Jahrzehntelang dominierten neoliberale Wirtschaftstheorien die Universitäten und die ökonomischen Forschungsinstitute. Nun regt sich in akademischen Kreisen dagegen Widerstand, die Modern Monetary Theory (MMT) soll die Grundlage für eine sozial ausgewogene Wirtschaftspolitik darstellen.
PETER FLEISSNER hat sich diese aktuell breit diskutierte Lehre genauer angesehen.
Es gibt keinen Zweifel: die gängige Wirtschaftswissenschaft, an die eine Mehrheit der ÖkonomInnen glaubt, erinnert immer mehr an Magie. Sie wird von neoliberalen Thinktanks, die es auch in Österreich gibt, missionarisch unterstützt. Tatsächlich war diese Art von Wissenschaft ziemlich erfolglos. Nicht nur, dass die große Krise 2008/9 von mainstream- ÖkonomInnen nicht vorausgesehen wurde. Auch die Troika folgte den schamanistischen Rufen nach Sparen um jeden Preis und erzeugte damit in Griechenland eine soziale Katastrophe. Seither bemühten sich die Finanzinstitutionen der Europäischen Union vergeblich, die schwächelnde Konjunktur durch Aufkauf von Wertpapieren in großem Umfang wieder anzukurbeln. Sie haben den EU-Ländern fünf verlorene Jahre beschert, die von Arbeitslosigkeit und hoher Staatsverschuldung gekennzeichnet sind. Erst 2014 erreichte das reale Brutto-Inlandsprodukt der 28 EU-Länder wieder Werte, die höher als vor der Krise waren, die Staatsverschuldung ist von 60 auf 80 Prozent gestiegen, die Vermögensverteilung erklimmt immer neue Gipfel der Lohnabhängigen zeigten sich allerdings schon vor der großen Krise, aber keine der Parlamentsparteien hat sich dieser Entwicklung entgegengestellt und ihr Einhalt geboten: Die Lohnquote ist zwischen 1980 und 2008 von 75 Prozent auf 67 Prozent des Volkseinkommens zurückgegangen. In Euro ausgedrückt sind das immerhin Verluste für die Lohnabhängigen von 24 Mrd. Euro (8 Prozent des BIP 2008 von ca. 300 Ungleichheit. Die Einschränkungen für die Mrd. Euro).
Heute, ein Jahrzehnt nach der großen Krise zeigen sich langsam Veränderungen im wirtschaftswissenschaftlichen Denken, die aus der Sackgasse der so genannten neoklassischen Ökonomie herausführen. Einige Universitätsinstitute verlassen die ausgetretenen Pfade unter dem Namen »heterodoxe Ökonomie« (im Gegensatz zur »orthodoxen«) und suchen nach alternativen Wegen, die Wirtschaft unter nicht ideologisch verzerrten Gesichtspunkten zu analysieren.
