Gleichwertige Ungleichheit?
Eine Kritik am Intersektionalismus steht im Mittelpunkt der neuen Ausgabe von Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung.
Von Krista Springer
»Wir sind jedoch nicht überzeugt, dass eine sozialistische Revolution, die nicht auch eine feministische und antirassistische Revolution ist, unsere Befreiung garantieren wird. Wir stehen vor der Notwendigkeit, ein Verständnis von Klassenverhältnissen zu entwickeln, das die spezifische Klassenposition Schwarzer Frauen berücksichtigt.«
The Combahee River Collective Statement (1977)
Mit diesen Worten begründete das Schwarze feministische Combahee River Collective in den 1970er Jahren die Notwendigkeit intersektionaler Politik. Heute ist Intersektionalität aus dem akademischen wie politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Stand die Forderung des Combahee River Collective noch auf marxistischen Füßen, so stößt man im heutigen Mainstream hauptsächlich auf ein liberal geklärtes Verständnis. Intersektionalität ist damit bei weitem nicht die erste politische Intervention, die zum Opfer liberaler Vereinnahmung wurde.
Die in Frankfurt/M. erscheinende Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung erhebt die Kritik am Intersektionalismus zum Schwerpunkt ihrer aktuellen Ausgabe. Die Autor:innen inspizieren darin sorgfältig die Anfänge und Weiterentwicklungen der Intersektionalitätsdebatte. Herausragend sind jene Texte, die aus dieser Kritik heraus eine alternative Analyse von Rassismus und Geschlecht entwerfen. Auch wenn sich Intersektionalität schon seit geraumer Zeit mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert sieht, ist es der Verdienst der Z., die Mängel dieses theoretischen Konzepts in gesammelter Form auf Papier zu bringen. Die Stärke der Ausgabe liegt weniger in den Kritikpunkten selbst – Kenner:innen der Auseinandersetzung sind sich dem Gros der konzeptuellen Schwächen bewusst – als vielmehr in den Perspektiven, aus denen sie in die Debatte getragen werden sowie den marxistischen Gegenentwürfen, die einige Beiträge skizzieren.
Was ist Intersektionalität?
Im akademischen Diskurs etablierte sich der Intersektionalitätsbegriff durch die Arbeiten Kimberlé Crenshaws. Als Juristin kritisiert sie das US-Antidiskriminierungsrecht, Überschneidungen von Diskriminierungsachsen unbeachtet zu lassen und daher vielen Betroffenen keine juristische Absicherung bieten zu können. Sie argumentiert ihre Forderung anhand eines Präzedenzfalls bei General Motors, wo im Zuge einer Massenentlassung fast alle Schwarzen Arbeiterinnen des Unternehmens gekündigt wurden. General Motors wertete den Vorgang weder als rassistische noch als geschlechtsspezifische Diskriminierung, da weder Schwarze Männer noch weiße Frauen von der Kündigung betroffen waren. Crenshaw folgert, dass erst die Verknüpfung von Geschlecht und Rasse ausschlaggebend für die unrechtmäßigen Entlassungen gewesen war.
Historisch folgte aus diesem Verständnis von Ungleichheit schließlich ein Kanon theoretischer Beiträge, der sich in folgenden Kernpostulaten zusammenfassen lässt: Unterdrückungsformen sind nicht von einander zu trennen und lassen keine Priorisierung untereinander zu. Neben der individuellen – wie im juristischen Fall – sind auch die strukturelle, repräsentative und diskursive Ebene gleichermaßen in die Analyse miteinzubeziehen. Darin sind Identitäten heterogene, historisch gewordene und gruppenbasierte Gebilde. Intersektionalität ist schließlich aufgrund seiner aktivistischen Praxis eine Kritik von Macht und zugleich eine Quelle von Gegenmacht.
Fehlender Gesellschaftsbegriff
Die Autor:innen des Leitbeitrags (John Lütten, Christin Bernhold und Felix Eckert) vollziehen eine ausführliche Sezierung dieser theoretischen Grundlagen. Ihr Hauptkritikpunkt ist der fehlende Gesellschaftsbegriff. Im Laufe der Lektüre ergibt sich daraus der gesellschaftstheoretisch interessanteste Kritikpunkt: In diesem abwesenden Gesellschaftsbegriff gründe das praktische Unvermögen, erfahrungsbasierte Identitäten als den Subjekten gegenüberstehende verdinglichte Entitäten zu kritisieren. Der Intersektionalismus bestätige diese Entfremdung viel mehr.
