Ein Beitrag zur Diskussion und Reflexion über linke Politik heute.
Von Christian Fuchs
Digitaler Kapitalismus Der digitale Kapitalismus ist eine Dimension des Kapitalismus. Er bezeichnet die digitale Vermittlung der Kapitalakkumulation, der Arbeit, der politischen Macht, der Kultur, der Ideologie und der gesellschaftlichen Kämpfe. Der digitale Kapitalismus ist mit anderen Dimensionen des Kapitalismus verbunden, nämlich mit dem Finanzkapitalismus, dem globalen Kapitalismus, dem hyperindustriellen Kapitalismus, usw. Es gibt viele Gesellschaftsprobleme des digitalen Kapitalismus: Die computergestützte Automatisierung hat eingebettet in Klassenverhältnisse zur Ungleichverteilung der Arbeit geführt. Manche machen viele Überstunden, während andere arbeitslos oder prekär beschäftigt sind. Weitere Probleme sind zum Beispiel die Ausbeutung digitaler Arbeit, die Monopolmacht transnationaler digitaler Konzerne, die digitale Überwachung, der Mangel an Raum und Zeit zur Diskussion, die durch die Beschleunigung im Internet mitverursachte Oberflächlichkeit der Information und Kommunikation im Internet, die Fragmentierung der Öffentlichkeit durch die Boulevardisierung der Medien und die Schaffung von Online-Filterblasen, Rassismus und Faschismus online; die digitale Aufmerksamkeitsökonomie, in der Influencer dominieren, die Dauerwerbung als reguläre Inhalte präsentieren, die nicht als Werbung gekennzeichnet sind; die Verbreitung von Falschnachrichten und einer durch Ideologie und Emotionen getriebenen postfaktischen OnlineKultur, etc.
Digitaler Sozialismus als vollautomatisierter Luxus- Kommunismus?
Der digitale Sozialismus ist eine Alternative zum digitalen Kapitalismus. Rosa Luxemburg versteht unter Sozialismus eine »Gesellschaftsordnung, die auf Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen beruht« (RLW 5, 588). Die Grundlage des Sozialismus ist für Marx der »durch Aufhebung des Pri-vateigentums mit sich vermittelte Humanismus« (MEW 40, 583). Posthumanistische Kommunisten wie Aaron Bastani verbinden mit der Computerisierung die Hoffnung auf die Entstehung eines hochtechnologischen, vollautomatisierten Luxus-Kommunismus, der ein Reich des Überflusses ist und in dem es Luxus für alle gibt. Vollautomatisierung ist einerseits nicht möglich, da Maschinen fehleranfällig sind, was menschliche Werktätigkeit bedingt. Andererseits ist Vollautomatisierung auch nicht wünschenswert, da es bestimmte Tätigkeiten gibt, deren Automatisierung menschenfeindlich ist. Ein Roboterpsychotherapeut wäre zum Beispiel an sich eine Form der Entfremdung. Ein Robotersozialismus, wo Roboter Menschen ersetzen, ist einerseits nicht möglich und andererseits nicht wünschenswert. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts muss hingegen ein computer- und robotergestützter Sozialismus sein, in dem digitale Technologien den Menschen entlasten und unterstützen, die menschliche Tätigkeit und Kontrolle aber nicht ersetzen. Liebe kann man nicht automatisieren. Der Sozialismus erfordert technologische Grundlagen, aber Hightech allein reicht nicht aus. Das Leitprinzip des Sozialismus ist weder die Technik noch die Liebe zur Technik, sondern die Verallgemeinerung der Liebe zu einem gesellschaftlichen Prinzip.
Radikaler Reformismus im digitalen Zeitalter
Marx und Engels hatten einerseits die konkrete Utopie einer durch Klassenkampf erreichten sozialistischen Gesellschaft. Andererseits sahen sie auch, dass das Fernziel durch Nahziele einer Politik des radikalen Reformismus antizipiert werden muss, weswegen sie im Manifest der Kommunistischen Partei zehn konkrete politische Forderungen formulierten, die zentral für die damalige linke Politik waren. Wir brauchen heute ein Äquivalent des Manifests, seiner Politik und seiner Forderungen für das 21. Jahrhundert. Ein Element linker Digital- und Medien-politik kann die Forderung nach der Vergesellschaftung/Verstaatlichung von Google und ähnlichen Unternehmen sein, Google könnte durch ein Netzwerk öffentlicher Universitäten betrieben werden. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist eine adäquate Antwort auf den durch den technischen Fortschritt vorangetriebenen Widerspruch zwischen computerisierten Produktivkräften und Klassenverhältnissen, wodurch die Aufhebung der ungleichen Verteilung der Arbeit sowie die Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit möglich ist. Wissen, Wissenschaft, technischer Fortschritt, Reproduktionsarbeit, Naturkräfte, Kultur und das Sozialsystem sind vom Kapital gratis benutzte Ressourcen. Die Gratisnutzung von gesellschaftlich produzierten Gütern ermöglicht die Forderung nach einem durch Kapitalbesteuerung finanzierten, bedingungslosen Grundeinkommen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein gesellschaftlicher Lohn für die gesellschaftliche Arbeiterklasse. Zur gesellschaftlichen Arbeiterklasse gehören neben Lohnarbeitenden unbezahlte und prekäre Arbeiter*innen, Hausarbeiter*innen, Prosument* innen, Konsumarbeiter*innen, die Crowd- Arbeit, die Zuschauerarbeit, die digitale Arbeit usw. Kapitalbesteuerung ist ein zentrales Element linker Politik. Das Kapital wird als Folge des Neoliberalismus viel zu wenig besteuert, wodurch die Ungleichheit zugenommen hat. Wir brauchen eine stärkere Besteuerung großer Konzerne, wozu auch die Einführung einer Steuer auf digitales Kapital gehört. EU-weite Versuche sind bisher gescheitert. Das Konzept der digitalen Betriebsstätte ist dabei von Bedeutung.
