Ein historischer Abriss von Stefan Junker
Ausrufung der Republik und Ende des Kaiserreichs
Provoziert durch eine diplomatische Intrige des preußischen Kanzlers Otto von Bismarck, ließ sich der französische Kaiser Napoleon III. zu einem Krieg gegen Preußen hinreißen. Der Feldzug geriet zu einem Desaster für Frankreich. Ende Juli 1870 überschritten die ersten französischen Einheiten die deutsche Grenze. Aber zur großen Überraschung gelang es den deutschen Truppen unter General von Moltke d. Ä. Frankreichs Streitkräfte innerhalb weniger Wochen zurückzudrängen und vernichtend zu schlagen. Schließlich geriet Napoleon III. selbst in Gefangenschaft.
Keine zwei Tage nach diesem spektakulären Ereignis wird in Paris im Verlauf von Massenbewegungen, die das ganze Land erfassen, die Republik ausgerufen (4. September 1870). An eine Kapitulation vor den preußischen Truppen ist in dieser aufgeheizten Stimmung nicht mehr zu denken und Monate opferreicher Versuche beginnen, Paris von der Blockade durch die preußisch-deutschen Truppen zu befreien. Es ist Friedrich Engels, der diese Wochen mit militärwissenschaftlichen Analysen und verblüffenden Vorhersagen kommentiert. Ihm konnte nicht entgehen, dass die Misserfolge auf französischer Seite nicht zuletzt auf die Sabotage republikfeindlicher Offiziere zurückzuführen waren. Die rebellisch-revolutionäre Stimmung führte zu praktischen Maßnahmen. Ende Oktober 1870 besetzten Arbeiterbataillone der Nationalgarde das Hôtel-de-Ville in Paris und errichten einen Wohlfahrtsausschuss. Die Versuche der jungen republikanischen Regierung, den Widerstand der revolutionär gesinnten Nationalgarde zu brechen, scheitern. Ebenso scheitern die Versuche mit einer rasch in den Provinzen ausgehobenen Freiwilligenarmeen den Belagerungsring um Paris zu brechen. Die preußisch-deutschen Truppen konnten nicht zurückgeworfen werden, zugleich drängten die republikanischen Kräfte auf eine Entwaffnung der revolutionär gesinnten Nationalgarde in Paris.
Der 18. März 1871
Die militärischen Operationen der Regierung begannen noch im Schutz der Dunkelheit gegen drei Uhr morgens und hatten zum Ziel, sich der Kanonen der revolutionären Nationalgarde zu bemächtigen. Allerdings entgingen sie nicht der Aufmerksamkeit der Pariser Frauen. Und angesichts der eilig angebrachten Plakate, die den verhassten Namen Adolphe Thiers trugen, verstanden die Pariser*innen, dass dies ein Angriff auf die Verteidigungsfähigkeit der Stadt war. Dabei entbehrte die Forderung jeder rechtlichen Grundlage, denn die Nationalgarde hatte diese Kanonen aus eigenen Mitteln erworben unter Aufbringung großer Opfer angesichts der schon mehrere Monate dauernden Blockade. Wie so häufig in der Geschichte waren es auch hier die Frauen, von denen die Initiative ausging und diesen Diebstahl vereitelten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und mit ihr die Empörung. Hören wir zwei Augenzeugen: Der Historiker und Teilnehmer der Erhebung, Prosper Lissagaray, schreibt: »Der General Paturel, welcher die in der Mühle von La Galette genommenen Kanonen fortschaffen wollte, stieß in der Rue Lepic auf eine lebendige Barrikade. Das Volk hält die Pferde an, schneidet die Stränge ab, gewinnt die Kanoniere und bringt die Kanonen auf ihren Platz zurück. Auf der Place Pigalle ließ der General Subielle auf die Menge feuern, die sich in der Rue Houdon angesammelt hatte. Die eingeschüchterten Jäger rissen ihre Pferde zurück und wurden ausgelacht. Ein Kapitän stürzt mit geschwungenem Säbel vorwärts, verwundet einen Gardisten und fällt von Kugeln durchbohrt. Der General ergreift die Flucht. Die Gendarmen, welche hinter den Baracken das Feuer eröffnen, sind bald vertrieben. Der Kern der Truppen geht zum Volk über.«1 Ähnlich fließt es beim Anarchisten Elises Reclus in die Feder: Ein General »befiehlt, in die Menge zu schießen, aber seine Soldaten drängen ihn mit Kolbenstößen zurück, er wird den Nationalgardisten ausgeliefert, die ihn gefangen fortführen.« Ein Stabsoffizier lenkt sein Pferd gegen die Massen, aber das arme Tier fällt von Bajonettenstichen durchbohrt. Während »der Reiter verschwindet, wird es in 100 Stücke zerschnitten, die die Hausfrauen davontragen.«2 Das Zentralkomitee der Nationalgarde erklärt angesichts des nationalen Verrats der herrschenden Klassen und der sozialen Not es zur Pflicht des Proletariats, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in ihre Hand zu nehmen.3 Wie ist es zu dieser revolutionären Erhebung gekommen?
