Der prominente Politikwissenschaftler EMMERICH TÁLOS zeichnet in seinem Beitrag für die Volksstimme die Geschichte des Systems der österreichischen Krankenkassen nach. Und warum diese von Schwarzblau angegriffen werden. Im Sinne der Unternehmer und zu Lasten der Gesundheitsversorgung von uns allen.
Der Wahlkampf im letzten Jahr hat deutlich zu erkennen gegeben, dass der österreichische Sozialstaat nicht ungeschoren davon kommen wird, wenn Parteien wie die FPÖ und die Liste Sebastian Kurz/ ÖVP die Wahl gewinnen und die neue Regierung bilden werden. Die inhaltliche Nähe der beiden Parteien fand nicht zuletzt im Regierungsprogramm ihren Niederschlag. In Anlehnung an die erste Auflage von Schwarz-Blau unter Kanzler Schüssel heißt es grundsätzlich: »Jeder und jede Einzelne soll Verantwortung für ihr bzw. sein Leben übernehmen. Wir müssen der staatlichen Bevormundung ein Ende setzen.« Das neoliberale Credo von Eigenverantwortung, Vorsorge vor Fürsorge und vom schlanken Staat bildete die Grundlage für angepeilte Leistungskürzungen.
Neoliberales Credo von Eigen verantwortung und schlankem Staat
Im Fokus stehen dabei Leistungen wie beispielsweise die Mindestsicherung, die Arbeitslosenversicherung, arbeitsmarktpolitische Programme wie die Aktion 20.000 oder arbeitsrechtliche Änderungen. Ein Teil der Vorhaben der Regierung ist zur Zeit noch Absichtserklärung wie beispielsweise die Änderungen in der Arbeitslosenversicherung. Die Aussetzung der Aktion 20.000 und das vorzeitige Auslaufen des Beschäftigungsbonus zählten zu den ersten Maßnahmen. Beschlossen sind auch bereits Kürzungen der Familienbeihilfen für Kinder im EU-Ausland sowie die Anhebung der möglichen täglichen und wöchentlichen Höcharbeitszeit und der Kürzungen in der »Mindestsicherung Neu«. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, worauf der langjährige Diakonie-Direktor Chalupka hingewiesen hat: Von letzteren Kürzungen sind vor allem Kinder und zum großen Teil österreichische Familien betroffen. Die wiederholten Hinweise seitens der Regierung Kurz/Strache, dass die Änderungen im Wesentlichen nur ausländische Familien betreffen werden, dient m. E. nur der Legitimation von Kürzungen.
Augenmerk Sozialversicherung
Die Umbauvorstellungen der neuen Regierung beschränken sich nicht auf den Leistungsbereich. Auch die traditionellen institutionellen Strukturen sollen einer Veränderung unterzogen werden. Das Augenmerk liegt dabei im Besonderen auf der Sozialversicherung.
Bekannterweise wurde Ende der 1880er-Jahre die gesetzlich geregelte Sozialversicherung in Österreich mit vorerst zwei Trägern, der Unfall- und der Krankenversicherung eingeführt. Diese Einrichtungen erfassten nur Arbeiter und Angestellte. Der weitere Ausbau der Sozialversicherung im 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch deren institutionelle Erweiterung mit der Arbeitslosen- und Pensionsversicherung, insbesondere auch durch die Einbeziehung weiterer Beschäftigtengruppen (Beamte, Gewerblich Selbständige, Bauern, Freiberuflich Selbständige). Diese Entwicklung schlug sich in einer steigenden Zahl von Sozialversicherungsträgern nieder. Beim gegenwärtigen Stand sind es 21.
Mit dem Ziel »leistungsfähiger, moderner und bürgernäher Sozialversicherungseinrichtungen« sieht das Regierungsprogramm eine Verringerung dieser derzeit bestehenden Sozialversicherungsträger auf vier oder maximal fünf vor. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Reduktion ist die Fusion der traditionellen Gebietskrankenkassen. Eine institutionelle Veränderung ist auch für die Unfallversicherung vorgesehen. Der Plan der Regierung besteht darin, zur Entlastung der Unternehmer deren Beitrag zur Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt um 500 Millionen zu reduzieren. Sollten bis Jahresende entsprechende Schritte nicht realisiert werden, wird die AUVA als eigenständige Einrichtung aufgelöst.
Die Sozialversicherung soll »schlanker« werden
Es blieb nicht bei bloßen Ankündigungen. Am 22. Mai 2018 beschloss der Ministerrat die konkreten Eckpunkte einer derartigen Reduktion mit den im Wesentlichen bereits angekündigten Änderungen: Fusion der neun Gebietskrankenkassen zu einer »Österreichischen Gesundheitskasse«, die für die unselbständig Erwerbstätigen zuständig ist. Zusammengelegt werden die Sozialversicherungsanstalt für die Selbständigen und die Bauern zu einer Versicherungsanstalt für die Selbstständigen. Die Beamtenversicherung und die Versicherung der Eisenbahner und für den Bergbau werden zu einer Versicherungsanstalt für den öffentlichen Dienst und für Schienenverkehrsbetriebe vereint. Bestehen bleibt die Pensionsversicherungsanstalt, ohne die Pensionsagenden der öffentlich Bediensteten und Selbständigen. Deren Agenden nehmen die jeweiligen Sozialversicherungsanstalten wahr.
