Der österreichische Zeithistoriker Hans Hautmann starb am 3. Juli 2018. Während Österreich heute vor allem als Vorreiter des extremen Rechtsrucks gilt, stand die ArbeiterInnenbewegung hier einst für eine alternative gesellschaftliche Entwicklung, die auf Solidarität und demokratische Selbst bestimmung baute. Eine Geschichte, die Hans Hautmann besonders interessierte. Als kommunistischer Historiker verstand Hautmann seine Arbeit nicht als reine intellektuelle Angelegenheit. Vielmehr sollte sie dazu dienen, neuen Generationen von SozialistInnen und KommunistInnen über vergangene Erfahrungen aufzuklären und damit auch Anregungen und Inspirationen für die heutige Praxis anstoßen.
BENJAMIN BIRNBAUM hat 2017 mit HANS HAUTMANN dieses Interview geführt.
1987 erschien Ihre Geschichte der Rätebewegung in Österreich. Auf welche Reaktionen stieß dieses Buch zum Klassenkampf und zur Revolutionsgeschichte, das gerade zum Zeitpunkt des vermeintlichen Siegeszugs der Neoliberalismus veröffentlicht wurde?
HANS HAUTMANN: Das Echo auf das Buch war zum Zeitpunkt des Erscheinens gering, obwohl es mit 815 Seiten Umfang die bis dahin gründlichste Studie der Rätebewegung und der österreichischen Revolution darstellte. Es gab nur wenige Rezensionen, und auch die nur von linker Seite.
Abgesehen von diesem Werk haben Sie als Historiker umfassend zum Thema Arbeiterinnenbewegung veröffentlicht. Wie kam es zum Fokus auf die soziale Frage und wie schätzen Sie die aktuellen Perspektiven der marxistischen Geschichtsschreibung ein?
HANS HAUTMANN: Ich stamme aus einem kommunistischen Elternhaus, was sicherlich dazu beitrug, mich als Historiker der Geschichte der Arbeiterbewegung zuzuwenden. Auch das Thema meiner Dissertation 1968 (»Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs 1916–1919«) und meine Tätigkeit als Assistent am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Linz, an dem auch das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung beheimatet war, zielten in diese Richtung.
Die aktuellen Perspektiven einer marxistischen Geschichtsschreibung schätze ich als gut ein, weil unter den gegenwärtigen Bedingungen der hemmungslosen kapitalistischen Globalisierung Bedarf an herrschaftskritischen Herangehensweisen besteht.
Wodurch unterscheidet sich die Räte republik radikal von der bürgerlichen Demokratie? Hier könnte man auch auf die Frage des Wahlrechts eingehen, die in der Arbeiterinnenbewegung zu Diskussionen geführt hat. Man denke an die Entscheidung der Bolschewiki unmittelbar im Laufe der Oktoberrevolution, das Wahlrecht nur jenen zu geben die von ihrer eigenen Arbeit lebten, was Rosa Luxemburg kritisierte.
HANS HAUTMANN: Die Rätedemokratie ist eine direkte Demokratie mit einer neuen, nur bei ihr zu beobachtenden Art der Willensbildung. Ihr Kernstück ist das imperative Mandat, die Maxime permanenter Kontrolle der Gewählten seitens der Wähler, ihrer ständige Rechenschaftspflicht gegenüber den Wählern und ihrer jederzeitigen Abberufbarkeit durch die Wähler.
Beratend und beschließend zugleich sollte die Rätedemokratie engste Verbindung zwischen Basis und Mandatsträgern herstellen und einen ständigen Willensbildungs- und Kontrollprozess »von unten nach oben« ermöglichen. Die Räte empfanden sich als Gegenpol zum parlamentarisch-demokratischen Repräsentativsystem und als potenzieller Ablöser des »bürgerlichen Staates«. Die an seine Stelle tretende Alternative, die »Räterepublik«, sollte auf der Basis einer sozialisierten Wirtschaft die rätedemokratischen Prinzipien verwirklichen.