Rückblick im Zeitraffer
Die Wirtschaftswissenschaft lässt sich historisch in verschiedene Schulen einteilen. Bereits Aristoteles kannte den Unterschied zwischen Gebrauchswert und Tauschwert einer Ware, Theologen wie Thomas von Aquin schätzten die Landwirtschaft und das Handwerk, verurteilten aber das Gewinnstreben, das die Schwächeren und die Allgemeinheit schädigen würden. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus bildete sich im 18. Jahrhundert die ökonomische Klassik heraus. Der Leibarzt Ludwig des Vierzehnten, Francois Quesnay, sah als erster die Ähnlichkeit des Blutkreislaufs mit den Güter- und Geldströmen der Wirtschaft; Adam Smith betonte im Gegensatz zu den Merkantilisten, die an die bereichernde Wirkung des Handels glaubten, die menschliche Arbeit als Quelle des Reichtums. Karl Marx führte diese Linie der Klassik weiter und schuf mit seinem Hauptwerk »Das Kapital« eine hervorragende Analyse des kapitalistischen Systems. Die Quelle des Reichtums der Kapitalisten sah er in der Ausbeutung, der Aneignung der Ergebnisse unbezahlter Arbeit der LohnarbeiterInnen. Die ökonomische Zunft wollte seinen Einsichten nicht folgen und entwickelte in der neoklassischen Wirtschaftstheorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine geschichtslose Sicht der Welt, nach der es den Kapitalismus ewig gab und geben wird. Kapital und Arbeit wären zwei Faktoren, die den Reichtum gemeinsam erzeugten, wobei KapitalistInnen und Lohnabhängige ihren individuellen Vorteil suchen würden: Die Lohnabhängigen maximieren ihren Nutzen, die Kapitalistinnen ihren Profit. Die Weltwirtschaftskrise 1928 zeigte deutlich das Versagen dieser Theorie, die den Märkten eine selbstheilende Kraft gegenüber Ungleichgewichten zugeschrieben hatte. Erst John Maynard Keynes zeigte auf, dass in einer Wirtschaft mit ausgeglichenen Güter- und Geldmärkten doch Arbeitslosigkeit möglich ist. Zur Entschärfung weiterer Krisen schlug er vor, dass der Staat in schlechten Zeiten seine Ausgaben erhöhen sollte, die er in guten Zeiten durch Steuern wieder einbringe. Diese Theorie begleitete die kapitalistische Welt bis in die 1980er Jahre. Sie wurde durch neoliberale Theorien abgelöst, die auf Angebotspolitik, eine Quantitätstheorie des Geldes1 und den Rückzug des Staates bei ökonomischen Fragen setzte – so zumindest in der Theorie. Das schlimme Resultat: Der Finanzmarktkapitalismus, der in die große Krise von 2008 führte.
Modern Monetary Theory (MMT)
In der englischsprachigen Welt meldet sich nun eine neue Theorie zu Wort, die vor allem von Bernie Sander und seinem Umfeld, von einem Flügel der britischen Labour-Party und vom australischen Ökonomen William (Bill) Mitchell2 vertreten wird. Anfänge lassen sich bis zum deutschen Ökonomen Georg Friedrich Knapp3 zurückverfolgen, der 1905 eine Staatstheorie des Geldes vertrat. Seinen Spuren folgt die Modern Monetary Theory (MMT). In ihrem Zentrum befindet sich ein schon seit Jahrzehnten bekannter Zusammenhang, der immer richtig ist, ganz gleich, welcher Ideologie man anhängt: Die Einnahmen und Ausgaben in einer Wirtschaft müssen immer gleich groß sein, da die Ausgaben der Einen immer Einnahmen der Anderen sind und umgekehrt.
Unterteilt man eine Wirtschaft in einen privaten (Haushalte plus Unternehmen), einen öffentlichen Sektor und den Bereich der übrigen Welt (Außenhandel), folgt daraus, dass die Summe aller Differenzen zwischen Einnahmen und Ausgaben der drei Sektoren immer Null ergeben muss. Anders ausgedrückt: das Defizit des Staates muss immer gleich der Summe aus den Überschüssen des Privatsektors und dem Zahlungsbilanzüberschuss (Differenz von Exporten und Importen) sein. Damit wird eine oft abgelehnte Tatsache ausgesprochen, dass z. B. bei ausgeglichener Zahlungsbilanz (Exporte = Importe) das öffentliche Budgetdefizit gleich den Überschüssen im privaten Sektor sein muss. Das heißt, dass eine Vermeidung von Schulden, die für einzelne Menschen sinnvoll ist, für den Staat nicht unbedingt gilt. Richtig ist, dass weder Haushalte noch Unternehmen ohne staatliches Defizit keine Überschüsse aufbauen können, falls die Exporte den Importen entsprechen und umgekehrt. Darin sind sich alle ernsthaften Wirtschaftstheorien, alte wie neue, rechte oder linke, einig.