Die »Österreichischen Gesundheitskasse«, ausgestattet mit der Budget- und Personalhoheit, erhält neun Landesstellen. Letztere sind zuständig für die regionale Versorgungsplanung. Der Gesetzesbeschluss ist für die nächsten Monate vorgesehen.
Vom institutionellen Umbau erwartet sich die Regierung eine Einsparung in Höhe von einer Milliarde Euro. Zugleich soll die Sozialversicherung »schlanker« werden. So ist eine Reduktion der Verwaltungsgremien, der Zahl der Funktionäre und der Beschäftigten vorgesehen.
Schwächung der Vertretung der Arbeitnehmerorganisationen
Die Umbauvorstellungen betreffen nicht nur die Anzahl der Sozialversicherungseinrichtungen, sondern auch die Entscheidungsstrukturen in diesen.
Die Regierung Kurz/Strache hat die Schwächung der Vertretung der Arbeitnehmerorganisationen in der Selbstverwaltung von Sozialversicherungseinrichtungen ins Auge gefasst. Beispielhaft dafür steht die Änderung der Zusammensetzung der Gremien in der Krankenkasse der unselbständig Erwerbstätigen. Seit deren Gründung Ende der 1880er-Jahre hatten die Arbeitnehmervertreter in den selbstverwalteten Institutionen eine deutliche Mehrheit. Mit Stand Frühjahr 2018 betrug im obersten Entscheidungsorgan, der Generalversammlung, das Verhältnis vierfünftel (Dienstnehmervertreter) zu einfünftel (Dienstgebervertreter). In der Kontrollversammlung ist das Verhältnis umgekehrt. Die »Reform« der Sozialversicherung bringt nunmehr eine einschneidende Änderung: Zugleich mit der Fusionierung der neun Gebietskrankenkassen in der Österreichischen Gesundheitskasse werden Landesstellen in den neun Bundesländern geschaffen. In dieser Gesundheitskasse wird die Parität für die Vertreter der Interessenorganisationen eingeführt. Die Folge dieser Veränderung ist eine deutliche Schwächung der Arbeitnehmervertreter in der Selbstverwaltung der Krankenkassen der unselbständig Erwerbstätigen. Als Begründung für eine Parität der Vertretung wird immer wieder ins Treffen geführt, dass die Arbeitgeber den Krankenversicherungsbeitrag in gleicher Höhe wie die Arbeitnehmer bezahlen. Damit werden allerdings Birnen mit Äpfeln verglichen: Der sog. Arbeitgeberbeitrag ist kein zusätzlicher Beitrag, sondern Bestandteil des Lohnes. Dieser Modus der Finanzierung der Sozialversicherung wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert eingeführt, um die Mitwirkung der Arbeitgeber in der Selbstverwaltung der Arbeiterkassen zu legitimieren. Dass es sich um einen Lohnbestandteil handelt, war seit den Anfängen unumstritten.
Schwarz(Türkis)-Blau stärkt mit dieser Änderung die Unternehmervertretung und schwächt gleichzeitig das Entscheidungsgewicht der Arbeitnehmervertretung in einer Einrichtung, die nur für die Gesundheitsversorgung der unselbständig Erwerbstätigen zuständig ist. Dabei geht es nicht nur um die Regelung der Lohn(neben)kosten, sondern auch um das Niveau der Gesundheitsversorgung von Arbeitern und Angestellten.
Soziale Ungleichheit steigt
Dass eine durchaus berechtigte Leistungsharmonisierung im Zusammenhang mit der Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen erreicht werden könnte, ist unstrittig. Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, in welche Richtung sich die Harmonisierung bewegen wird: »nach unten« mit einer Leistungseinbuße für einen Teil der Versicherten, die bisher besser versorgt waren, oder »nach oben« mit einer Leistungsverbesserung für jene, die bisher schlechter gestellt waren. Die Entscheidung darüber ist noch nicht gefallen. Diese wird innerhalb der nunmehr paritätisch besetzten Selbstverwaltung wohl zu einer Nagelprobe für die zukünftige Zusammenarbeit und nicht zuletzt zu einem Gradmesser dafür, zu wessen Lasten sich die Änderung der Entscheidungsstruktur auswirken wird.
Wird das Leistungssystem eingeschränkt, könnte die weitere Entwicklung der Gesundheitsversorgung in Österreich durch »mehr privat« und »weniger Staat« gekennzeichnet sein. Die soziale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung würde damit größer.
Emmerich Tálos ist Univ.-Prof. für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Seit 2009 im Ruhestand, unterrichtet er an der Wirtschaftsuniversität Wien und an der Donauuniversität Krems.
Der Text ist unter dem Titel »Sozialversicherung im Umbau?« erstmals in »Interesse – Soziale Information, 2018/3; Herausgegeben vom Sozialreferat der Diözese Linz« erschienen.