Warum sollte abseits des Plattform-Kapitalismus nicht auch etwas Plattform-Sozialismus möglich sein? Digitale Plattformen des 21. Jahrhunderts könnten dazu dienen, eine Selbstverwaltung auf der Höhe der Zeit umzusetzen. Große Körperschaften wie Krankenkassen, ORF oder Unis ließen sich durch alle Teilhabenden autonom selbst regieren.
Von HANS CHRISTIAN VOIGT
Unsere Zeit kennt den Begriff des Plattform-Kapitalismus. Seit Jahren existieren Begriff und Konzept eines Plattform-Kooperatismus. Da wäre es naheliegend, dass ein Begriff des Plattform-Sozialismus Ausgangspunkt von Debatten wäre. Es gibt ihn nicht. Kein Ansatz, keine Debatte, nicht einmal Neugier. Wieso? Hier geht es um die Skizze, was wir unter Plattform-Sozialismus diskutieren könnten.
AirBnB, Alibaba, Amazon … bis Zalando: Die ungeheure Organisationsleistung großer Unternehmen steht heute außer Zweifel. Das gilt auch für eine prekäre Ausnahme im Venture-kapitalisierten Plattform-Kapitalismus wie Wikipedia. All den Plattform-Unternehmen ist das Internet die Plattform, auf der ihre disruptiven Geschäftsmodelle aufbauen. Die Realität der herrschenden Plattformen enthält freilich eine Anklage: Wieso so turbokapitalistisch?
An das Unbehagen sollte die Aufforderung geknüpft werden, das Produktions- und Distributionsmittel Plattform anders zu denken als in der herrschenden, zu Gig-Economy und Monopolisierung führenden Logik. Wieso nicht etwas mehr als nur alternativen Kooperatismus in der Nische denken. Wieso nicht plattform-sozialistische Organisation von Arbeit, von Produktion, von Dienstleistung durch alle Teilhabenden wagen?
Selbstverwaltung und Resilienz
Vor über hundert Jahren schienen Rätesysteme denkbarer als heute. Selbstverwaltung von Krankenkassen war unmittelbar vorstellbar, ohne Umweg über Repräsentation via Kammern und Gewerkschaft. Selbstverwaltung ist für die Sozialversicherung immerhin in der österreichischen Bundesverfassung gesetzlich verankert.
Die Umsetzung seit ›45 blieb freilich vom Bild tatsächlicher Mitsprache und Mitbestimmung dermaßen entfernt, dass ein Bewusstsein der Selbstverwaltung für die Masse der Versicherten gar nicht existiert. Eingriffe schwarzblauer Regierungen in die Selbstverwaltung werden nicht als die Enteignung wahrgenommen, die sie sind. Wie viel resilienter wäre da eine plattform-sozialistisch selbstverwaltete Sozialversicherung, die Versicherte und für das Unternehmen Arbeitende vereint.
Alle Teilhabenden auf einer Plattform? Was würde die Selbstverwaltungsplattform etwa einer Sozialversicherung zu einer solchen konstituieren? Welche Funktionen sollte sie haben? Und nicht nur die der Sozialversicherung, sondern auch jede der öffentlich-rechtlichen Rundfunkorganisation, der Unis, des sozialisierten Telekomanbieters, Wasser- oder Stromversorgers, der Wohnbaugenossenschaft oder Gemeindebauten, der ÖBB oder der Wiener Linien.
Vier Säulen fluider Selbstverwaltung
Eine Organisation wie die Uni Wien stellt für alle Teilhabenden bereits seit langem Accounts zur Verfügung. Am E-Mail-Korb hängen weitere Funktionen. Die digitale Infrastruktur wird von der Uni selbst gestellt. Die Geschichte des Internets in Österreich hat hier ihren Ausgang genommen. Über die Jahre und Jahrzehnte kommen Funktionen hinzu, die am eigenen Benutzer_innenkonto hängen. Spielen wir das weiter und nehmen zusätzlich an, dass alle Teilhabenden das unabdingbare Recht auf einen Account und gleichberechtigten Zugang zu allen zentralen Funktionen der Selbstverwaltung haben.
Als Teilhabende seien definiert, alle Arbeitenden, ob in Produktion oder Verwaltung, ob unbefristet angestellt oder temporär als atypisch Beschäftigte, alle Nutzer_innen, Beitragszahlende oder ihren Beitrag via Arbeit für die Organisation Leistende. Vier Säulen seien als zentrale Funktionen der plattformunterstützen Selbstverwaltungen definiert:
Erstens die Säule der Deliberation: Die Möglichkeit, mit anderen Beziehungen zwischen Benutzer_innen-Konten einzugehen, Nachrichten auszutauschen, in Diskussionsforen zusammenzukommen, Arbeitsgruppen zu bilden, Dialog zu führen.
Zweitens die der Kontrolle: Das Berichtswesen wäre entlang der Zeitleiste fluid und nicht auf finanzielle Angelegenheiten beschränkt. Was und in welcher Form, im Sinne von Checks and Balances, zwischen Organisationsteilen und den Teilhabenden an Feedbackschleifen eingerichtet ist, wäre aus der Verfassung abgeleitet, die sich die Organisation selber gibt.
Drittens die Säule, in der strategische Entscheide fallen: ähnlich wie Genossenschaften, Vereine oder AGs von Zeit zu Zeit Grundlegendes in ihren Generalversammlungen zur Abstimmung bringen. Nur dass im Plattform-Sozialismus die Vollversammlung aller Teilhabenden zu jeder Zeit via Plattform über Szenarien abstimmen kann, die zuvor durch die Säulen eins und zwei gegangen sind.
