Ein kleines Panorama des Krieges von Gabriele Michalitsch
»Die Eroberung der Welt und
die Befreiung der Welt sind
zwei im Bereich der Tatsachen
unvereinbare Formen des Ruhms …«
Simone Weil
Was ist Krieg? Was treibt den Krieg? Was hat Krieg mit Männlichkeit zu tun? Warum folgen so viele dem Schlachtruf? Liegt der Krieg gar in der Natur des Menschen? An einigen bruchstückhaften Antworten nach einem Streifzug durch politische Theorien, Anthropologie und Psychoanalyse versucht sich Gabriele Michalitsch.
»Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt« (Ingeborg Bachmann). Von Jahrhundert zu Jahrhundert mehren sich die Kriege und ihre Toten. Nie zuvor waren es so viele wie im letzten Jahrhundert. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind mehr Kriegstote zu zählen als im Zweiten Weltkrieg. Das Verhältnis von toten Zivilist*innen zu toten Soldaten hat sich von 5 Prozent im Ersten Weltkrieg auf über 90 Prozent gegen Ende des 20. Jahrhunderts verschoben. Mit dem Fortschreiten der technischen Zivilisation steigen Häufigkeit und Grausamkeit der Kriege. Mächtige Staaten mit starken Regierungen führen die meisten Kriege, die so genannten »primitiven« Gesellschaften die wenigsten.
Krieg führen
Der Krieg hat nichts mit der menschlichen Natur zu tun. Die Enthistorisierung des Krieges zur Naturkonstante dient seiner Legitimation. In ihr drückt sich die Herrschaftsideologie aus, die den Krieg weiterführen lässt.
Der Krieg ist eine Einrichtung. Er wird studiert, erforscht, geplant, vorbereitet, geprobt. Schließlich muss auch »der Feind« erst produziert werden. Der Krieg folgt ritualisierten, sozial sanktionierten Formen. Er hat sein eigenes Regelwerk. Marx zufolge ist er Politik der herrschenden Klasse, »die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel treibt und (…) des Volkes Blut und Gut vergeudet«.
Der Krieg ist schlicht der »wichtigste Fall der instrumentalen Aggression«. Dabei dient er nicht dem »Bedürfnis der verschiedenen beteiligten Nationen, für ihre aufgestaute Aggression ein Ventil zu finden«, sondern Wirtschaftsinteressen und dem »Ehrgeiz der politischen, militärischen und industriellen Führer auf beiden Seiten« (Erich Fromm).
Väter des Krieges
Sie formen den »militärisch-industriellen Komplex«, das Konglomerat von Rüstungsindustrie, Militär und Teilen des politischen Apparats, vor dessen anti-demokratischer Eigendynamik schon Dwight D. Eisenhower am Ende seiner Präsidentschaft warnte. Der militärisch-industrielle Komplex, der zunehmend Forschung und Medien einschließt, treibt Militarisierung und Aufrüstung voran und sabotiert Verhandlungslösungen bei internationalen Konflikten. Dabei konvergieren durchaus unterschiedliche Interessen an Profiten, politischem Einfluss und persönlicher Karriere in der »größte(n) Bedrohung für den Weltfrieden in unserer Zeit« (Mohssen Massarrat).
Staatsgewalt
Doch die Wurzeln des Krieges reichen tiefer. Als historisch wichtigste Staatsaktivität, die bis ins 20. Jahrhundert den größten Teil der öffentlichen Mittel beansprucht, ist der Krieg untrennbar mit Staatlichkeit verbunden. Schließlich geht der politische Verband des Staates Max Weber zufolge aus gewaltsamem Gemeinschaftshandeln hervor. Aus dem gelegentlichen Zusammenschluss zum Zwecke der Kriegsführung bildet sich das auf Dauer gerichtete Gebilde des Staates, charakterisiert durch das Monopol legitimer Gewaltanwendung.