Die MMT geht aber noch weiter: Ein Staat, der über eine eigene Währung verfügt, die er selbst kontrollieren bzw. erzeugen kann (also ein souveräner Staat), hat kein Problem, genügend Geld zu schaffen, um alle öffentlichen Ausgaben zu finanzieren, die er beabsichtigt. Die MMT meint zu Recht, die Politik solle sich wieder auf die Erreichung sozialer Ziele wie Vollbeschäftigung und eine gleichere Eigentums- und Vermögensverteilung besinnen und nicht auf ein bestimmtes Inflationsziel (wie z. B. die Österreichische Nationalbank4, die eine Preissteigerungsrate von »mittelfristig unter, aber nahe 2 %« anstrebt). Die MMT schlägt vor, der Staat solle eine Arbeitsplatzgarantie geben und vernünftige Löhne garantieren. Die Finanzierung von öffentlichen Investitionen oder des öffentlichen Konsums wäre laut MMT durch Geldschöpfung einfach und zinsenfrei möglich. Damit wäre eine Behebung mancher Fehler des Kapitalismus möglich, jedoch ohne dass der Kapitalismus selbst überwunden werden müsse.
Hier liegt einer der Kritikpunkte, den manche5 nicht müde werden zu betonen: Die MMT schlage nur die Behandlung des Patienten Kapitalismus, aber nicht dessen Abschaffung vor. Es fragt sich, welche Politik die Linke in diesem Fall einschlagen soll: die Ziele der MMT anzustreben oder auf die Abschaffung des Kapitalismus zu warten? Im Fall der Einführung der Sozialversicherung hat die Geschichte gezeigt, dass – auch wenn der Kapitalismus nicht abgeschafft wurde – dennoch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen wesentlich verbessert worden sind.
MMT gilt in der Eurozone nicht
Anzumerken ist, dass die MMT auf die Mitgliedsländer der Eurozone nicht direkt anwendbar ist, da z. B. Österreich den Euro nicht eigenständig auf- oder abwerten kann6. Um sie anwendbar zu machen, müssten die Regeln für die Europäische Zentralbank wesentlich geändert werden.
Aus marxistischer Sicht bietet die MMT einige Fortschritte in der Wirtschaftstheorie. Sie behauptet nicht mehr wie die ökonomische Klassik im Gegensatz zu Marx, dass jedes Angebot automatisch seine eigene Nachfrage erzeugen würde (dies behauptet das so genannten Sayschen Gesetz), oder dass die Märkte automatisch alle Ungleichgewichte (einschließlich der Arbeitslosigkeit) beseitigen würden. Die MMT fordert, dass die Wirtschaft der ganzen Gesellschaft und nicht nur den KapitalistInnen dienen solle.
Die Schwächen der MMT bestehen unter anderem darin, dass sie zwar bestehende Inflationstheorie kritisiert, aber über keine eigene verfügt. Sie vertritt eine Theorie der Entstehung des Geldes, nach der der Staat das Geld durch die Pflicht, Steuern zu zahlen, geschaffen habe. Diese letzte Behauptung widerspricht der geschichtlichen Erfahrung, denn Geld gab es schon vor dem Kapitalismus und den modernen Nationalstaaten. Auch Fragen nach einer ökologisch verträglichen Umgestaltung der Wirtschaft oder nach dem Übergang zu alternativen Produktionsverhältnissen bleiben unbeantwortet.
1 wonach das Preisniveau bei konstanter Umlaufgeschwindigkeit von der Geldmenge bestimmt wird.
2 William Mitchell, L. Randall Wray, Martin Watts (2019): Macroeconomics, Red Globe Press, Springer Nature Limited. 573 Seiten.
3 2017 wurde durch Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt die Georg Friedrich Knapp Gesellschaft für Politische Ökonomie (FKG) gegründet, bereits 2014 die Pufendorf Gesellschaft (PG) zur Verbreitung der MMT.
4 https://www.oenb.at/Geldpolitik/Ziele-der-Geldpolitik/Warum-Preisstabilitaet.html
5 https://thenextrecession.wordpress.com/2019/. Eine Suche nach MMT liefert mehrere Blogeinträge.
6 Näheres unter https://docs.wixstatic.com/ugd/072554_3cc634f38c6c4520bd226cc7688424ff.pdf