Die reformistische Sozialdemokratie in Österreich fasste ebenso wie die Bolschewiki in Russland die Räte als Klassenorganisation der manuellen und geistigen Arbeiter auf und schloss Privateigentümer eines Betriebes vom Wahlrecht ausdrücklich aus. In die Räteorgane konnten in Österreich weiters nur solche gewählt werden, die »in der Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise das Ziel und im Klassenkampf das Mittel der Emanzipation des arbeitenden Volkes erkennen, ihrer Berufsorganisation (Gewerkschaft) angehören und das 20. Lebensjahr überschritten haben«.
Wie erklären Sie den internationalen Charakter der Rätebewegung, die am Ende des Ersten Weltkriegs in mehreren Ländern Europas gleichzeitig auftrat?
HANS HAUTMANN: Der internationale Charakter der Rätebewegung erklärt sich aus den gleichen Erfahrungen und gleichen Interessen des europäischen Proletariats unter den Bedingungen des imperialistischen Krieges, der verschärften kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung und dem Streben nach einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Innerhalb der Rätebewegung zeichnete sich Österreich dadurch aus, dass dort die Räte am längsten existierten, und aufgrund ihres soliden Fundaments aktiv in wirtschaftliche und soziale Belange eingriffen. Könnten Sie die Besonderheiten der Räte in Österreich genauer erläutern, und ausführen in welchen Bereichen ihre Eingriffe besonders weit gingen?
HANS HAUTMANN: Eine Besonderheit war, dass das Rätesystem in Österreich bezüglich Aufbau, Wahlmodus, Wahlbeteiligung und Klarheit der innerorganisatorischen Spielregeln die Rätebewegung in Deutschland und Ungarn übertraf. Die zweite bestand darin, dass die Räteorgane grundlegende Umgestaltungen bei der Lebensmittelversorgung, im Wohnungs-, Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungswesen anstrebten und auf örtlicher Ebene, an der Basis, in Angriff nahmen.
So gesehen waren die nach gehorteten Lebensmitteln fahndenden, die Schleichhandelsbestände an die Notleidenden verteilenden, freien Wohnraum zur Anzeige bringenden, willkürliche Delogierungen durch die Hausherren verhindernden, hungernde Kinder tatkräftig unterstützenden, Waffen- und Munitionslieferungen an konterrevolutionäre Staaten hintanhaltenden, jeden Auskunftssuchenden und Bittstellenden in sozialen Angelegenheiten kostenlos beratenden Räteorgane der österreichischen Revolution einen wahrlich einzigartige Erscheinung in der österreichischen Geschichte, die sich in die beste Tradition dessen einreiht, was man gesunde Initiative erwachter und selbstbewusster Arbeitermassen nennen kann.
Wie war das Verhältnis der österreichischen Sozialdemokratischen Partei zu den Arbeiter- und Soldatenräten? Immerhin war laut Statuten der Räte die »Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise das Ziel« und der »Klassenkampf das Mittel«.
HANS HAUTMANN: Die österreichische Sozialdemokratie verfolgte gegenüber den Arbeiter- und Soldatenräten wie auch gegenüber den Kommunisten eine politische Linie, die sich von der in Deutschland deutlich abhob: die Strategie der möglichst gewaltlosen Bändigung der Gefahr von links.
Deshalb baute sie den Arbeiterrat im März 1919 zu einem »Parlament des gesamten Arbeiterklasse« aus, um mit den Kommunisten Kontakt zu halten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sie, wenn möglich, auf die sozialdemokratische Linie des »Abwartens« und »Gewehr-bei-Fuß-Stehens« zu bringen, sie von der Perspektiv losigkeit des Experiments einer Räterepublik zu überzeugen, und, wenn dies nicht gelang, mit Mehrheitsbeschlüssen niederzustimmen.
Weil es der KPÖ aus einer Reihe von objektiven und subjektiven Gründen nicht gelang, die sozialdemokratischen Arbeiter und Arbeiterinnen für sich zu gewinnen und die Majorität im Arbeiterrat zu erobern, sah sie sich mit einer Situation konfrontiert, in der jeglicher Versuch, die Schwelle des sozialdemokratischen Reformismus zu überschreiten, vor den Massen als »Missachtung der Beschlüsse des Arbeiterrats« und »Bruch der proletarischen Disziplin« gebrandmarkt werden konnte. Dieses Dilemma wurde von den austro marxistischen Führern bis zum letzten ausgenutzt.
