12 Juni

Sicher!

von

Tatsächlich ist es schon längst an der Zeit, über »Sicherheit« zu sprechen. Eine Replik von Eva Schörkhuber

Die erste Petition, die mich wenige Tage, nachdem die russische Armee unter dem Oberbefehl von Vladimir Putin die Ukraine angegriffen hatte, erreichte, trug den Titel »Deutschland muss den Krieg beenden«. Dieser Titel ließ mich, ich kann es nicht anders sagen, erschaudern: War da nicht mal was? Gab es da nicht einmal ein tiefes Entsetzen darüber, was Nationen, die sich als selbst legitimierte Anstifter:innen von Krieg und Frieden begriffen, anrichten konnten? Trotzdem fiel es mir nicht so leicht, diese Petition nicht zu unterschreiben. Ich hätte mir gerne zu dem Gefühl verholfen, gegen diesen Krieg öffentlich Stellung zu beziehen, sehr viel mehr konnte ich ja nicht dagegen tun. Beinahe wäre ich sogar bereit gewesen, über den Titel und einige der Forderungen hinwegzusehen, mich damit zu beruhigen, dass die Initiator:innen in höchster Eile unter größtem Druck gehandelt hätten und sich deshalb nicht mit ausgewogeneren Worten aufhalten konnten.

Inzwischen sind etliche Monate vergangen, Monate, in denen die russische Armee unter dem Oberbefehl von Vladimir Putin unausgesetzt Leben und Städte zerstört, in denen Massaker verübt werden, in denen Männer gezwungen werden, in den Krieg zu ziehen, ungeachtet der körperlichen und seelischen Verstümmelungen, die sie für den Rest ihres Lebens mit sich tragen werden. In diesen Monaten haben sich auch die diskursiven Fronten verhärtet: Politiker: innen unterscheiden »Flüchtlinge« aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, aus Nigeria oder dem Sudan von »Vertriebenen« aus der Ukraine; Petitionen und offene Briefe reihen sich aneinander, ihre Unterstützer:innen stehen in Sozialen Medien, in Funk, Presse und Fernsehen hab Acht, die Worte werden immer schärfer, ein Nebensatz kann zur Zündkapsel einer Tretmine werden.

»Man hat uns die Zeit geraubt, und mit der Zeit [ist] die Kunst der Konversation […] verloren gegangen. Noch können wir etwas von der kreativen Ungewissheit, die in der Zeit liegt, zurückerobern«, schreibt Rita Segato in ihren Pädagogiken der Grausamkeit. Es ist ein enormes Privileg, über die Zeit zu verfügen, die es braucht, um Verhältnisse in ihrer gesamten Komplexität außerhalb einer engen Kriegslogik betrachten zu können. Die Menschen, die in den angegriffenen ukrainischen Gegenden leben, haben diese Zeit nicht, sie kämpfen um ihr Leben; die Menschen, die in Russland versuchen, eine Opposition aufzubauen, möglicherweise Soldaten dazu zu bewegen, zu desertieren, haben diese Zeit auch nicht. Aber wir, so schockstarr und ohnmächtig wir uns auch fühlen, wir hätten diese Zeit, die es braucht, um sehr komplexe Zusammenhänge nicht nur von der einen oder von der anderen Seite zu beleuchten.

Anlässlich des diesjährigen Europatages am 9. Mai ist ein weiterer offener Brief erschienen. Prominente Unterstützer:innen aus Kunst und Politik wenden sich an »den Bundespräsidenten, an die Bundesregierung, an den Nationalrat und an die Bevölkerung Österreichs«, um in Form eines »letzten Warnrufes an die freie Welt« eine »Debatte ohne Scheuklappen« über die »Zukunft der österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« zu fordern. Die darin perspektivierte »Zukunft« verengt sich zu militärischen Fragen: Es geht um die Ausstattung des Bundesheeres, um die Möglichkeit eines NATO-Beitrittes und die damit verbundene Auflösung des Neutralitätsstatuts.

Tatsächlich ist es schon längst an der Zeit, über »Sicherheit« und »Verteidigung« zu sprechen, zum Beispiel darüber, wie immer mehr Menschen aufgrund von ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen der Boden unter den Füßen wegbricht. Es ist Zeit, sich der Frage zu widmen, wie soziale und politische Errungenschaften, die beständig an Substanz verlieren, nicht nur verteidigt, sondern wieder auf kräftigere Beine gestellt werden. Keinem noch so geharnischten Militärbündnis wird es gelingen, die ökologischen und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen auf unserem Planeten aufzuhalten. Dafür sind große strukturelle Veränderungen notwendig, über die »ohne Scheuklappen« gesprochen werden sollte. Jetzt. Sofort. Auch in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, in Zusammenhang mit der ignoranten Abhängigkeit von Erdöl- und Erdgaslieferungen, in Zusammenhang mit imperialen Lebens- und Handlungsweisen.

Und es ist auch längst an der Zeit, Haltung zu zeigen, eine Haltung allerdings, die nicht nur darin Bestand hat, sich auf ein gut bewachtes Territorium – ob nun ein nationales, ideologisches oder eines einer »immerwährenden Neutralität« – zurückzuziehen. Das ist keine Haltung, das ist ein kalter Stellungskrieg, der jederzeit »ausbrechen« kann. Eine Haltung einzunehmen ist ein Verhandlungs- und Reflexionsprozess. Sich seiner selbst »sicher« sein zu können ohne sich bis auf die Zähne bewaffnet alles, was eine:n irritieren könnte, vom Leib zu halten, erfordert Mut, Durchlässigkeit und Beziehungsweisen, die sich keiner Kriegslogik fügen, die aber auch Konflikte nicht scheuen. Von unterschiedlichen Standpunkten aus zu denken, zu sprechen und zu handeln zeichnet Menschen aus. Militarisierung zerstört diese Fähigkeiten, sie raubt die Zeit und nimmt den Raum für »kreative Ungewissheit«, sie zählt zu dem Repertoire jener »Pädagogiken der Grausamkeit«, »welche die Subjekte lehren, trainieren und programmieren, das Lebendige und seine Vitalität in Dinge zu verwandeln«. Daraus kann keine Zukunft erwachsen, und schon gar nicht für die »Sicherheit« und die »Verteidigung« einer »freien Welt«.

Von Eva Schörkhuber erschien zuletzt in der Februar Ausgabe der Volksstimme ein literarischer Essay mit Illustrationen von Paulina Molnar unter dem Titel Wege durch die Stadt. Aufenthalt in Klagenfurt/Celovec.

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