Klimawandel, Luftverschmutzung, Wasserknappheit, Versagen großtechnischer Systeme, radioaktive Verseuchung, Artensterben und andere Katastrophen werden für uns immer mehr zum Alltag. Die Erde, auf der sich die Menschheit entwickelt und die uns von Anfang an getragen und ernährt hat, zeigt sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr von ihrer bedrohlichen Seite. Rächt sie sich an uns?
VON PETER FLEISSNER
Holozän
Um zu überleben und ihre Lage zu verbessern, haben die Menschen schon vor 2,6 Millionen Jahren, seit der Altsteinzeit (Paläolithikum) auf die Erde Einfluss genommen. Als Nomaden jagten sie Tiere, später zähmten sie diese und wohnten in Dörfern. Vor rund 12.000 Jahren begannen sich die ökologischen Bedingungen zu verbessern: Auf der Erde wurde es wärmer. Diese neue erdgeschichtliche Phase, das Holozän (auch Nacheiszeitalter genannt), brachte uns ein relativ stabiles Klima. Die Menschen wurden sesshaft, entwickelten die Landwirtschaft, formten Metalle, bauten Städte und schufen Hochkulturen. Wie frühe Kulte und Naturgottheiten bezeugen, waren die Menschen weitgehend von ihrer natürlichen Umwelt abhängig und fühlten sich auch als Teil von ihr.
Anthropozän
Anders im Anthropozän, der jüngsten erdgeschichtlichen Periode. Bedingt durch eine Zunahme der Weltbevölkerung und durch ausgedehnte Produktions-, Handels- und Konsumaktivitäten sind die Menschen zum wichtigsten globalen Einflussfaktor auf die Natur, auf Tiere und Pflanzen, auf das Meer, auf den Erdboden, auf die Luft und auf das Klima geworden. Noch im Holozän waren die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die lokale oder maximal regionale Ebene beschränkt und reversibel. Nun, im Anthropozän, erstreckt sich der Einfluss der Menschen auf den ganzen Planeten. Wie weit die Folgen ihres Handelns reversibel sind, wissen wir nicht.
Die ExpertInnen streiten darüber, wann diese neue geologische Periode begonnen hat. Manche sehen den Anfang des Anthropozäns im Abholzen der Wälder in Südosteuropa für den römischen Schiffsbau, andere verlegen den Beginn ins 17. Jahrhundert, als durch die Kolonisierung Amerikas dort bisher unbekannte Krankheiten eingeschleppt wurden. Eine dritte Position lässt das Anthropozän nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen, mit der weltweiten radioaktiven Verseuchung durch die Atomwaffentests.
Wie dem auch sei, sicher ist jedenfalls, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kohlendioxidkonzentration, ein wichtiger Indikator für den Treibhauseffekt, kontinuierlich zugenommen hat. Sie lag 2017 bei etwa 405 ppm, und damit um 40 Prozent oberhalb des vorindustriellen Werts von 280 ppm und um 33 Prozent über dem höchsten in den vergangenen 800.000 Jahren jemals erreichten.1 Hauptursachen für den Anstieg sind die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle und Erdöl, aber auch die zunehmende Abholzung der Regenwälder. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Einfluss der Menschen unübersehbar und global geworden. Die »Störungen« der Erde durch menschliches Zutun sind nicht mehr lokal, sondern zeigen sich auf der ganzen Erdoberfläche. Damit löst das Anthropozän die Epoche des Holozäns ab, die fast ausschließlich von natürlichen Kreisläufen und Ressourcen bestimmte geologische Entwicklungsperiode unseres Planeten.
Biosphäre und Noosphäre
Der Begriff Anthropozän wurde in den 1920er Jahren vom sowjetischen Geologen Aleksei Pavlov geprägt. Er arbeitete mit dem Geochemiker Vladimir I. Vernadskij2, dem Autor des Buches »Die Biosphäre« eng zusammen. Letzterer sah die »lebende Materie« als integralen Bestandteil der Oberfläche unseres Planeten. Unter dem Einfluss des Theologen und Naturforschers Teilhard de Chardin und des katholischen französischen Philosophen Le Roy 1937/38 entwickelte Vernadskij seine Ideen weiter, indem er meinte, dass es bereits einen »Übergang der Biosphäre in die Noosphäre«3 gibt. Er folgte damit dem Vorbild des objektiven Idealismus. Analog zu Hegel, der annahm, dass sich der Weltgeist in der Geschichte materialisiere, sah Vernadskij die Natur zu einer Sphäre der menschlichen Vernunft werden. Er drückte damit das Richtige im Falschen aus, denn richtig ist, dass sich die Stellung der Gesellschaft gegenüber der Natur verändert hat, jedoch lässt leider die Vergegenständlichung der menschlichen Vernunft in der Natur– wie wir angesichts immer zahlreicher werdenden Umweltkatastrophen sehen können – auf sich warten. Anfangs wurde der Begriff »Biosphäre« im Westen völlig übergangen, aber schließlich erreichte er doch die angelsächsische Welt und verbreitete sich so sehr, dass er im Jahr 1970 Gegenstand einer Sonderausgabe des Scientific American4 wurde.
Das Verdienst des neuen geologischen Begriffs Anthropozän liegt darin, dass er über den Begriff der UmweltschützerInnen hinausweist, die vor allem »Nachhaltigkeit« erreichen wollen. Dies würde aber bedeuten, dass es ein Zurück zu früheren Verhältnissen geben könnte, was aber bei der zu erwartenden Beeinflussung der Natur durch die Menschen unmöglich geworden ist.