Gelingen konnte diese Taktik aber nur, weil die Sozialdemokratie ihr Endziel als mit dem der Kommunisten deckungsgleich hinstellten, weil auch sie den radikalisierten Arbeitermassen 1918/19 versprachen, sie zum Sozialismus zu führen.
Auf welche Weise versuchte die herrschende Klasse die Macht der Räte zu brechen, und inwiefern hatten die Arbeiterräte mit Repression zu kämpfen?
HANS HAUTMANN: Die österreichische Bourgeoisie war 1918/19 ökonomisch und politisch sehr geschwächt und außerstande, der Rätebewegung mit Gewaltmethoden entgegen zu treten. War der Autoritätsverlust herkömmlicher staatlicher Machtmittel wie der Polizei schon schlimm genug, so wog noch schwerer, dass der Zerfall der k.u.k. Armee mit sich gebracht hatte, dass es keine geschlossenen Einheiten mehr gab, mit denen man ähnlich wie in Deutschland Freikorps, »Baltikumtruppen«, »Orgesch«- und »Orka«-Verbände für den Kampf gegen die Arbeiterklasse aufstellen hätte können.
Das reguläre Militär der Republik, die »Volkswehr«, war für einen konterrevolutionären Kampf ebenfalls nicht zu benützen, weil in ihr die Soldatenräte eine entscheidende Machtposition innehatten. Das taktische Vorgehen des bürgerlichen Lagers beschränkte sich zu dieser Zeit darauf, die Rätelosung aufzugreifen, »Bürger- und Ständeräte« bzw. »Bauernräte« zu gründen, die mit dem Verlangen nach »Gleichstellung« den »marxistischen« Räten entgegentraten. Sie waren aber nur ein kurzlebiges Intermezzo und verschwanden mit dem Abflauen der revolutionären Welle nach dem Ende der ungarischen Räterepublik im August 1919 bald wieder von der Bildfläche.
Da zu diesem Zeitpunkt auch die Machteinbuße der Arbeiter- und Soldatenräte sichtbar zu werden begann, setzte die Bourgeoisie auf diesen Trend und verzichtete auf offen gegen die Räteorgane gerichtete Provokationen und Niederwerfungsmethoden.
Welchen Einfluss konnte der revolutionäre Flügel der österreichischen Arbeiterinnenbewegung innerhalb der Räte ausüben? Immerhin vertrat die Kommunistische Internationale die Ansicht, der Machtergreifung der Kommunisten müsse die Mehrheit in den Räten vorausgehen.
HANS HAUTMANN: Die Kommunisten erreichten bei den Arbeiterrätewahlen im Frühjahr 1919 österreichweit etwa fünf Prozent, in Wien zehn Prozent der Mandate in den Rätegremien. Unter den Soldatenräten hatten sie in Wien eine gewisse Position im »Volkswehrbatallion 41«, hervorgegangen aus der »Roten Garde« der Novembertage 1918. Die überwiegende Mehrheit der Soldatenräte stand aber ebenfalls fest auf dem Boden sozialdemokratischen Gedankenguts.
Das Dilemma der KPÖ bestand darin, dass Lenin und die Komintern es den Kommunistischen Parteien ausdrücklich zur Hauptaufgabe gemacht hatten, zuerst die Mehrheit in den Räten zu erobern, weil nur unter dieser Voraussetzung eine Machtergreifung denkbar sei.
Vor dem Hintergrund des rapiden Machtverfalls der Räte 1921/22 zog sich die KPÖ schrittweise aus dem Arbeiterrat zurück und nahm an den letzten Rätewahlen im Sommer 1922 nicht mehr teil.
