Theater braucht es nicht trotz Corona, sondern gerade wegen Corona, meint
MANFRED MUGRAUER.
Nach Monaten des kulturellen Shutdowns begann der Kulturbetrieb im September wieder langsam anzulaufen. Die Veranstalter unternahmen gewaltige Anstrengungen, um Theater, Konzertsäle, Kinos und Museen zu sicheren Orten zu machen. Vielerorts wurden die Zugänge umgebaut, es gab Einbahnstraßensysteme für die BesucherInnen, MitarbeiterInnen wurden regelmäßig getestet. Publikum war aufgrund der behördlichen Auflagen nur mit Einschränkungen zugelassen, Maskenpflicht bestand zuletzt nicht nur am Weg zum Sitzplatz, sondern auch während der Vorstellung. Präventionskonzepte, Belüftungssysteme und disziplinierte BesucherInnen waren dafür verantwortlich, dass von den Kulturhäusern kein nachweisbares Infektionsgeschehen seinen Ausgang nahm. So gab es etwa in der Wiener Staatsoper bei insgesamt fast 50.000 BesucherInnen keine einzige behördliche Nachfrage zwecks Contact Tracing.
Obwohl die Theater zum Vorbild wurden, wie in der Pandemie ein wesentlicher Teil des Alltags sicher organisiert werden kann, blieb eine Wertschätzung dieses Engagements aus. Anfang November wurde der Kulturbetrieb erneut so gut wie lahmgelegt. Theater, Opernhäuser und Museen werden bis auf weiteres menschenleer bleiben.
Freizeitvergnügen für Kulturverliebte
Nachdem der Kulturbetrieb bereits von März bis Juni stillgestanden war, bringt die neuerliche Schließung der Theater größte Frustration beim Publikum und den KünstlerInnen. Die Wiener Staatsoper, die Wiener Philharmoniker oder die Sängerknaben sind zwar gut genug dafür, das Image Österreichs als »Kulturnation« aufzupolieren, offenbar wurde aber die Atempause im Sommer nicht zur Erstellung von Konzepten genutzt, wie im Falle eines weiteren Lockdowns das kulturelle Leben aufrecht erhalten werden könne. Für die betroffenen Kultureinrichtungen sind zwar ein Fixkostenzuschuss und Umsatzersatz vorgesehen, es geht jedoch nicht nur um die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns im Kulturbereich, sondern auch um den gesellschaftlichen Schaden.
Während der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Anfang November Kultur als »Lebenselixier einer Gesellschaft, die gemeinsam durch eine Krise geht« bezeichnete, ist sie heimischen Regierungsmitgliedern nicht einmal ein Lippenbekenntnis wert. Finanzminister Gernot Blümel, immerhin früherer Kulturminister, war allein um den Wintertourismus und das Weihnachtsgeschäft besorgt, und nicht um die kulturellen Kollateralschäden des Lockdowns. Man muss auch mehr als akribisch recherchieren, um Statements von Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer zur aktuellen Misere ausfindig zu machen. Als engagierte Kämpferin für ein Offenbleiben der Kulturhäuser hat sie sich nicht hervorgetan. Zur Theatersperre fiel ihr nicht mehr ein als die banale Beschwichtigung, dass auch die aktuelle Situation »endlich« sei.
Bezeichnend für den Stellenwert der Kultur ist die konkrete Begründung der Maßnahmen. In der Lockdown-Verordnung rangieren Theater, Konzertsäle und Kinos hinter Wettbüros, Tanzschulen, Automatenbetrieben und Schaubergwerken. Im Gegensatz zu Baumärkten und Beauty Salons gilt Kultur nicht als systemrelevant. Auch auf die Frage, warum Theater nicht zu denselben Regeln wie Kirchen offen bleiben können, blieb die Regierung jede Antwort schuldig. Im deutschen Bund-Länder-Beschluss wiederum wird die Kultur begrifflich der »Freizeitgestaltung« untergeordnet und mit bloßer Unterhaltung gleichgesetzt. Kunst wird als im Grunde überflüssige Erbauung abgetan, auf die man eben auch mal einige Monate verzichten könne. Ein ähnliches Kulturverständnis zeigte Sebastian Kurz, als er im Ö1-Morgenjournal abschätzig von den »Kulturverliebten« sprach, die nun die Schließung der Kulturstätten beklagen. Die bloße Tatsache, dass Kultur in der Regel in der eigenen Freizeit konsumiert wird, scheint dem Kanzler ausreichend zu sein, Opern, Theater und Konzerthäuser auf Freizeitangebote und eine Art »Wellness« zu reduzieren. Tatsächlich sind sie »Orte des ästhetischen Genusses«, aber auch »der Begegnung, des Diskurses, der Bildung und Aufklärung«, wie in einer aktuellen Protestnote der Berliner TheaterdirektorInnen zu lesen ist.