Die Menschen sind nun für ihre eigene Zukunft verantwortlich, nicht nur für das Leben in der von ihnen aufgebauten Gesellschaft, sondern auch für den Stoffwechsel mit ihrer natürlichen Umwelt. Es ist nicht mehr allein die ursprüngliche Natur, die den Menschen die ökologischen Rahmenbedingungen ihres Lebens diktiert. Die Bedingungen sind immer mehr hausgemacht. Andererseits leistet der Begriff Anthropozän der unscharfen Vorstellung Vorschub, dass »Anthropos«, der abstrakte Mensch, die Veränderungen in der Natur hervorbringen würde, oder – anders ausgedrückt, dass alle Menschen gleichermaßen für die Schäden an der Natur verantwortlich wären.
Marxistische Positionen
Was sagen MarxistInnen zum Anthropozän? Tatsächlich haben sich sozialistische Denker Innen von Anfang an mit dem Verhältnis Mensch-Natur auseinandergesetzt. Bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erklärte Karl Marx, dass der Naturbegriff einem Wandel unterliegt: »Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach nicht existiert.«5
Ähnlich wie Marx sah Engels das Verhältnis der Menschen zur Natur nicht als zwei voneinander unabhängige Sphären. Er betonte, dass die Menschen Teil der Natur sind: »Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. ... Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.«6 Damit wandte er sich als früher Grüner gegen einen instrumentellen Umgang mit der Natur, der die natürlichen Ressourcen der Erde als Reichtümer sieht, den sich die Menschen als Herrscher einfach aneignen könnten.
John Bellamy Foster7, einer der marxistischer Denker auf dem Gebiet des Öko-Sozialismus, spricht im Sinne des Anthropozän von einer »zweiten kopernikanischen Revolution«. So wie sich die Planeten nach Kopernikus nicht mehr um die Erde, sondern um die Sonne drehen, würde die Menschheit nicht so sehr von der Natur beeinflusst, sondern selbst zur wesentlichen Naturkraft werden. Er ist davon überzeugt, dass die Menschen ihr Verhältnis zur Erde bereits grundlegend verändert haben.
Kapitalozän
Der marxistische Politikwissenschaftler Elmar Altvater8 wurde noch konkreter. Er sprach nicht von Anthropozän, sondern gab der gegenwärtigen geologischen Phase den Namen Kapitalozän. Damit betonte er, dass nicht »die Menschen« im Allgemeinen das Verhältnis zur Natur gestalten, sondern dass es bestimmte Regierungen und internationale Organisationen, große Banken, Unternehmen, Investmentfonds, Ölkonzerne usw. wären. Altvater kann sich auf die tatsächliche Lage stützen: »Nach Oxfams Berechnungen aus dem Jahr 2014 verfügen die reichsten 85 Menschen über denselben Reichtum wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung zusammen.«9 Das Schicksal der Welt entscheiden nicht die Menschen gemeinsam, sondern eine Minderheit, die sich auf das knechtende System der Ausbeutung anderer Menschen stützt. Diese Minderheit steigert zwar die menschlichen und technischen Produktivkräfte, aber eigennützig und auf sich bezogen. Sie bemächtigt sich der Natur, aber auch der Menschen, die ihr unterworfen sind, und gestaltet durch Werbung deren Konsumverhalten. Es geht dem Kapital tatsächlich nicht um das gute Leben, das die Menschen anstreben, sondern um Extraktion und Aneignung von Profit.
System Change, not Climate Change!
Durch den Begriff Kapitalozän stellt Altvater die Systemfrage in den Mittelpunkt. Nicht bloß eine gesunde Umwelt ist anzustreben, sondern eine durchgängig humane Gestaltung aller Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das ist durch ökologische Forderungen allein nicht zu erreichen. Werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Ziel der Veränderung nicht einbezogen, besteht zusätzlich die Gefahr, dass der Wunsch nach einer menschenfreundlicheren Umwelt zu einer unerfüllbaren, rein emotionalen Forderung wird, der keine Kraft zur Veränderung innewohnt.10
1) 1 ppm = 1 CO2-Molekül auf eine Million Teilchen der Atmosphäre = CO2-Dichte von 0,01 Prozent https://de.wikipedia.org/wiki/Kohlenstoffdioxid_in_der_Erdatmosph%C3%A4re#Anthropogener_Anstieg_der_CO2-Konzentration
2) Vladimir I. Vernadskij, Der Mensch in der Biosphäre –Zur Naturgeschichte der Vernunft (Hg. Wolfgang Hofkirchner), Lang, Frankfurt 1997: 34.
3) The Begriff Noosphäre wurde schon 1927 von Le Roy verwendet.
4) https://www.scientificamerican.com/magazine/sa/1970/09-01/
5) Karl Marx, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, 1969: 44
6) http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_444.htm: 452/453.
7) John Bellamy Foster, Marxism in the Anthropocene: Dialectical Rifts on the Left, International Critical Thought, 2016, Vol. 6, No. 3: 393-421; 393
8) 1938-2018; https://jasminrevolution.wordpress.com/ 2018/03/08/altvater-kapitalozan-der-kapitalismus-schreibt-erdgeschichte/
9) https://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverteilung
10) Herbert Hörz, Ökologie, Klimawandel & Nachhaltigkeit – Herausforderungen im Überlebenskampf der Menschheit, trafo Verlag, Berlin 2018: 97.