Gewerkschaften und Klassenkämpfe im digitalen Zeitalter
Für Marx ist der Sozialismus »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt« (MEW 3, 35). Klassenkampf, Streiks, Protestbewegungen, Partei und Gewerkschaften sind wichtig für linke Politik. Traditionelle Gewerkschaften haben Probleme mit der Vertretung und Organisierung atypischer Arbeitskräfte wie Freiberufler*innen. Einige Gewerkschaften haben gar nicht die Absicht, Freiberufler*innen zu vertreten, weil sie diese als Kapitalist*innen betrachten. Die Kommunistin Clara Zetkin schrieb angesichts des Aufstiegs der Frauenbewegung im späten 19. Jahrhundert, dass »die Gewerkschaftsbewegung geradezu einen Selbstmord« begeht, »wenn ihre Bestrebungen, die indifferente Masse des Proletariats zu gewinnen, die Arbeiterinnen nicht ebenso viel berücksichtigen wie die Arbeiter«. Im 21. Jahrhundert begeht die linke und gewerkschaftliche Bewegung Selbstmord, wenn unbezahlte, unterbezahlte und digitale Arbeit nicht berücksichtigt werden. Die digitale Arbeiterschaft sollte nicht als Unterorganisation traditioneller Gewerkschaften organisiert werden, sondern als Gewerkschaft digitaler Arbeiter*innen, die Gegenmacht zum transnationalen digitalen Kapital aufbaut und ausübt. Im Plattformkapitalismus ist die App das zentrale Produktionsmittel. Uber beutet Taxifahrer* innen aus, indem es die zugrundeliegende App monopolisiert und einen relativ großen Prozentsatz des Preises jeder Taxifahrt kassiert. Ein Streik von Uber-Fahrer*innen funktioniert im Idealfall so, dass es eine digitale Gewerkschaft der Digitalarbeiter*innen gibt, die eine gewerkschaftskontrollierte Konkurrenz-App entwickelt. Ein Streik der Uber-Arbeiter*innen bedeutet dann, dass sie mit ihren Taxis weiterfahren und die Gewerkschafts-App verwenden, wodurch Ubers Profite leiden. Dieses Handeln übt dann Druck auf Uber aus, um Forderungen durchzusetzen, wie jene nach einem globalen Mindestlohn von 15 US$/Euro pro Stunde für Plattformarbeitende (exklusive Investitionskosten). Das Internet ist eine Konvergenztechnologie, die tendenzielle Konvergenz von Produktion/Konsum, Arbeitszeit/Freizeit, Öffentlichkeit/Privatheit, Büro/Zuhause, usw. unterstützt. Daher sind im digitalen Kapitalismus Überwachung, Verletzung der Privatsphäre, Datenschutzverletzungen, Konsumentenschutzfragen Klassenfragen und Aspekte der digitalen Arbeit. Die heutige linke Politik braucht daher eine Konvergenz von Gewerkschaften, Arbeiterbewegung, Konsumentenschutzorganisationen, Datenschutz und Menschenrechtsorganisationen.
