Charlotte Dumard zeigt anschaulich, wie mathematische Grundbegriffe vermittelt werden können und welchen Erkenntniswert Gedankenexperi mente und Abstraktionen für unser Verständnis von Gesellschaft haben. Warum auch Parallelität eine Frage der Repräsentation ist und eine genaue Repräsentation ohne Perspektive unmöglich ist, wird schlussendlich auch klar.
Schulsituationen
In der euklidischen Geometrie geht es bei Parallelität um parallele Geraden. Ein Begriff, den alle über zwölf Jahren wahrscheinlich gut kennen. Einige unter zwölf auch. Interessanterweise werden in meinem Mathe-Schulbuch der 1. Klasse parallele Geraden darüber definiert, was sie nicht haben: »Parallele Geraden haben keinen Schnittpunkt.« Eine viel schwierigere Vorstellung als sie im ersten Moment wirkt. Ich habe in der Schule ein paar Pflanzenstäbe, die aus Bambus, die wir alle von jeder ein bisschen zu groß gewachsenen Pflanze kennen. Sie stellen meine Geraden dar und sind hochpraktisch, ich verwende sie von der ersten Klasse (Parallelität) bis zur 6. Klasse (Vektoren). Manchmal, weil es doch immer wieder nötig ist, bis in die 8. Klasse. Den 1. Klässler:innen erkläre ich parallele Geraden so: Sie sollen sich vorstellen, diese zwei Stäben seien unendlich lang. Sind sie parallel, dann treffen sie sich nie. Egal, wie weit wir sie entlang spazieren und an ihnen entlang schauen. Unendlich lang, ohne Ende dürften sie werden, und sie würden sich nie in die Quere kommen. Spätestens in diesem Moment kommen die spannenden Fragen. »Was ist eigentlich Unendlichkeit?« ist immer dabei. IMMER. Das aber wäre einen eigenen Beitrag wert, dafür reicht der Platz hier nicht aus. Aber auch Austausch wie dieser hier: »Aba, aba Frau Professor! Es geht gar nicht, sie können nicht nicht aufhören! Wenn sie so lang werden, treffen die Stäbe den Boden/die Wand/die Decke!« »Stimmt natürlich. In der Praxis geht es nicht, es ist ein Gedankenexperiment. Versuche, dir vorzustellen, du bist draußen, vielleicht auf einem Feld, und du hast gaaaaanz viel Platz!« »Draußen ist auch irgendwann ein Gebäude oder irgendwas.« »Klar. Dann stelle dir vor, du schwebst im Weltraum, da ist nichts weit und breit …« Eine Variante mit Bleistiften, die nicht ewig lang werden können, sonst könnte niemand damit schreiben, gab es auch dieses eine Mal, als ich meine Bambus-pflanzenstäbe vergessen hatte.
Alles ist berechtigt und ergibt Sinn. Weil Parallelität ein abstrakter Begriff ist. So abstrakt, dass er zuerst sogar über Gegeneigenschaften definiert wird. So abstrakt, dass Parallelität in der Tat nicht existiert. Geraden existieren nicht. Eine Gerade ist eine gerade, unendlich lange, unendlich dünne und in beide Richtungen unbegrenzte Linie. Aber was heißt hier bitte »unendlich dünn«? »Unendlich lang« kann sich vielleicht noch jede:r vorstellen, aber »unendlich dünn«? Eine Gerade besteht aus unendlich vielen Punkten. Ein Punkt ist ein Objekt ohne Dimension. Wie kann ein Objekt gar keine Dimension haben? Keine Breite, keine Dicke, keine Höhe? Und egal, wie gespitzt die Mine meines Bleistiftes ist, egal, wie sanft ich ihn auf das Papier drücke: Der Punkt, der entsteht, ist eigentlich kein Punkt. Er hat einen Durchmesser, auch wenn ich ihn mit meinem Schullineal nicht abmessen kann. Er hat sogar eine Dicke, weil er aus gar nicht so wenigen Grafitkristallen (ja, ja, Grafit, nicht Blei!) aus der Mine besteht. Ebene geometrische Figuren (die kennt ihr alle, nämlich die Quadrate, Kreise, Dreiecke …) sind nur abstrakte Objekte, Repräsentationen von reellen, greifbaren Objekten. Ein Rechteck hat Länge und Breite, aber keine Dicke, so etwas gibt es im echten Leben nicht. Wozu das Zeug dann? In den Klassen entstehen immer hochspannende Gespräche, wenn wir über Abstraktum und Unendlich-keit sprechen. Es hat etwas Philosophisches. Es fasziniert. Die 10-Jährigen lieben die Thematik, sie fragen danach, es hat etwas von einer unerreichbaren, magischen Parallelwelt.
Soeben existiert Parallelität nicht. Aber jede:r weiß, was sie ist. Und Parallelität hat auch im Alltag viele Anwendungen. Diese sind zwar meist nicht mehr ganz so mathematisch, aber trotzdem mit der Mathematik verwandt.
Parallelwelten – Parallelgesellschaften
Wir haben alle irgendwann einmal einen Film gesehen, ein Buch gelesen, wo es um Parallelwelten oder -universen geht. Wir wissen alle, was damit gemeint ist. Parallelwelten verlaufen nebeneinander. Meistens ignorieren sie einander, bis irgendeine Katastrophe stattfindet oder bis irgendwer auf der falschen Seite angekommen ist. Was so oder so zu irgendeiner Katastrophe führt, sonst gäbe es den Film oder das Buch nicht. Sie ignorieren einander, bis sie voneinander erfahren, bis sie einander wahrnehmen. In dem Moment, in dem ich eine Parallelwelt wahrnehme, erfahre ich, dass es ein anderes »Ich« gibt, der:die fast dasselbe erlebt hat wie ich. Aber eben nur fast dasselbe. Es darf nicht genau dasselbe sein: Wäre es genau dasselbe, würde es sich erstens um identische Welten handeln und zweitens würden wir diese andere sogenannte Parallelwelt gar nicht wahrnehmen können, weil sie … naja, sich von dieser einen, in der wir gerade sind, nicht unterscheidet. Gerade fällt mir auf, dass ich den Begriff »identisch« bis jetzt verdrängt habe. Identische Geraden sind ein Sonderfall: Sie sind parallele Geraden mit einem gemeinsamen Punkt (einem Schnittpunkt). Damit habe ich meine 6. Klasse vor kurzem im Distance-Learning gequält. Ohne Bambuspflanzenstäbe, die waren leider in der Schule geblieben.
