Ganz Kanada ist noch immer im Justin-Trudeau-Rausch und es wird heftig gefeiert. In gewisser Weise haben sich das die KanadierInnen auch verdient. Nach dem fast zehn Jahre andauernden Bad Trip unter Trudeaus konservativem Vorgänger Stephen Harper ist man im hohen Norden des amerikanischen Kontinents mit Übelkeit und Kopfschmerzen aus dem konservativen Alptraum aufgewacht. Stephen Harper, ein ziemlich unscheinbarer Politiker vom Typ klassischer Konservativer, hatte nach drei Regierungen ausgedient.
Verantwortlich dafür waren vor allem politische Skandale und unzählige antidemokratische Maßnahmen: Öffentlichen Bediensteten wurde das Streiken erschwert, die Kompetenzen der Medien wurden beschnitten, anti-demokratische Wahlrechtsreformen wurden beschlossen und WissenschaftlerInnen – insbesondere jene, die sich mit Ökologie beschäftigen – durften ihre Forschungsergebnisse nur noch nach draußen kommunizieren, wenn diese von staatlichen Behörden abgenickt wurden. Auch die hohen Budgetdefizite der Harper-Regierungen brachen ihm das politische Genick. Die einen erklärten sie durch die Weltwirtschaftskrise, die anderen mit der rekordverdächtigen Senkung der staatlichen Körperschaftssteuer von 21 % auf 15 %. Für Kanada jedenfalls waren im Jahr 2006 Budgetdefizite etwas aus grauer Vorzeit: Zwischen 1996 und 2007 gab es Überschüsse. Erst nachdem Stephen Harper die Zügel übernahm, rutschte man ins Minus. 2009 folgte sogar ein durch fehlende Steuereinnahmen verursachtes, nominelles Rekorddefizit von fast 56 Milliarden Dollar. Kein Wunder also, dass sein Nachfolger nicht nur wegen seinem gesellschaftsliberalen Superprogramm oder seinem Charisma regelrecht an die Macht gespült wurde, sondern vor allem auch weil er versprach, das Defizit wieder abzubauen.
Der Anti-Harper
Justin Trudeau, Sohn des ehemaligen Langzeit-Premierministers Pierre Trudeau, kam also genau zur richtigen Zeit. Jung, attraktiv, schillernd, perfekt zweisprachig, trotz familiärer Vorbelastung in Sachen Politik mit einem untypischen Lebenslauf. Er studierte nicht Wirtschaft oder Rechtswissenschaft, sondern Literaturwissenschaften, Pädagogik und Umweltingenieurswesen, war vor seinem Einstieg in die Politik mal Snowboardlehrer, dann High-School-Lehrer für Französisch, Mathematik und Sozialkunde. Abseits des Berufes engagierte er sich mit großem Einsatz für soziale und ökologische Kampagnen oder trainierte als Amateur-Boxer. Ein Anti-Harper also und der perfekte Politiker des 21. Jahrhunderts für desillusionierte, junge Menschen, die mit dem politischen System längst abgeschlossen hatten.
Ein Anti-Harper also und der perfekte Politiker des 21. Jahrhunderts für desillusionierte, junge Menschen, die mit dem politischen System längst abgeschlossen hatten.
Die Liberale Partei, seit 2013 unter dem Vorsitz von Trudeau, wusste, was für ein Ass(et) sie da im Ärmel hatte und zimmerte gemeinsam mit ihm eine Kampagne und ein Programm, bis zum kleinsten Detail auf die Außenwirkung des neuen Stars zugeschnitten. Der Verdienst war ein Zugewinn von 20 Prozentpunkten und die absolute Mehrheit bei den landesweiten Wahlen 2015. Seitdem ist Trudeau in der schwierigen Situation, sein Programm auch umzusetzen: Wahlrechtsreform, Defizitsenkung, mehr Transparenz, mehr Demokratie (anders gesagt: die Harper-Beschlüsse wieder rückgängig machen), Schutz von Minderheiten, eine 50-Prozent-Frauenquote im Kabinett und vieles mehr. Einiges davon ist ihm gelungen, einiges davon ist gescheitert. Im Großen und Ganzen überwiegt aber die Begeisterung der KanadierInnen für den frischen Wind im Staat. Auch wenn dieser nur an der Oberfläche bläst.
Das neoliberale Gesetz
Denn auch Justin Trudeau ist kein Außerirdischer und Kanada ist keine utopische Enklave auf einem anderen Planeten. Die Realität des Systems macht sich bemerkbar, der Lack zerkratzt, wenn auch an Stellen, die man schon genau suchen muss, und die im imagefokussierten Politzirkus kaum eine Rolle spielen.