Die politischen und sozialen Maßnahmen der Kommune
Am 18. März proklamiert sich Paris zur Kommune und bestimmt Wahlen zum Kommunerat. Es ist darum zwischen Kommune und Zentralkomitee zu unterscheiden. Mehrere Städte Frankreichs folgen dem Pariser Beispiel, so Narbonne, Saint- Etienne, Toulouse, Lyon, Marseille und Le Creussot. Diese Kommunen sind nur von kurzer Dauer. Aber auch die 72 Tage, welche der Pariser Kommune beschieden sind, erlauben ihr nur kaum, ihren sozialen Inhalt zu entfalten. Greifen wir einige der wichtigsten Maßnahmen heraus, wobei gesagt sein muss, dass vieles im sozialhistorischen Kontext zu verstehen ist. Dazu gehören die Einstellung von Versteigerungen nicht eingelöster Pfänder in Leihhäusern ebenso wie die Stundung der Handelswechsel und fälligen Hypothekenzinsen. Eine ähnliche Bedeutung kommt der Stundung der Mieten bis zum 1. Oktober 1871 zu. Berühmt geworden sind Marxens Formulierungen über die politischen Maßregeln der Kommune, wie sie später als Räte, Sowjets, Kollektive usw. in den modernen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in Erscheinung getreten sind. Die Delegierten sollten unter ständiger Kontrolle durch die Wahlkörper und jederzeit abrufbar sein sowie ihren Dienst zu Arbeiterlohn verrichten. Die Trennung von Exekutive und Legislative sollte aufgehoben werden. Die Kommune, hieß es in einem berühmt gewordnen Manifest, sollte zum Organisationsprinzip ganz Frankreichs werden, das sich aus föderierten Kommunen zu konstituieren habe.4 Zu den ersten Dekreten der Kommune gehörte die Abschaffung des alten stehenden Heeres und die Einführung allgemeiner Volksbewaffnung. Es wurden 10 Kommissionen gebildet, die dem Kommunerat zuarbeiteten. Die Entlohnung aller Verwaltungstätigkeiten durfte die Höhe des durchschnittlichen Arbeiterlohns nicht übersteigen. Außerdem wurde eine strikte Trennung von Kirche und Staat verfügt. Die Privatvermögen der Regierungsmitglieder wurden eingezogen. Ein weiteres Dekret betraf die Übergabe der von ihren Besitzern verlassenen Werkstätten und Fabriken an Kooperativgenossenschaften. Dies war eine Maßnahme gegen die grassierende Arbeitslosigkeit, zeugt aber auch davon, dass das Eigentum kleiner und mittlerer Betriebe unangetastet blieb. Häufig erwähnt wurde auch das Dekret über die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäckergesellen.
