Bildung ist nicht neutral. Über Basisbildung und die Kritik an einem technokratischen Curriculum.
VON NIMA OBARO
Abseits der breiten Öffentlichkeit hat sich in Österreich ein kritisches Basisbildungsnetzwerk formiert. Aktuell von autoritären, neoliberalen Maßnahmen besonders betroffen, richtet sich Basisbildung als kostenloses und auf Freiwilligkeit basierendes Kursangebot an Jugendliche ab dem vollendeten 15. Lebensjahr sowie Erwachsene, unabhängig von ihren Erstsprachen und eventuell vorliegenden Schulabschlüssen. Globale Ungleichheitsverhältnisse tragen dazu bei, dass oftmals Migrant*innen1 diese Kurse besuchen, weshalb der Schwerpunkt bei Deutsch als Zweitsprache (DaZ) liegt.
Ein emanzipatorischer Bildungsbegriff
Der inhaltliche Austausch zwischen vielen Basisbildungsträger*nnen – dazu zählen einige feministische Migrant*innen-Organisationen – hat eine dynamische Bewegung gegen paternalistische, infantilisierende und ökonomisierende Konzepte von Bildung hervorgebracht. Anstatt Menschen als Humankapital zu erfassen, bezieht sich diese Basisbildung auf die Veränderung der Verhältnisse und das Recht auf Bildung jenseits verwertungsorientierter Logiken. Die diesbezüglich erstellten Prinzipien und Richtlinien für Basisbildungsangebote (BMB 2017) hat die Fachgruppe Basisbildung2 auf Initiative des ehemaligen Bundesministeriums für Bildung (BMB) zusammengefasst. Diese Prinzipien orientieren sich an Positionen der kritischen Pädagogik in der Tradition Paulo Freires, der Migrationspädagogik sowie der postkolonialen, feministischen Theorie. Auf programmatischer Ebene lange Zeit durch Austauschprozesse und Dialog zwischen politischen Entscheidungsträger*innen und Expertise aus der Praxis und Forschung geprägt, war/ist Basisbildung seit jeher an den genannten Prinzipien orientiert, die lerner*innenzentriert, dialogisch, wechselseitig, wissenskritisch und emanzipatorisch sind. Ziel ist es, Bildungsprozesse als gestaltbar und veränderbar zu erfahren, die bekräftigen, »die Welt mitzugestalten und zu verändern« (BMB 2017, 4). Dekolonisierende Pädagogik ist hierfür maßgeblich: sie fragt danach, welches Wissen als Wissen zählt, wer aufgefordert wird zu lernen und wer nicht und was das alles mit vererbten (Bildungs-)Privilegien zu tun hat.
Seit 2012 wird Basisbildung aus Mitteln der EU sowie aus einem Länder-Bund-Förderprogramm finanziert und unter der Bezeichnung »Initiative Erwachsenenbildung« geführt, die bis 2019 auf offene Rahmenrichtlinien und auf dialogische Zusammenarbeit mit Praxis und Forschung gesetzt hat. Mit ihren Prinzipien und Richtlinien kann Basisbildung bewusst als Gegen(hegemoniales)-Programm zu Deutschkurs-Formaten des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) gelesen werden, mit dessen Monopolstellung dieser großen Einfluss sowie monetäre Mittel und Macht über Inhalte erhalten hat. Im Auftrag der Kanzlerpartei wurde der ÖIF ermächtigt, ein Integrations- und Prüfungsregime aufzubauen (»Werte«-Kurse, Integrationsprüfungen), das schikanöse wie existenzbedrohende Ausmaße angenommen hat. Deutschkenntnisse werden hierbei für rechte bzw. rechtspopulistische Politik instrumentalisiert, um gesellschaftliche Ausschlüsse zu legitimieren.