Inwiefern kann der Rätemoment, trotz seiner Auflösung durch die Sozialdemokraten anfangs der 1920er, als grund legender Beitrag zum Klassenbewusstsein und zum Antifaschismus der Arbeitenden in Österreich gesehen werden? Obwohl die Sozialdemokraten die Räte abwürgten und sie in den Republikanischen Schutzbund überleiteten, so waren es doch oft die Mitglieder des letzteren, die 1934 als erste in Europa die Waffen gegen den Faschismus, gegen das austrofaschistische Regime, ergriffen.
HANS HAUTMANN: Die Periode, in der die österreichischen Arbeiter in der Rätebewegung wirkten, war sehr wichtig und hatte tiefgreifende Folgen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die österreichische Arbeiterbewegung der Jahre bis 1934 in vieler Hinsicht eine Ausnahmestellung in Europa innehatte.
Die Sozialdemokratische Partei Österreichs war in den 1920er Jahren die größte und bestorganisierte Arbeiterpartei aller kapitalistischen Länder. Die österreichische Arbeiterklasse war seit dem November 1918 bewaffnet und blieb es als einzige auch über das Ende der revolutionären Nachkriegskrise hinaus. Eine dem Republikanischen Schutzbund vergleichbare Organisation gab es zur selben Zeit in keinem anderen Land der kapitalistischen Welt.
In Österreich erreichte die Herausbildung einer eigenständigen Arbeiterkultur eine Höhe wie nirgendwo anders. Kommunale Initiativen wie Arbeiterwohnbau, soziale Steuerpolitik, Fürsorge- und Gesundheitswesen, Schulreform, allesamt verkörpert im »Roten Wien«, suchten ihresgleichen in Umfang und Qualität bei anderen sozialdemokratischen Parteien vergeblich. Die österreichische Arbeiterklasse war neben der spanischen die einzige, die die Machtübernahme des Faschismus mit der Waffe in der Hand zu verhindern suchte.
Österreich ist schließlich auch das weltweit einzige Beispiel für eine schlagartige, umfangreiche Übertrittsbewegung sozialdemokratischer Mitglieder in die Kommunistische Partei – ein Schritt, der nicht momentaner Verwirrung entsprang, sondern von den Beitretenden nach dem Februar 1934 bewusst und unwiderruflich vollzogen wurde.
Gewiss können nicht alle aufgezählten Phänomene als direktes Resultat der Rätebewegung angesehen werde. Was ihr aber als Verdienst angerechnet werden muss, ist, dass die Erfahrungen, die die österreichischen Arbeiter zu Zehntausenden in der Schule der Rätedemokratie sammelten.
Inwiefern scheint Ihnen heutzutage das Prinzip der Organisation von unten durch Räte als relevant in sozialen Kämpfen? In jüngerer Vergangenheit schien es in Griechenland während der ersten, reformorientierten Regierung von Syriza keine von der Regierung autonome Organisation zu geben. Umgekehrt, beschrieb der Politologe George Ciccariello-Maher die ersten Jahre der Regierung von Chavez in Venezuela als stark geprägt durch lokale Selbstverwaltung, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Regierung stand und anfangs zur Vertiefung der Bolivarischen Revolution beitrug.
HANS HAUTMANN: Die Idee vom Rätesystem als einer Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus wird auch künftig lebendig bleiben.
Um sie zu realisieren, bedarf es aber meiner Überzeugung nach Voraussetzungen, von denen man gegenwärtig leider noch weit entfernt ist: eines gesamtgesellschaftlichen revolutionären Aufschwungs mit Massenbeteiligung der arbeitenden Menschen, ihrer Organisiertheit, Disziplin, Solidarität, Durchhaltekraft, Klassenbewusstheit, verbunden mit dem Bestreben, an die Stelle der kapitalistischen eine sozialistische Ordnung zu setzen.
Benjamin Birnbaum hat das Interview 2017 für die französische Zeitschrift für marxistische Theorie, Période, geführt. Im Ada Magazin (www.adamag.de) ist das Interview unter dem Titel »Wien schlägt Berlin« in deutscher Übersetzung erschienen. Für die Volksstimme wurde das Interview leicht gekürzt.