Militärischer Widerstand gegen die Konterrevolution
Revolutionen und Aufstände werden gewöhnlich mit militärischer Gewalt niedergeworfen. Darum kommt der Organisation militärischen Widerstands besondere Bedeutung zu. Selbstredend konnten die schwierigen Aufgaben, Wahl geeigneter Offiziere, Koordinierung militärischer Operation usw. in der kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, nur bedingt erfüllt werden. Schließlich führten die Differenzen über diese Frage zur Spaltung im Kommunerat in Jakobiner und Föderalisten. Mit Bismarck und v. Moltke war die Versailler Regierung übereingekommen, dass Teile der alten Armee aus der Gefangenschaft entlassen werden, um sie bei der Niederwerfung der Kommune zu verwenden. Die ersten Kontingente trafen bereits im April ein, und mit Ihnen eröffnete die Regierung die Angriffe auf die Hauptstadt. Die Pariser Ringmauer und die Stadtviertel Passy, Auteuil und Grenelle wurden zuerst bombardiert, während es in einigen Pariser Vororten zu Straßenkämpfen kam. Die schlecht bewaffnete und nur über geringe militärische Erfahrung verfügende Nationalgarde musste schließlich unterliegen. Es fehlte auch nicht an offenem Verrat, wie bei der Öffnung des Tores von Saint- Cloud. Am 21. Mai tagte der Kommunerat ein letztes Mal. Unter Führung des Polen W. Wroblewski verteidigten die Kommunarden die letzten Stellungen in Buttes-aux-Cailles und auf der Place Jeanne d’Arc. Am Abend des 25. Mai befand sich der größte Teil der Stadt in den blutgetränkten Händen der Versailler. An die 20.000 Kommunarden wurden niedergemetzelt, darunter viele, die nicht an den Kämpfen teilgenommen hatten, auch finden sich viele Frauen, Kinder und alte Menschen unter den Toten.
Schlussfolgerungen
Marxens Bemerkung am Anfang seiner Schrift über die Kommune, Der Bürgerkrieg in Frankreich, erscheint mir besonders hervorhebenswert. »Aber die Arbeiterklasse«, schreibt er da, »kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.« An die Stelle dieser Maschine, für die er das Bild einer »Boa Constrictor« verwendet, welche der Gesellschaft die Luft zum Atmen nimmt, hat eine das politische und soziale Leben gleichermaßen demokratische und selbstbestimmte Organisation zu treten. Das gesellschaftliche Ziel dieser Maßnahme müsse es, so Marx, unmöglich machen, dass sich einzelne Personen oder Gruppen an die Spitze der Gesellschaft stellen und dieser ihren Willen aufzwängen. Davon sind wir heute mindestens genau so weit entfernt, wie vor 150 Jahren.
1 Lissagaray, Prosper: Geschichte der Kommune von 1871, Stuttgart 1904, 75.
2 Helmut Swoboda, Die Pariser Kommune 1871, München 1971, 41.
3 Karl Marx: »Der Bürgerkrieg in Frankreich«. MEW 17, 335–336. »Le prolétariat, en face de la menace permanente de ses droits, de la négation absolue de toutes ses légitimes aspirati-ons, de la ruine de la patrie et de toutes ses espérances, a compris qu’il était de son devoir impérieux et de son droit absolu de prendre en main ses destinées et d’en assurer le tri-omphe en s’emparant du pouvoir.« Commune de Paris, La Journal Officiel de la Commune. 21. mars 1871, 46.
4 Über dieses »Manifest« gibt es eine ausgedehnte Debatte, auf die einzugehen, hier der Platz fehlt. Das Dokument, auf das sich Marx bezieht findet sich in » La Journal Officiel de la Commune«, 902–905. Marx kannte nicht das Original, son-dern nur aus den Berichten der ihm in London vorliegenden Presse. Daily News vom 21.4.1871, in: Adoratsky [Hrsg.], Archiva Marxa i Engelsa 1934, Bd. 32, 194. Das Manifest findet sich vollständig wiedergegeben in Gustav Lefrançais »Etude sur le movement communaliste a Paris«, 1871, 240–241.