Die Ereignisse im Bereich der Basisbildung haben sich jedoch seit Türkis-Blau beschleunigt: Im April 2019 präsentierte das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) im Rahmen einer Informationsveranstaltung in Wien erstmalig Auszüge eines für die Basisbildung vorgesehenen lernergebnisorientieren Curriculums. Die anwesenden Basisbildner*innen hätten dieses nun ab Herbst desselben Jahres verpflichtend in allen Basisbildungskursen anzuwenden. An der Erstellung dieses Curriculums mitgewirkt haben allerdings keine Personen mit fachlicher Expertise. Indes wurde eine im Bereich Basisbildung unerfahrene Unternehmensberatungsagentur mit der Konzipierung und Ausarbeitung durch das BMBWF beauftragt und die weitere Budgetierung von Bildungseinrichtungen an die Einwilligung der neuen Auflagen gebunden. Kritische Stimmen aus der Praxis, die eine öffentliche Debatte darüber in Gang setzen woll(t)en bzw. diese einfordern, wurden schon bald mit einer »neuen Normalität« konfrontiert. Es wird nun nicht mehr auf Dialog gesetzt, sondern im Gegenteil, geäußerte Kritik sowie darauf bezogene Publikationen vonseiten der Basisbildner*innen auf einer zentralen Plattform der Erwachsenenbildung, unter der Schirmherrschaft des Ministeriums, nicht mehr zugelassen.
Pädagogisierung sozialer Ungleichheits verhältnisse oder Lernen für den Kapitalismus
Abweichend von einer gesellschaftskritischen Perspektive sind im BMBWF-Curriculum Grundsätze formuliert, die die Basisbildung mit dem neoliberalen Imperativ verknüpfen, der zugleich emanzipatorisches Vokabular vereinnahmt: »Basisbildung ist lernergebnisorientiert, sozioökonomisch effektiv, grundlegend, erwachsenengerecht, lerner/innenorientiert, mehr als Sprache lernen, mehrsprachig, handlungsanleitend und problem lösungsorientiert« (BMBWF 2019, 6f.). Das Curriculum stellt einen Paradigmenwechsel dar, da es verpflichtend anzuwenden ist und sich nun nicht mehr an den Lernenden, sondern an Lernergebnissen orientiert (vgl. Ganglbauer/ Hrubesch 2019). Hinzu kommt die verpflichtende Bewertung der Kursteilnehmer*innen durch die Lehrenden mittels Beobachtungs- und Bewertungsrastern. Erklärtes Ziel sei es, dass Kursteilnehmer*innen an Weiterbildungsangebote anknüpfen bzw. am (stark segregierten) Arbeitsmarkt partizipieren können. Suggeriert wird einerseits, dass Teilnehmer* innen von Basisbildungskursen erst an den Arbeitsmarkt herangeführt werden müssten, was laut Studien3 schlicht nicht der Realität entspricht. Andererseits zeugt die Ent-Nennung von strukturellen Mehrfachdiskriminierungen, ungerechter Ressourcenverteilung sowie Ausbeutungsverhältnissen von dem Interesse, den Status-quo unberührt zu lassen. Ignoriert wird, dass Arbeitsmarktsegmente stark vergeschlechtlicht sowie durch ineinandergreifende Mehrfachdiskriminierungen strukturiert sind, die sich das Kapital bewusst zunutze macht. Die Kompetenzorientierung des neuen Curriculums individualisiert die Verantwortung für Lernerfolge diesbezüglich zusehends, die strukturellen, rassistischen, sexistischen, kapitalistischen Re/Produktionsbedingungen und ihre Auswirkungen werden schlicht enterwähnt.
Das BMBWF geht zudem davon aus, dass Basisbildung Teil eines lebenslangen Lernprozesses sei, um in einer »Welt komplexer, gesellschaftlicher Herausforderungen und der immer schneller voranschreitenden Technologisierung dafür notwendiges Wissen und Kompetenzen jederzeit entwickeln zu können« (BMBWF 2019, 6). War lebenslanges Lernen im Kontext von Upskilling zur Erzielung höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen im gewerkschaftsbewegten4 20. Jahrhundert in Europa und den USA eingebettet, mutiert dieses im Neoliberalismus zu einem ständigen Selbstoptimierungsprozess durch Kompetenzsteigerung. Die Individualisierung von geforderter ›Problemlösungskompetenz‹ etwa negiert soziale Ausschlüsse mit der Schlussfolgerung, dass systemimmanente Krisen eine Folge von mangelnder Qualifizierung seien. Die Anrufung, dass jede*r ihres/seines Glückes Schmied*in sei und durch die Pädagogisierung sozialer Ungleichheiten individueller Erfolg festgemacht und erzielt werden könne, sind Teil neoliberaler Regierungstechnik und von Humankapitalisierungsmechanismen.