Staatenbildung zielt auf Machtkonzentration, die mit Abgrenzung nach außen und Vereinheitlichung nach innen einhergeht. Gemeinsamkeit wird über Staatsangehörigkeit konstituiert. Die Zugehörigkeit als Staatsbürger beruht auf Kriegstüchtigkeit, denn: »Als politischen Volksgenossen erkennt der Waffentragende nur den Waffentüchtigen an. Alle anderen, Nichtwaffengeübte und Nichtwaffentüchtige, gelten als Weiber« (Max Weber). Staat, Krieg und Männlichkeit gehören demnach untrennbar zusammen und formen einen zentralen Kristallisationspunkt patriarchaler Ordnung.
Waffenbruderschaft
Bis heute wird die Waffenbruderschaft beschworen. So bezog sich US-Präsident Joe Biden bei der Begrüßung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Washington Ende letzten Jahres auf all die männlichen Attribute, die sie gleichsam als Inkarnation von Frankreich und den Vereinigten Staaten teilten: Standhaftigkeit, (Selbst-)Vertrauen, Stärke und Unerschrockenheit – ehe er abschließend um Gottes Schutz für die Truppen bat. »Diesen Geist der Brüderlichkeit« erwidernd, bestätigte Macron, angesichts des Krieges auf europäischem Boden »müssen wir einmal mehr Waffenbrüder werden«.
Die Potenz des »Beschützers«
Nahezu zeitgleich wurde bekannt, dass das brasilianische Verteidigungsministerium unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro 2022 rund 650.000 Euro nicht nur für Potenzmittel, sondern auch Penisprothesen seiner Angehörigen bezahlt hatte. Dabei durchziehen unzählige (hetero-)sexuelle Metaphern den Diskurs zu militärischer Sicherheit. So wurde die Detonation von fünf Nuklearsprengköpfen in Indien in den 1990er Jahren mit den Worten kommentiert: »(Wir) müssen beweisen, dass wir keine Eunuchen sind«, während die indische Presse die auffällige Ähnlichkeit der anpreisenden Versprechen von Viagra und Bomben thematisierte: »überlegene Stärke und Potenz« (Maya Lahav).
Der gesamte Militärdiskurs überhöht Männlichkeit und ordnet Weiblichkeit unter. Schließlich brauche das »schwache Geschlecht« stets seinen »Beschützer«. Militär und männliche Herrschaft stützen einander, indem sie Patriarchat und Krieg den Anschein des Natürlichen, Zwangsläufigen und Notwendigen verleihen.
Konformismus und Gehorsam
»Unmännlich« wäre es demnach, dem Schlachtruf nicht zu folgen. Selbst ohne jegliche Kriegsbegeisterung sorgen Autoritätshörigkeit, Konformismus, Gehorsam und Pflichtgefühl dafür, dass – vorrangig – Männer in den Krieg ziehen. Gewaltneigung oder Sadismus spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Wo es an entsprechender Willfährigkeit fehlt, helfen Zwangsvorkehrungen. Auch in der Ukraine durften »wehrtüchtige« Männer nach dem russischen Einmarsch das Land nicht mehr verlassen. Auf Meuterei und Desertion stehen meist Freiheitsstrafen, an der Front bedeutet »Feigheit vor dem Feind« nicht selten standrechtliche Erschießung.
Der Mensch ist wieder Mensch
Doch Krieg vermag den Vereinzelten auch Sinn zu geben. Viele finden in der Kameradschaft des Kampfes den Altruismus und die Solidarität, die sie im bürgerlichen Leben vermissen: »Während die meisten im zivilen Leben ihr Leben kaum für einen anderen aufs Spiel setzen oder ihre Nahrung mit ihm teilen würden, ist dies im Krieg an der Tagesordnung. Vielleicht könnte man sogar noch weiter gehen und vermuten, dass einer der Faktoren, die den Krieg attraktiv machen, eben die Möglichkeit ist, tief verborgenen menschlichen Impulsen zu folgen, die unsere Gesellschaft in Friedenszeiten – effektiv, wenn auch nicht ideologisch – für töricht hält« (Erich Fromm).