Kultur ist existenzrelevant
Das Ungleichgewicht zwischen den »Maßnahmen« zur Pandemieeindämmung, die den privaten Bereich betreffen, und jenen in der Arbeits- und Geschäftswelt, ist geradezu grotesk. Einkaufszentren blieben zunächst offen, Museen mussten schließen. Erlaubt ist, in überfüllten Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren und dort täglich acht Stunden mit KollegInnen zu verbringen, nicht erlaubt ist jedoch, im Theater, Kino oder Konzertsaal zu sitzen. Langfristig betrachtet wird diese von wirtschaftlichen Zweckmäßigkeiten diktierte Diskrepanz ebenso wenig kommunizierbar sein wie die Tatsache, dass man zwar Gottesdienste feiern, aber keine Theateraufführung besuchen darf. Angesichts dieser offensichtlichen Schieflage sollte es auch kein Tabu sein, die Verhältnismäßigkeit der aktuellen Maßnahmen von den Gerichten überprüfen zu lassen. Der frühere Sektionschef Manfred Matzka sieht etwa keine sachliche Rechtfertigung für den kulturellen Lockdown, gibt es doch keine Evidenz dafür, dass die Schließung der Theater eine Auswirkung auf das Infektionsgeschehen hat.
Im März wurde einzelnen Klagen über geschlossene Kulturhäuser meist naserümpfend mit dem Hinweis auf Leichenwägen in der Lombardei begegnet. Selbst besonnene Menschen waren damals der Meinung, auf Theater, Konzerte und Kino müsse man jetzt wohl eben länger verzichten. War zunächst vor allem von den Wirtschafts- und Tourismusfaktoren der Veranstaltungsbranche die Rede, ist nun auch das Bewusstsein von der gesellschaftlichen Bedeutung der Kunst im Wachsen. So wichtig die Gesundheit auch ist, eine Welt ohne Kultur ist nicht vorstellbar. Kultur ist nicht nur »systemrelevant«, sie ist existenzrelevant. Jene, die darauf aufmerksam machen, dass das Leben nicht nur aus Lohnarbeit, Konsum und Beten besteht, werden es nicht auf Dauer akzeptieren können, als egoistische HedonistInnen diffamiert zu werden.
Gerhard Ruiss, Geschäftsführer der IG AutorInnen, spricht gegenüber dem »Kurier« bereits von einer irreparablen Schädigung des Kulturbereichs auf Jahre hinaus. Dies gilt nicht zuletzt für die Theaterlandschaft. Ein Betrieb von Theatern und Konzerthäusern im »On-Off«-Modus macht eine Planung unmöglich. Ein Ticketkauf droht jede Verbindlichkeit zu verlieren, weshalb die meisten Häuser den Vorverkauf selbst für Dezember gestoppt haben. Das Publikumsvertrauen wird dadurch weiter erschüttert. Viele Leute haben Angst vor einem Theaterbesuch, obwohl das Theater ein Ort ist, um Mut und Hoffnung zu fassen, wie Claus Peymann im November im Ö1-Interview festhielt.
Kampf gegen die Pandemiemüdigkeit
Kultureller Kahlschlag wird sich kaum als wirksame Maßnahme gegen die Pandemiemüdigkeit herausstellen. Die Erkenntnis, dass Kunst einen wichtigen Beitrag leisten kann, die Krise sinnvoll zu gestalten, ist bei den politisch Verantwortlichen jedoch noch nicht angekommen. Weitsicht zählt nicht zu den Stärken jener Regierung, die im Kampf gegen Corona vor allem auf Angstszenarien setzt. Langfristig betrachtet wird es in der Pandemie auch darum gehen, der zunehmenden Vereinsamung der Menschen und deren psychischen Belastungen etwas entgegenzusetzen. Eine Welt der sozialen Distanz hat keine Zukunft, und es ist auch die Aufgabe der Kultur, den Zumutungen eines permanenten Ausnahmezustands entgegenzuwirken. Insofern ist es auch keine wirkliche Alternative, mit virtuellen Formaten den analogen Phantomschmerz zu lindern. Gewiss ist es zu befürworten, dass die Theater Mitschnitte aus ihren digitalen Archiven kostenlos per Stream zugänglich machen. Ein Live-Erlebnis im Theater und Konzertsaal ist jedoch durch nichts zu ersetzen.