Trotz aller Bekundungen (und der eigenen, biographischen Glaubwürdigkeit) – an eine Abkehr von Einnahmen durch die Extraktion fossiler Brennstoffe ist auch für Justin Trudeau nicht zu denken. Zu stark sind die Lobbies, zu groß ist der finanzielle Gewinn. Und um das staatliche Defizit zu senken, wird auch nicht im Entferntesten daran gedacht, die Körperschaftssteuer zu erhöhen. Das Ziel von Stephen Harper, die niedrigste Unternehmensbesteuerung innerhalb der G7 zu verwirklichen, wird auch das Ziel des neuen Premierministers bleiben. Selbst eine angekündigte Steuererhöhung für BestverdienerInnen wurde abermals brav in die Zukunft vertagt.
Der Plan der Liberalen heißt stattdessen: »asset recycling«. Oder weniger euphemistisch ausgedrückt: Privatisierung. Die öffentliche Infrastruktur soll zu Geld gemacht werden, Unternehmen und Private-Public-Partnerships sollen vorerst nur »Einkommen generierende« Infrastruktur, wie Mautstraßen, Elektrizitätswerke, Brücken oder Flughäfen wieder auf Vordermann bringen. Investieren sollen dabei vor allem internationale InvestorInnen oder Pensionsfonds. Die Vermutung ist aber berechtigt, dass das Beispiel Schule machen wird und auch andere Einrichtungen schleichend privatisiert werden sollen. Die Reaktion vieler ÖkonomInnen ist verhalten: Öffentlich finanziert mit geborgtem Geld müsste man mit Zinskosten von etwa 1-2 % pro Jahr rechnen. Investoren erwarten in der Regel jedoch, dass 7-8 % pro Jahr für sie dabei herausspringen. Diese Differenz würde langfristig aus Kostensenkung (sprich: niedrigeren Löhnen oder kleinerer Belegschaft) und höheren Einnahmen (sprich: höhere Maut, teurerer Strom) generiert werden, meint zum Beispiel Toby Sanger von der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten (CUPE). Ob sinnvoll oder nicht – die neoliberale Ideologie gibt in ökonomischen Fragen also weiter den Ton an.
Die Disneyfizierung der Politik
Um den Widerstand in der Bevölkerung angesichts Privatisierungen bzw. bevorstehender »schmerzhafter Reformen« nicht zu provozieren, bleiben die Liberalen weiterhin bei der bisher erfolgreichen Strategie, die Politik in einen Disneyfilm zu verwandeln. Disneyfizierung heißt in der Stadtplanung: Städte gleichen immer mehr einem Vergnügungspark, produzieren architektonisch und technologisch eine scheinbar bessere Welt und bieten viele Möglichkeiten für Eskapismus, soziale Probleme und Spannungen werden jedoch ausgeblendet. Auch in der Politik greift das Konzept: Der junge, schöne und witzige Held für alle soll tanzen, singen und muss auch die eine oder andere Actionsequenz meistern, um die Welt auf unterhaltsame Weise Tag für Tag ein Stück besser zu machen. Dafür ist Trudeau der perfekte Protagonist: Bei einem Benefizboxkampf zur Unterstützung der Krebsforschung kämpfte und gewann er 2012 im Boxring gegen den konservativen Senator Patrick Brazeau. Das lässt sich auch fünf Jahre später noch wunderbar in den sozialen Medien verwursten, um positive Stimmung zu verbreiten. Es zählen die einzelnen Kämpfe für einen guten Zweck, das große Ganze bleibt ausgeblendet.
Dort wo es teuer wird oder an das Geld der Reichen gehen würde, erwacht der neoliberale Geist, der das Drehbuch des Trickfilms in seinen erlaubten Bahnen hält.
Disneyfilme brauchen auch Momente des Glücks und ein Happy End. In kleinen Häppchen und wohldosiert wird das auch von Trudeau verabreicht, indem vor allem gesellschaftspolitisch liberalisiert wird. Konservative Befindlichkeiten des Alltagslebens müssen nicht mehr bedient werden, sie sind in den relevanten WählerInnenschichten des multikulturellen Kanada längst nicht mehr mehrheitsfähig. Egal ob es um Frauen, die kanadischen UreinwohnerInnen, die LGBT-Community oder Flüchtlinge geht – Menschen jeglicher Identitäten fühlen sich mit den Gesetzen der Liberalen Partei ernst genommen und gehört. Doch diese Gesetze, so wichtig sie auch sind, sind billig. Dort wo es teuer wird oder an das Geld der Reichen gehen würde, erwacht der neoliberale Geist, der das Drehbuch des Trickfilms in seinen erlaubten Bahnen hält. Die Trudeau-Manie hält an.
Raus aus Kanada
Weltweit lassen sich in den letzten Jahren und besonders in den letzten Monaten ähnliche Phänomene beobachten: Die alteingesessenen, politischen Kräfte können mit ihrem gelernten Verhalten nicht mehr gewinnen und wer den Zug nicht verpassen will, versucht es eben auf neue Art und Weise.