Der zweite zentrale Kritikpunkt beschreibt, dass sich die Intersektionalität als Gegenkonzept zum Primat der Klasse versteht, dem Konzept selbst aber die klassenförmige Vergesellschaftung von Subjektiven als zentraler Mechanismus von Herrschaft und Ausbeutung fehlt. Klasse taucht nur noch als ökonomische Benachteiligung in Form von »Klassismus« auf; einem zahnlosen Antidiskriminierungsbegriff, dem letztlich Herrschaftskonformität inhärent ist. In den Worten der Autor:innen: »Im Intersektionalismus werden Ungleichheitsverhältnisse und ihre Überschneidung beschrieben, aber nicht erklärt; die Gesellschaftsanalyse erschöpft sich […] im Aufsummieren von Diskriminierungsverhältnissen. Der grundlegende Stellenwert von Ausbeutungsverhältnissen und Klasseninteressen sowie ihre Vermittlung in Politik und Kultur lässt sich auf diese Weise nicht thematisieren. […]. Der Intersektionalismus gibt daher keine Agenda für grundsätzlich gesellschaftskritische Analyse und Politik her.«
Intersektionalismus liefere somit eine Beschreibung statt eine Erklärung von Herrschaft. Auch wenn von Vertreter:innen der Strömung abgelehnt, resultiere das intersektionale Konzept letztlich in einem additiven Verständnis von Herrschaftsverhältnissen. Zusätzlich lade der fehlende Gesellschaftsbegriff dazu ein, keine strukturverändernde politische Strategie zu skizzieren. Hier ließe sich einwenden, dass Intersektionalität als Hilfsmittel für eine umfassende Gesellschaftsanalyse konzipiert ist, anstelle den Anspruch zu stellen, selbst Gesellschaftstheorie zu sein. Nichtsdestoweniger bleibt in der Vielfalt intersektionaler Beiträge häufig ungeklärt, welches Verständnis von Gesellschaft die Grundlage der Analyse bildet. Das Plädoyer für die Gleichrangigkeit von Ungleichheitsachsen, um eine angebliche politisch-normative Hierarchisierung des Marxismus zu vermeiden, mündet schließlich in einer prinzipiellen Ablehnung historisch-materialistischer Gesellschaftstheorie: Das Kind wurde sozusagen mit dem Bade ausgeschüttet. Übrig blieben Identitäts- und Diskriminierungsfragen, die die zugrundeliegenden Verhältnisse wenig bis gar nicht erklären können.
Offen bleibt jedoch, wie die Autor:innen das Verhältnis von politischer Erfahrung und Struktur bestimmen wollen, wenn Erfahrung als politischer Ausgangspunkt von Identität und Intersektionalität kritisiert wird. Ist Erfahrung denn etwa nicht konstitutiv für ein Verständnis von Gesellschaft? Sollten Linke das erlebbare Irritationsmoment mit der Gesellschaft, das einer Strukturkritik praktisch immer vorausgeht, nicht sogar fördern?
Geschlecht und Rassismus marxistisch verstehen
Für Marxist:innen sind zwei Beträge von besonderem Interesse. Gemeinsam ist ihnen die Kritik der kapitalistischen Produktion von Identität. Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo heben an Ende ihres Beitrags »Rassismus, Identität und Marxismus« glänzend hervor, wie uns Kategorien wie Weiß, Schwarz und Migrant:in und damit letztlich verdinglichte Identitäten als Normalität begegnen. Hinter diesen imaginierten Kollektiven verschwindet die ihrem Phantasma zugrundeliegende materiellen Struktur und damit letztlich die darin eingebetteten Subjekte als politisch Handelnde.
In eine ähnliche Richtung argumentiert der Text von Kim Lucht und Margareta Steinrücke »Was macht die Klasse mit dem Geschlecht?«. Während die These eines klassenförmigen Vergeschlechtlichungsprozesses – dem »Klassengeschlecht« – empirische Schwächen aufweist, ist die Kritik an den Konsequenzen einer Vervielfachung von Geschlechtsidentität als Konservierung traditioneller Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit sehr plausibel. Das genannte Defizit könnte der von Martha E. Gimenez beigetragene Artikel zur »kapitalistischen sozialen Reproduktion« auf theoretischer Eben ausgleichen. Der vielversprechende Absatz bleibt dann aber sehr knapp. Hier wäre eine genauere Ausführung spannend gewesen. Interessierten sei also geraten, das Buch von Gimenez zu lesen.
Die neue Z. ist ein Muss für Marxist:innen und all jene, die sich in die Intersektionalitätsdebatte aus einer kritischen Perspektive einlesen möchten. Zudem erfreut, dass die Ausgabe zahlreiche junge und weibliche Autor:innen zur Wort kommen lässt, die sich der kritischen Gesellschaftstheorie verschrieben haben. Obgleich die marxistische Kritik im deutschsprachigen Raum dazu neigt, sich abwehrend hinter Zitaten aus Marx-Engels-Werken zu verschanzen – auch die Z. blieb davor nicht gewahrt –, gelingt der Ausgabe ein hoffnungsvoller Ausblick auf die Erneuerung marxistischer Gesellschaftsanalyse.
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, »Kritik des Intersektionalismus«,
Nr. 126, Juni 2021, 10 Euro
www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de