Viertens die Säule personeller Besetzungen: In einzelnen anstehenden Fällen ist dazu nicht die Vollversammlung zu bemühen. Ein jeweils per Zufall über die Plattform bestimmtes Wahlpersonen-Komitee von tausend Personen sollte aus den Kandidat_innen auswählen. Die Zufallsauswahl wird durch Quoten strukturiert, die je nach statutarischer Verfassung der Organisation Geschlecht, Einkommen, Bildungsabschlüsse, Alter, Region, Funktionen in der Organisation usw. betreffen.
Andere digitale Architekturen sind möglich
Eine digitale Plattform dieser Funktionalität mit mehreren Hunderttausend oder Millionen Benutzer_innen-Profilen, wenn wir an die Selbstverwaltung eines ORF oder der Sozialversicherung denken, wäre gleichermaßen revolutionär wie pragmatisch naheliegend. Sie ist nichts eigentlich Besonderes, gemessen an der Realität bestehender Social-Media-Plattformen. Außergewöhnlich wäre der Zweck: Einmal nicht Disruption bestehender Geschäftsmodelle zur Senkung der Produktionskosten und zur Schaffung neuer Monopole, sondern die sozialistische Selbstorganisation von Daseinsvorsorge in vielen großen autonomen Körperschaften und damit mehr Autonomie von Staat und Kapital.
Die digitale Plattform ist die geringere Herausforderung. Die Revolution würde sich in den Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen, der Kultur von Organisationen, in den Herrschaftsverhältnissen abspielen. Die Plattform ist schließlich nur Produktionsmittel. Organisationen würden sich dagegen von Grund auf ändern und auf allen Ebenen. Das erklärt sich freilich im Begriff bereits von selbst. Sozialistische Selbstverwaltung ist für sich genommen revolutionär, ob mit digitaler Plattform oder à la neunzehntes Jahrhundert.
Im Plattform-Sozialismus wäre der Demos, der die Herrschaft über die Organisation von etwas ausübt, über stetige digitale Teilhabe konstituiert, nicht über repräsentative Wahlen alle paar Jahre. Das bedeutet ebenso Hürden wie auch mehr Inklusion. Den digital gap wird es nie nicht geben. Bildung wird immer relevant bleiben. Abgebaut würden dafür andere Ausschlüsse. Wenn alle Sozialversicherung Zahlenden automatisch und gleichberechtigt dem relevanten Demos zugehörten, der über die Selbstverwaltung bestimmt, haben automatisch die staatsbürgerlichen Privilegien, Migrationshintergrund, Vermögen und Einkommen deutliche weniger Einfluss.
Im Binnengefüge der plattform-sozialistisch regierten Körperschaft verschieben sich Prioritäten: Eingeführt, ausgeweitet und aufgewertet werden muss die Moderation der Vielstimmigkeit. Information muss kuratiert, übersetzt und in aufbereiteten Formen dargestellt werden. Die Form der Kommunikation, das Gespräch, muss sich von exkludierend auf inklusiv verändern. Das Arbeitsfeld der Moderation rückt quantitativ und qualitativ ins Zentrum der Körperschaften. Der Zweck der Selbstverwaltung strukturiert die Kommunikation. Obwohl auch sozialistische Plattformen soziale Netzwerk-Funktionen wie Twitter oder Facebook haben, geht es auf ihnen nicht um nichts oder alles, sondern um eine greifbare gemeinsame Sache.
Nach außen bekommt diese gemeinsame Sache das Gewicht, das eine Organisation ausspielen kann, die nicht auf Lobbyismus, Klientelverbindungen und Werbung setzen muss, sondern mehrere hunderttausend Nutzer_innen auf einer autonomen Plattform versammelt. Soll die aktive Teilhabe auf einer Plattform ruhig bei nur drei Prozent liegen. Das wären immer noch sehr viele Aktive. Und es würden schnell mehr, sobald es um die allen eigenen Interessen geht.
Autonome und offene digitale Architektur
Selbst wenn die eigentliche Hürde die menschliche Organisation ist, auch die digitale Architektur wird nicht über Nacht programmiert werden können. Irgendwo muss ein Anfang gemacht werden. Irgendwann sollte Plattform-Sozialismus bedeuten, dass die Grundarchitekturen unserer Plattformen public code sind und dass die Digitalwirtschaft ein völlig neues, bedeutendes Betätigungsfeld gewinnt, in dem es um freie Software vom Server bis zur App, um liquid-feedback-Systeme, um inklusive Architekturen und sorgsamen, sparsamen Einsatz personenbezogener Daten geht.
Sozialistische Selbstverwaltung auf der Höhe des 21. Jahrhunderts kann nur heißen, dass die Teilhabenden die Kontrolle über Daten und Code haben. Die Arbeit von Informatiker_innen und Systemadministrator_innen ist hier so zentral wie die Arbeit der Moderation. Es braucht eine eigene Spezialisierung, eigene Server, eigenen Code. Dafür gibt es Vorläufer. Liquid feedback Software nach dem Konzept von liquid democracy. Dezentrale Social-Media-Architekturen in freier Software. Eine lebendige Tradition der Netzkultur, die gegen Überwachung und Kommodifizierung kämpft.
Die politische Forderung dazu lautet, dass wir die Körperschaften unserer Daseinsvorsorge selber verwalten wollen. Das Recht dazu haben wir.
Hans Christian Voigt ist ein Soziologe aus Wien mit besonderem Interesse an den Bedingungen der Möglichkeit für Dissidenz in sozialen Systemen (und erhöhter Aufmerksamkeit dafür, welche gesellschaftlichen Verschiebungen die digitale Revolution für Lohnabhängige, Arbeitnehmer_inneninteressen und die Organisierung der Arbeiterklasse bedeutet).