Hat schon Bill Clinton am Saxophon gezeigt, was für ein lässiger Politiker er ist (und gleichzeitig das halbe Land mit Bankenderegulierungen und Freihandelsabkommen am neoliberalen Altar geopfert), war Obama sicherlich der erste Disneyheld-Politiker in Vollendung: »Change we can believe in«. Die geplante oder inszenierte Weltverbesserung prallte jedoch an der neoliberalen Wirklichkeit und am militärisch-industriellen Komplex ab. Bezeichnend, dass auf ihn ein Donald Trump folgen würde: Happy End konnte man unter Obama keines erleben, und Hillary Clinton nahm man die Rolle nicht ab. Die kulturellen und sozialen Eigenheiten der Vereinigten Staaten, mit ihrem Pool an konservativen, religiösen Menschen abseits der großen Ballungszentren und den von Obama enttäuschten ArbeiterInnen in ehemals demokratischen Hochburgen, wählten den Macho ins politische Amt. Statt Zeichentrick also kernig-stupide Sprüche und Haudrauf-Mentalität aus dem Actionkino der 1980er. Bis auf einen kleinen Kern an verblendeten TrumpistInnen und bis auf die Reichen und die Wirtschaft, die sich vor Trump nicht zu fürchten brauchen, begeistert das niemanden wirklich. Anstatt Trumps politische Ziele zu kritisieren, bleibt die Kritik aus den amerikanischen Mainstream-Medien am neuen Mr. President bis zuletzt aber oberflächlich: Zu unprofessionell und zu tollpatschig stelle er sich an und ihm fehle anscheinend die Macht gegenüber der Republikanischen Partei, seine Ziele umzusetzen. Der liberale Flügel in den USA sehnt sich derweil wieder Barack Obama zurück, nicht wegen den Gesetzen, die unter ihm verabschiedet wurden, oder wegen seiner Führung der Streitkräfte und Drohnenflotten, sondern auch weil er einfach nicht so peinlich war.
Europa in Bewegung?
In Europa wird auch zunehmend nach dem Drehbuch von Obama und Trudeau kampagnisiert. Allerdings aus einem anderen Grund: Die gewachsenen Sozialstaaten sind längst unter Beschuss, die neoliberalen Reformen wurden und werden von den etablierten Parteien von links wie rechts eiskalt durchgezogen. Den Frust der WählerInnen, diesem Trend nach unten nicht entkommen zu können, und die Tendenz, statt der alten Parteien lieber im Protest oder gar nicht mehr zu wählen, wussten die Rechtspopulisten für Stimmengewinne auszunutzen. Doch die Rechtspopulisten scheitern scheinbar an ihren eigenen, xenophoben Botschaften – so wie Heinz-Christian Strache in Wien, Norbert Hofer in Österreich, Geert Wilders in den Niederlanden oder Marine Le Pen in Frankreich, sie wissen ihr Potenzial auszuschöpfen, haben aber die relative Mehrheit der Bevölkerung gegen sich. Das hat auch die Mitte registriert und erfindet sich nun einfach neu – freilich, um die selben Ziele wie zuvor in neuem Gewand zu verfolgen.
Was an den alten Parteien inhaltlich kritisiert wurde, ist nun dank neuer Inszenierung und scheinbar neuem Verhalten unsichtbar oder unwichtig.
In Frankreich stellte so zum Beispiel Emmanuel Macron, ehemals Teil des unternehmerfreundlichen Flügels der Sozialisten, das politische Spektrum auf den Kopf. Macrons Variante von Weltverbesserung klingt nicht zufällig nach Obama und Trudeau: eine neue Bewegung und weg mit dem Alten. Auch er ist jung und fesch und präsentiert sich als Werkzeug zur Veränderung, vermied in seiner Kampagne, sich trotz seiner Vergangenheit im althergebrachten, ideologischen Spektrum einzuordnen – ein Held für alle. Typisch auch das neoliberale Maßnahmenpaket: Senkung des Defizits durch Kürzungen bei den Staatsausgaben (vor allem im Gesundheitsbereich und bei der Verwaltung), Pensionsreform, Senkung der Unternehmenssteuer auf 25 %, Senkungsmaßnahmen bei der Vermögensbesteuerung, Flexibilisierung und Reformen beim Arbeitsrecht. Mehr Wachstum und boomende Unternehmen sollen den Karren wie in Kanada also auch in Frankreich aus dem Dreck ziehen. Was an den alten Parteien inhaltlich kritisiert wurde, ist nun dank neuer Inszenierung und scheinbar neuem Verhalten unsichtbar oder unwichtig.