Kompetenzorientierte Bildung und die eingeführte Bewertung von Lernenden durch Lehrende verstärkt die ohnehin vorhandene Konstruktion von Subjekten mit Basisbildungsbedarf und das Moment der Beschämung. Das Definieren von Wissensdefiziten bei erwachsenen Menschen ist verbunden mit der Definition des Wissens selbst, erzeugt Maßstäbe und stellt in seiner Anerkennung hegemoniale Verhältnisse mit her. Emanzipatorische Ansätze sind hingegen wissenskritisch, weil die Bestimmung darüber, wem Basisbildungsbedarf zugeschrieben wird, damit zusammenhängt, welches Wissen als Wissen zählt. Chancengerechte Teilhabe, wie im Curriculum propagiert, kann nicht durch die Pädagogisierung von Ungleichheiten erfolgen. Vielmehr muss die Logik der Selbstoptimierung und ständigen Anpassung durchbrochen werden, die kapitalistischen und diskriminierenden Verhältnissen zuarbeitet und diese zu reproduzieren trachtet.
Bildung ist somit keineswegs neutral. Sie ist immer schon politisch und sieht sich gleichzeitig mit einer technokratischen Entpolitisierung konfrontiert. Strukturelle Bedingungen und Kontexte, die Ausschlüsse und Scheitern produzieren, werden dabei dethematisiert. Emanzipatorische Basisbildung will hingegen Politisierungsprozesse und ein Handeln (mit) in Gang setzen, das auf die Verschiebung hierarchischer Verhältnisse einwirkt, anstatt auf das Funktionierend-Machen darin abzuzielen. Ein Anspruch kritischer Basisbildung ist es, weniger gewaltvolle Zukünfte zu imaginieren und zu erkämpfen. Die damit einhergehende politische Entscheidung und pädagogische Haltung setzt die Bereitschaft voraus, sich mit den (eigenen) systematischen Verstrickungen im Bildungsbereich auseinanderzusetzen und die verlangte Mitwirkung von Pädagog*innen an der Herstellung hegemonialer Verhältnisse zu hinterfragen. Die Selbstorganisierung der Lehrenden in den letzten Jahren, so auch die Workshopreihe anlässlich des BMBWF-Curriculum, stellen Interventionen in repressive, staatliche Strukturen dar und bilden grundlegende Prozesse für die Erhaltung und Organisierung von radikaler Demokratisierung, Widerstand und Kollektivierung.
Nima Obaro ist Basisbildnerin, feministische Aktivistin und Teil der IGDaZDaFBasisbildung
https://igdazdafbasisbildung.noblogs.org/
1 Obgleich laut Ergebnissen gemäß der OECD-Studie Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) die zahlenmäßig größere Gruppe, denen ›Basisbildungsbedarf‹ attestiert wird, jene ist, die in Österreich geboren wurde und Deutsch als Erstsprache hat (vgl. Kastner/Schlögl 2014, 260 zit. n. Ganglbauer/Hrubesch 2019).
2 Die Fachgruppe Basisbildung ist ein Zusammenschluss aus Basisbildner*innen und in der Aus- und Weiterbildung von Basisbildner*innen Tätigen.
3 Basierend auf Daten der erwähnten PIAAC-Studie zeigen u.a. Analysen der Statistik Austria, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen Literalität und Berufstätigkeit besteht (vgl. Ganglbauer/Hrubesch 2019, 208).
4 (Nicht nur) in Österreich war die gewerkschaftliche Positionierung lange Zeit an das sog. ›Inländerprimat‹ und weißer, männlicher Arbeiterschaft orientiert und weniger an migrantische und feminisierte Arbeitsbereiche.