Die sozialen Folgen der Corona-Krise und die Langzeitfolgen des Shut down seit Mitte März sind in Österreich zwar bekannt und abseh-, aber noch kaum berechenbar.
VON MICHAEL GRABER
Seit März ist jedenfalls die Zahl der Arbeitslosen auf annähernd 6000.000 gestiegen und die Zahl der für Kurzarbeit Gemeldeten übersteigt die Millionengrenze. Gleichzeitig ist die Zahl der sozialversicherten Beschäftigten um fast 200.000 gesunken. Damit ist etwa die Hälfte aller unselbstständig Beschäftigten unmittelbar von der Krise betroffen, was zunächst einmal sofortigen Einkommensverlust bedeutet. Die Unsicherheit, an die Arbeitsplätze zurückkehren zu können oder nach Auslaufen der Kurzarbeitszeit weiter beschäftigt zu werden, hat sich immens erhöht. Die Einkommensverluste sind in der Regel nicht aufholbar, und die Konkurrenz um die Arbeitsplätze wird sich dramatisch erhöhen.
Der Vergleich mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre drängt sich zwar auf, ist aber dank der erkämpften sozialen Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, wozu in Österreich die Arbeitslosenversicherung, die Notstandshilfe, die Mindestsicherung, die Pensionen, das Pflegegeld, Familienförderung und andere Transferleistungen gehören, nicht wirklich zutreffend. Man darf nicht vergessen, dass die 600.000 Arbeitslosen der 30er Jahre faktisch »ausgesteuert« waren, das heißt, dass sie über keinerlei Einkommen verfügten und unmittelbar der Armut ausgeliefert waren. Auch die sonstigen Lebensumstände sind nicht mit den heutigen vergleichbar. Trotzdem bedeuten die sozialen Folgen der Corona-Pandemie einen Einschnitt in die Lebensverhältnisse von Millionen Menschen, wie sie seit der Nachkriegszeit in Österreich bisher nicht erlebt wurden. Gleichzeitig unterstreicht der Kampf um den Erhalt und den Ausbau der Sozialleistungen nicht nur ihre stabilisierende individuelle, sondern auch ihre volkswirtschaftlich stabilisierenden Wirkungen in der Krise.
Die schwarz-blaue Pensionsreform von 2003 schlägt voll zu
Eine der Langzeitfolgen, die bisher kaum thematisiert wurde, betrifft die Pensionen. Jetzt zeigt sich, dass die schwarz-blaue Pensionsreform von 2003 sowohl für hunderttausende künftige PensionistInnen individuelle als auch volkswirtschaftlich verheerende Auswirkungen haben wird. Um das zu verstehen, muss man auf die Zeit vor 2003 zurückgehen. Ursprünglich wurden die Pensionen auf der Grundlage der Einkommen der letzten fünf Jahre, die meist auch die besten Einkommensjahre ware, berechnet. Pensionsreformen der 80er und 90er Jahre dehnten die Berechnungsgrundlage auf 15 Jahre aus, was bedeutete, dass auch weniger gute Einkommensjahre herangezogen wurden, aber immerhin noch immer die besten.
Die Pensionsreform von 2003 machte damit Schluss. Dies hat zur Folge, dass jedes Jahr, das mit Einkommensverlusten verbunden ist, also etwa die Zeit während des Bezugs von Arbeitslosengeld oder der Notstandshilfe, in der sich das Einkommen in der Regel fast halbiert, ebenfalls in die Pensionsbemessungsgrundlage einbezogen wird und dadurch diese beträchtlich verringert. Ebenso verlieren auf dieser Grundlage geringfügig oder Teilzeitbeschäftigte massiv an Pensionsansprüchen. Die Jahrgänge, die in den nächsten Jahren in Pension gehen werden, haben also nicht nur die aktuellen Einkommensverluste während der Krise zu tragen, sondern haben als Langzeitfolge auch beträchtliche Verluste ihrer künftigen Pensionen zu erwarten, die zur Zeit niemand ausgleicht.
Das hat auch beträchtliche volkswirtschaftliche Auswirkungen. Denn mit den sinkenden Einkommen und den geringeren Pensionen sinkt die Kaufkraft und die gesellschaftliche Nachfrage. Das Medianeinkommen aller unselbstständig Erwerbstätigen beträgt jährlich 21.402 Euro (2018).
Geht man davon aus, dass sowohl Kurzarbeit als auch Arbeitslosigkeit zumindest sechs Monate dauern, verlieren Arbeitslose knapp 5.000 Euro und Kurzarbeitende etwa 1.000 bis 2.000 Euro, was sich auf einige Dutzend Mrd. Euro summiert, trotz der Zuschüsse des Staates zur Finanzierung der Kurzarbeit von bisher zehn Mrd. Euro.
Leistungen der Gesundheitskasse in Gefahr
Gleichzeitig sinken die Krankenkassenbeiträge und verursachen große Löcher in der neuen Gesundheitskasse, von der Kanzler Kurz seinerzeit behauptet hatte, es würde eine »Patientenmilliarde« herausspringen. Nun summieren sich die Fusionskosten der Gebietskrankenkassen mit den Kosten der Krise, was die Gefahr heraufbeschwört, dass es als Langzeitfolge zu Selbstbehalten und/oder Leistungskürzungen kommt, nicht zuletzt, weil die Unternehmervertreter*innen zusammen mit den schwarzen Versichertenvertreter*innen in der Gesundheitskasse das Sagen haben.
Durch die verzugszinsenfreie Stundung der Beiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung fielen allen im März fast 900 Millionen Euro aus, wovon allein auf die Gesundheitskasse knapp 170 Millionen Euro entfielen. Dadurch finanzieren die Versicherungsgelder der Arbeiter und Angestellten die Krisenlasten der Unternehmer und es ist davon auszugehen, dass nur ein Teil der ausständigen Beträge tatsächlich zurückgezahlt wird. Funktionäre der Sozialversicherung meldeten deshalb bereits ein Defizit allein der Gesundheitskasse für dieses Jahr von mehreren hundert Millionen Euro an. Und in einer Aussendung heißt es, dass eine »langfristige Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Leistungen« nur durch eine »nachhaltige finanzielle Absicherung seitens des Bundes« gewährleistet werden könne. Doch davon ist seitens der Regierung bisher noch keine Rede.