Dancing Stars statt Disneyfilm
Und in Österreich steht uns wohl ein ähnlicher Wechsel der politischen (Un-)Kultur bevor. Vieles ist in »Bewegung«. Neue Listen, politische QuereinsteigerInnen, demontierte Altparteien. Hatte schon die SPÖ gehofft, sich mit Christian Kern noch während der letzten Legislaturperiode neu zu erfinden und das Alleinstellungsmerkmal eines dynamischen, erfolgreichen »Politikers für alle« für sich beanspruchen zu können, muss sie nun für den kurzfristigen Erfolg dieses vorzeitigen Schnellschusses bezahlen. Die ÖVP zog nach, indem sie sich einfach selbst den richtigen Zeitpunkt aussuchte, um sich selbst zu zerstören und wie der T-1000 aus Terminator 2 als Sebastian Kurz (+ Anhängsel) neu zu formieren. Die erste Amtshandlung des Partei-Alleinherrschers: Neuwahlen vom Zaun zu brechen. Das war auch für die scheinbar nun entmachteten, konservativen Landesfürsten ein riskantes Manöver, schlägt aber die Alternative, bundesweit in der Bedeutungslosigkeit zu versinken oder das Langzeitprojekt Sebastian Kurz durch einen Parteiaustritt zu verlieren – etwa so, wie es den französischen Sozialisten mit Emmanuel Macron widerfahren ist.
Die Kunstfigur Kurz muss und will also nun vor allem eines sein: der neue Politik-Held, der konservative Austro-Obama oder Ösi-Trudeau, jünger und erfolgreicher als der Rest! Dabei hilft ihm – wie auch seinen strategischen Vorbildern – nicht nur das eigene Ego, sondern eine ebenfalls am Reißbrett aufgestellte »Bewegung«. Was bei den NEOS an der fehlenden Verhaberung mit dem Boulevard, am Charisma der Führung und an den im Vergleich bescheidenen, finanziellen Mitteln scheitert, was das Team Stronach in seiner Trump'schen Inkompetenz und dem tatterigen Gestammel des Namensgebers nicht glaubwürdig zu vermitteln vermochte, das soll nun die schon tot geglaubte, neue alte Volkspartei schaffen. Die Umfragen sehen Kurz bei bis zu 35 %, lassen zurzeit also einen Erfolg vermuten, der mit dem eines Trudeaus oder Macrons vergleichbar ist. Die post-demokratische Inszenierungsformel wäre damit dann auch in Österreich erfolgreich gelöst. Die SPÖ wäre überrumpelt, die FPÖ schaute ähnlich wie Marine Le Pen in Frankreich blöd aus der Wäsche. Strache und Co. haben aber immerhin einen entscheidenden Trumpf in der Tasche: Dank fehlendem Mehrheitswahlrecht gibt es für Sebastian Kurz ohnehin nur eine mögliche Regierungsform, um seine Heldensage weiterzuspinnen: Schwarz/Türkis-Blau.
Die Kunstfigur Kurz muss und will also nun vor allem eines sein: der neue Politik-Held, der konservative Austro-Obama oder Ösi-Trudeau, jünger und erfolgreicher als der Rest!
Das wird den neuen Macher der neuen Volkspartei jedoch vor keine allzu großen Probleme stellen. Im Gegensatz zu Justin Trudeau in Kanada benötigt er keine großen, gesellschaftsliberalen Würfe für eine gute Stimmung im Land; er muss nur die rechte Mehrheit in Österreich an- und ihr entsprechen und dem geifernden Boulevard gefallen. Im vom Rassismus und Ausländerhass verseuchten Blätterwald ist das eine einfache Übung, die er und seine Parteifreunde schon in der Vergangenheit gemeistert haben. Mit seinem Image und seiner »Bewegung«, die zum Beispiel mit einem bekannten Ö3-Moderator, dem ehemaligen Grünen Efgani Dönmez oder der Opernball-Lady Maria Großbauer bestückt ist (Anm. d. Verf.: Seit dem Erscheinen des Artikels wurden noch zusätzliche Promis wie z. B. der Mathematiker und Klimawandelzweifler Rudolf Taschner rekrutiert), lassen sich die Star-Bedürfnisse des Rests links der Mitte auch ganz gut abdecken. Und dann ist der Weg auch frei für die neoliberalen Umbaupläne der Schwarzen. Falls dem Team um Kurz kein großer Fauxpas passiert und die Umfragen recht behalten – und ein anderer Ausgang der Wahlen würde den internationalen Trends widersprechen –, heißt es also ab Oktober: Dancing Stars im Hohen Haus und »Nieder mit dem Sozialstaat!«. Die Linke, ob mit KPÖ PLUS im Parlament oder als außerparlamentarische Opposition, sollte sich die Donnerstagabende jedenfalls schon einmal freihalten.