischen Bewegung und ihrem politischen Umfeld. Sie ist in Arica, der Grenzstadt mit Peru geboren, und war für den vierwöchigen Wahlkampf im Norden in einem Bus unterwegs, in dem sie ihre wenige Monate alte Tochter dabeihaben konnte. Der Stärke ihres sozialen Aktivismus und der jungen Frauen* hat Boric viel zu verdanken.

Wie die Zeitung La Tercera am 20. Dezember 2021 berichtete, gingen im zweiten Wahlgang deutlich mehr Frauen* unter 50 wählen und gaben Boric ihre Stimme. Dazu beigetragen haben könnte, dass Coordinadora 8M, das Kollektiv, das unter anderem die Protestmärsche zum feministischen Kampftag organisiert, zwischen den Wahlgängen explizit zur Wahl Borics aufrief. Sie organisierten eine offene Versammlung, zu der 700 Menschen in der Universidad de Santiago und noch einmal 1.000 digital zusammenkamen. Auf ihrer Webseite stellten sie Kampagnenmaterial zur Verfügung und in ihrer kostenlosen Zeitschrift La Primaria Feminista verglichen sie die Wahlprogramme. An der Versammlung beteiligt waren auch Las Tesis, das feministische Theaterkollektiv, das mit der Performance »Un Violador en Tu Camino« (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) während des sozialen Aufstands 2019 weltweit Berühmtheit erlangte.

Es verwundert also nicht, dass Boric sich in der Wahlnacht, in seiner ersten Rede als gewählter Präsident, explizit bei Frauen* bedankte, insbesondere bei Siches. Gleich zu Beginn seiner Rede ließ er verlauten, Frauen* könnten sich darauf verlassen, die Protagonist*innen der Regierung zu werden. Immer wieder betonte er Diversität als Grundlage für seine Regierung, mitunter deshalb eröffnete er seine Rede auch in Mapundungun, der Sprache der Mapuche.

 

Tod des Pinochetismus

Boric benannte außerdem eine Reihe moralischer Forderungen, die bereits seinen Wahlkampf begleitet hatte: Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparation und Nicht-Wiederholung. Damit gelang es ihm, eine Brücke zu verschiedenen Menschenrechtsorganisationen zu schlagen: Die Verletzungen und die Gefangenen des sozialen Aufstands setzte er so in Verbindung mit den Gefangenen und Ermordeten der Diktatur. Dabei betonte Boric, wessen Erbe er vertrete: Einerseits lud er seine Zuhörer*innen dazu ein, mit Freude über den fair errungenen Sieg nach Hause zu gehen, womit er Salvador Allendes erste Rede als gewählter Präsident 1970 zitierte. Andererseits bezog er sich auf Patricio Aylwin, den ersten Präsidenten nach der Rückkehr zur Demokratie 1990, der zur Einheit des Landes aufrief. Symbolisch für die Einheit ist es wohl, dass Boric zwei Tage nach seiner Wahl die verfassungsgebende Versammlung besuchte, wo Elisa Loncón, Präsidentin derselben, ihn mit offenen Armen empfing.

Nichtsdestoweniger ist Boric nicht der Wunschkandidat aller Linken, seine Vor stellungen von gesellschaftlicher Ver - änderung sind für viele nicht weit reichend genug. Besonders unbeliebt hatte er sich gemacht, als er während des sozialen Aufstands am 15. November 2019 den von der Regierung Piñeras getragenen »Acuerdo por la Paz Social y la Nueva Constitución« (Abkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung) mitunterzeichnete.

Zudem hat er sich Großes vorgenommen: Die Umstrukturierung des extrem neoliberalen Systems, insbesondere des Rentensystems AFP, ein kostenfreies Bildungssystem, eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Was er davon wird umsetzen können, bleibt abzuwarten, vor allem, weil er in beiden Kammern des Parlaments, Senat und Abgeordnetenkammer, über keine Mehrheit verfügt.

Dennoch war die Erleichterung am Wahlabend vielerorts sehr groß. Zehntausende strömten in Santiagos Straßen, um das Ergebnis und den zweifachen »Tod« des Pinochetismus in einer Woche gemeinsam zu feiern. »No pasarón«, sie sind nicht durchgekommen – so hat die Stichwahl gezeigt, nicht die Angst, sondern die Hoffnung hat in Chile erst einmal gewonnen.

 

Hannah Katalin Grimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel/documenta-Institut und befasst sich in ihrer Doktorarbeit mit dem Zusammenhang von Kunst und Erinnerungen in den sozialen Bewegungen Südamerikas.

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Gelesen 2394 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 03 Februar 2022 10:08
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