Linke Plattformpolitik
Die linke Medien- und Digitalisierungspolitik muss auch darüber nachdenken, wie Alternativen zu Google, Facebook, Amazon, Netflix, etc. erreicht werden können. Ein Vorschlag dazu ist, dass man Plattform- Kooperativen gründet. Plattform-Kooperativen sind selbstverwaltete Internetplattformen, die im Besitz der Nutzer*innen und digitalen Plattformarbeiter*innen stehen. Beispiele dafür sind die Musikplattform Resonate (Alternative zu Spotify), die alternative Mietplattform Fairbnb (Alternative zu Airbnb) oder Taxiapp (Alternative zu Uber). Plattformkooperativen sind wie die meisten Alternativmedien fair, demokratisch, nett – aber klein, unbedeutend, machtlos, ressourcenarm, prekär. Die Geschichte der Alternativmedien ist eine Geschichte der Marginalisierung, der fragmentierten Öffentlichkeit und der selbstausbeuterischen, unbezahlten, prekären Freiwilligenarbeit. Kooperativen können nicht so einfach mit dem Problem zurechtkommen, dass sie im Kapitalismus beim Warenverkauf mit kapitalistischen Konzernen konkurrieren. Eine weitere Form der Alternativen zum digitalen Kapital sind öffentlich-rechtliche Internetplattformen, also Plattformen, die von Organisationen wie ORF, ARD und BBC betrieben werden. Solche Medien haben einen öffentlich-rechtlichen Auftrag und sind nichtkapitalistisch. Derzeit ist es rechtlich nicht möglich, dass öffentlich-rechtliche Medien zu öffentlich-rechtlichen Internetplattformen werden. Zum Beispiel verbietet der Paragraph 4f des ORF-Gesetzes, dass der ORF 28 verschiedene Online- Plattformen anbietet. Linke Medien- und Digitalpolitik kann vieles tun, um die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien in der Gesellschaft und damit die Demokratie und die Öffentlichkeit zu stärken. Durch öffentlich-rechtliche Internetplattformen würden viele neue, innovative, demokratiestärkende Medienformate möglich, wie zum Beispiel ein öffentlich-rechtliches, nichtkapitalistisches YouTube ohne Werbung oder eine neue Form des Club 2 im Internetzeitalter, der Club 2.0.
Die Kommunikation des Sozialismus in Zeiten der Digitalisierung
Linke Aktivist*innen, Bewegungen und Parteien tun sich oft schwer mit der Kommunikation des Sozialismus in eine große Öffentlichkeit. Das hat einerseits mit politischer Marginalisierung zu tun, mit Ressourcenmangel linker Projekte innerhalb des Kapitalismus und der kapitalistischen Öffentlichkeit und dem Backlash gegen linke Ideen. Andererseits gibt es aber auch einen Mangel an adäquaten linken Kommunikationsstrategien. Linke Publikationen sind oft ästhetisch unattraktive Bleiwüsten. Noch schlimmer ist es, wenn linke Aktivist*innen versuchen, diese Bleiwüsten auf öffentlichen Plätzen oder vor Fabriken an Mitglieder der Arbeiterklasse zu verkaufen. Es gibt linke Medienprojekte, die vielversprechend sind und Ästhetik, Design, Infografiken, Visualisierung der Kapitalismus-kritik und des Sozialismus, soziale Medien, YouTube, Podcasts, Populärkultur, Satire, Online-Talkshows etc. als sozialistische Kommunikationsmittel einsetzen. Beispiele dafür sind die Online-Präsenz von Novara Media, die Druck- und Onlineformate von Jacobin, sozialistische Influencer wie ContraPoints, Philosophy Tube oder hbom-berguy, Democracy Now! oder Adbusters. Die Linke braucht außerdem mehr kritische organische Intellektuelle des Internetzeitalters wie Slavoj Žižek und Cornel West, die Redekunst, linke Theorie, sozialistische Politik, Witz und Unterhaltung kombinieren.
Sozialismus als Klassenkampf- Sozialdemokratie!
Klassenkämpfe, Streiks, Gewerkschaften, linke Bewegungen und Parteien sind mit der Komplexität und den Widersprüchen des digitalen Kapitalismus konfrontiert, wodurch sich alte Fragen nach politischer Strategie und Organisation in neuer Form stellen. Wir brauchen heute eine Erneuerung der Sozialdemokratie im Sinn von Rosa Luxem-burg als Klassenkampf-Sozialdemokratie, die für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts kämpft. Medien-, Kommu-nikations- und Digitalpolitik ist nicht der einzige Inhalt linker Politik, aber eine wichtige Dimension dieser. Der digitale Sozialismus als Strategie und Inhalt linker Politik muss Teil einer Klassenkampf- Sozialdemokratie sein, die Kämpfe zur Stärkung der Öffentlichkeit, der öffentlichen Dienste und der Gemeingüter führt. Digitaler Sozialismus ist heute möglich, da der demokratische Sozialismus möglich und notwendig ist.
Christian Fuchs ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der University of Westminster in London, wo er Direktor des Communication and Media Research Institute (CAMRI) ist, an dem seit den 1970er- Jahren Pionierarbeit zur Entwicklung des Ansatzes einer politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation geleistet worden ist. Fuchs ist Herausgeber der Zeitschrift tripleC: Communication, Capitalism & Critique und Autor von ca. 400 wissenschaftlichen Arbeiten.
Zu seinen aktuellsten Büchern zählen:
Das digitale Kapital: Zur Kritik der politischen Ökonomie des 21. Jahrhunderts (Mandelbaum, 2021),
Soziale Medien und Kritische Theorie (2. Auflage, utb, 2021),
Marxist Humanism and Communication Theory (Routledge 2021),
Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie (utb 2020),
Marx heute: Eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation, der Kultur, der digitalen Medien und des Internets (utb, 2020).