Zudem ist der Krieg für viele ein Abenteuer, das die unerträgliche Langeweile eines durch materiellen und kulturellen Mangel gezeichneten Lebens durchbricht. Schließlich bedeutet Krieg auch eine indirekte Rebellion gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit, wie sie das gesellschaftliche Leben sonst beherrschen: »Man sollte die Tatsache nicht unterschätzen, dass der Soldat – wenn er gegen den Feind um sein Leben kämpft – nicht gegen die Mitglieder seiner eigenen Gruppe um Nahrung, ärztliche Betreuung, Unterkunft und Kleidung zu kämpfen braucht« (Erich Fromm).
Der Feind ist kein Mensch
Während so der Krieg Soldaten »wieder zu Menschen« zu machen vermag, wird dem Feind gerade sein Mensch-Sein abgesprochen. Selbstverständlich setzt Krieg die Konstruktion eines stets »das Böse« inkarnierenden Feindes voraus, der entdifferenziert, abgewertet und enthumanisiert wird. Das befördert vor allem den Gruppennarzissmus, der der fehlenden Befriedigung im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft entspricht. Im »Wir-gegen-sie« wird Einheit gestiftet, innere Spaltung übertüncht, vermeintliche Überlegenheit geschaffen. Das Innere stärkt sich, indem es sich gegen ein Äußeres wendet. Im Namen der inneren Sicherheit unterläuft der Staat im Kriegsfall schließlich auch basale Rechte, Menschenrechte werden ausgehöhlt, Grundfreiheiten abgeschafft – zuerst Presse-, Rede- und Gedankenfreiheit –, Massenüberwachung und selbst Folter akzeptabel gemacht.
Wider das Leben
»Warum Krieg?«, auf diese Frage Albert Einsteins antwortet Freud, dass »man sich nur verwundert, wenn das Kriegführen noch nicht durch allgemeine menschliche Übereinkunft verworfen worden ist.« Doch so sehr der Bann des Krieges eine Frage der Vernunft scheint, muss jeder Appell an sie nicht ins Leere gehen, wenn der Krieg selbst Ausdruck instrumenteller Vernunft ist? Findet im Krieg nicht gerade die Eiseskälte der bloßen Ratio ihren unmenschlichen Ausdruck? Steht damit letztlich nicht die Vernunft der Aufklärung, die den Bezug zum Lebendigen, Verletzlichen, Menschlichen verloren hat, am Pranger? Und käme nicht jenseits jeder Vernunft ein umfassender Kriegsverzicht angesichts der Sexualisierung von Waffen und des Maskulinismus des Militärs einer Entmännlichung gleich, der Männer niemals zustimmen würden? Wenn Freiheit von Krieg zu erringen bedeutet, zu freien Subjekten zu werden, für die andere niemals Mittel sondern immer Zweck sind, wie kann dies in weltumspannendem Patriarchat, Kapitalismus und Staatsorganisation gelingen?
Während wir noch reflektieren mögen, rollen die Leopard-Panzer mit Hilfe von 2.500 Litern Diesel hundert Kilometer weiter. Wie sämtliche Militäremissionen fehlen auch ihre Emissionen in den Klimabilanzen. Im Zeichen der Klimakatastrophe droht das 21. selbst das blutige 20. Jahrhundert an Kriegen zu übertreffen. Schließlich wurde noch nie so viel für Waffen ausgegeben wie im letzten Jahr.
Gabriele Michalitsch ist Politikwissenschafterin und Ökonomin an der Universität Wien. In der Volksstimme 2022/07_08 erschien von der Autorin: »Männliche Härte: Krieg und Konkurrenz«.