Auch im internationalen Maßstab besteht wenig Einsicht in die langfristigen Perspektiven dieser Krise und die Relevanz von Kultur. Realistischerweise werden wir bis weit ins kommende Jahr hinein mit der Pandemie konfrontiert sein. Um die Intensivstationen angesichts steigender Infektionszahlen vor einem Kollaps zu bewahren, könnten auch in den nächsten Monaten weitere Shutdowns notwendig werden. Je länger der Corona-Ausnahmezustand dauern wird, desto mehr wird sich herausstellen, dass pauschale Lockdown-Regelungen – darunter etwa die Schließung der Theater und Konzertsäle – nicht zielführend sind. Dies gilt nicht nur für den Kulturbereich, sondern auch für andere Felder wie etwa den Massensport.
Organisiert euch!
Zwar wird in aktuellen Debatten verstärkt das Bild vom Theater als Ort der Begegnung und des Diskurses bemüht, nun kommt es aber auch darauf an, um diese Orte und deren gesellschaftliche Relevanz zu kämpfen. Bereits im April hat sich die Initiative »ohne uns ist es dunkel und still« als Interessensvertretung der VeranstaltungsdienstleisterInnen gebildet. Die Beteiligung an deren Kundgebungen und Schweigemärschen ließ jedoch nicht erahnen, dass aktuell 180.000 MitarbeiterInnen dieser Branche an den Rand ihrer Existenz gedrängt werden. In Deutschland und Italien sind Kulturschaffende hingegen massenhaft auf die Straße gegangen. Es falle schwer zu verstehen, »weshalb gerade Konzerthäuser und Theater als besonders risikoreich angesehen werden«, so namhafte deutsche Orchester in einer gemeinsamen Erklärung. »Anders als im Frühjahr, als wir weniger wussten und nicht einschätzen konnten, wo die Gefahren lauern, tragen wir diese politische Entscheidung, die Theater zu schließen, nicht mit«, protestierte das Staatstheater Mainz in einem offenen Brief gegen diese »sinnlose Maßnahme«.
Deutliche Worte wie diese sucht man hierzulande vergebens. Während der Deutsche Bühnenverein umgehend gegen die Schließung der Theater protestierte, blieb es in den Direktionsetagen der österreichischen Häuser verhältnismäßig ruhig. Aron Stiehl, Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, hat zwar vor wenigen Wochen eine gemeinsame Protestnote der heimischen Theater angekündigt, seither war aber nichts dergleichen zu vernehmen. Im Frühjahr war das hohe Maß an Konformismus noch der (illusionären) Hoffnung geschuldet, dass sich die Situation spätestens im Herbst wieder normalisieren werde. Diese Illusion wurde Anfang November zerstört. Den DirektorInnen wurde ihre Kooperationsbereitschaft mit einem zweiten Lockdown gedankt, ihre Unterwürfigkeit hat sich rückblickend als Fehler herausgestellt.
Offensichtlich haben in Österreich SeilbahnbetreiberInnen und die katholische Kirche eine stärkere Lobby als Kunst und Kultur. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist ein Schulterschluss der großen Häuser mit der »freien Szene« notwendig. KünstlerInnen und Kulturschaffende müssen sich organisieren und zusammenarbeiten, über Spartengrenzen hinweg. Da uns Corona das gesamte kommende Jahr begleiten wird, sind auch die heimischen Theater gut beraten, sich zusammenschließen, um ihren Protest gegen ungerechtfertigte Maßnahmen hörbar zu machen. Der bisherige Verlauf der Krise hat gezeigt, dass die bereits praktizierten Präventionskonzepte tragfähig sind. Die Theater zu einem sicheren Ort zu machen, hat jedoch nicht ausgereicht, um ihre neuerliche Schließung zu verhindern. Nur mit politischem Druck kann verhindert werden, dass auch beim nächsten Lockdown kommentarlos die Sperre aller Kulturinstitutionen verfügt wird. Es muss verhindert werden, dass eine Gesellschaft ohne Theater, Konzerte, Kinos und Museen vom Ausnahme- immer mehr zum Normalzustand wird.