Wir könnten es natürlich dabei belassen und damit unsere Parallelwelten gut erklären. Der Schnittpunkt ist der Moment, in dem die zwei Welten voneinander erfahren. Parallel und Schnittpunkt, das passt. Der Witz ist aber (die Mathematik ist witziger, als jede:r denkt!), dass zwei Geraden eigentlich undenklich viele gemeinsame Punkte haben, wenn sie parallel sind UND einen gemeinsamen Punkt haben. Nämlich jeder einzelne Punkt, der auf einer der zwei Geraden liegt, liegt auch auf der anderen. Die zwei Geraden sind identisch, sie müssen gar nicht getrennt betrachtet werden. Ob sie voneinander wissen, ist eine offene Frage … Wir sind also zu identischen Welten zurückgekommen, die eigentlich eh wieder nur eine sind. Logisches Dilemma: Parallelwelten, die voneinander erfahren, sind identisch und können gar nicht voneinander erfahren, sie sind einander.
So oder so, mathematisch betrachtet sind Parallelwelten gar nicht parallel. Höchstens ignorieren sie sich, so gut es geht. Und wenn sie sich nie treffen, werden sie nie voneinander wissen. Im selben Schulbuch der ersten Klasse sind neben der Definition von parallelen Geraden noch zwei Kleinigkeiten zu lesen: »Sie haben immer denselben Abstand zueinander« und »Wir schreiben g || h«. Wunderbares Symbol der Parallelität, das meine zwei Pflanzenstäbe darstellt, die sich nie treffen, und das zugleich ein unüberwindbares Hindernis darstellt: g wird nie bei h vorbeischauen können, h wird g nie zu nah treten können. Neben dem Fakt, dass g und h sich nie treffen dürften, dürfen sie nicht näher zueinander kommen. Aber auch nicht weiter auseinander driften. Für immer denselben Abstand. Irgendwie logisch. Sie wissen auch nicht voneinander, außer sie können einander sehen. Ein bisschen wie ein:e Autofahrer:in auf der Bundesstraße, der:die die parallele Autobahn in der Ent-fernung sehen könnte.
Dazu kommt ein (mathematisch, nicht gesellschaftlich gesehen) winziger Punkt. Bis jetzt hat sich nie die Frage einer Wertung gestellt. Es ist auch nicht so, dass die eine Gerade die »Hauptgerade« und die andere dann die parallele Gerade wäre (also die Autobahn und die parallele Bundesstraße). Es gibt sie nicht, die Gerade, die »wichtiger« ist als die andere. Sie haben dieselbe Rolle, sind austauschbar. Mathematisch geschrieben: g || h <=> h || g. Auf Umgangsdeutsch übersetzt: »g ist parallel zu h« bedeutet genau dasselbe wie »h ist parallel zu g«. Wenn die Bundesstraße parallel zur Autobahn verläuft, dann auch umgekehrt. Es gehören zwei (oder mehr) Geraden dazu, damit Parallelität überhaupt nachweisbar ist. Eine parallele Gerade existiert nicht ohne ihre Kolleg:in(nen).
So gesehen wären Parallelgesellschaften zwei (oder mehr) Gesellschaften, erstens die einander nie treffen werden und daher nichts voneinander wissen würden; zweitens – zueinander immer denselben Abstand haben. Als ob sie Respekt oder gar Angst voreinander hätten. Dazu kommt: drittens – Parallelgesellschaften können nur miteinander und durcheinander existieren, sie benötigen einander. Viertens – im Falle einer Parallelität sind beide Gesellschaften dann Parallelgesellschaften: Es gibt nicht eine »Hauptgesellschaft« und eine »Parallelgesellschaft«. Beide sind gleichberechtigt, beide hängen voneinander ab und beide existieren als Parallelgesellschaft nicht ohne die andere. Wenn es nach der Mathematik ginge, würden Parallelgesellschaft nebeneinander leben, einander nie treffen, nie stören, aber auch nie kennenlernen. Was es gäbe, wären Gesellschaften, die ihr Leben leben und irgendwann und irgendwo vielleicht voneinander erfahren würden.
Parallelität wird zum Schluss eine Frage der Repräsentation: Je nachdem aus welchem Winkel ich parallele Linien beobachte, eine genaue Repräsentation ohne Perspektive ist unmöglich. Früher oder später müssten sich die unendlich lang werdenden parallelen Linien treffen. Und wenn ich die zwei Parallelen aus dem richtigen Winkel betrachte, liegen sie sogar übereinander und sind doch identisch.
Nach zwei Studienabschlüssen und einer Dissertation in der Elektrotechnik hat sich Charlotte Dumard aus Leidenschaft für die Mathematik dazu ent-schieden, in Wien ein Lehramtsstudium in Mathematik und Physik anzufangen, das sie 2012 abgeschlossen hat. Seitdem ist sie begeis-terte Mathematiklehre-rin in einem Wiener Gymnasium und beschäftigt sich seit ein paar Jahren auch mit politischer Bildung im Mathematikunterricht.