Die Treuhandanstalt trug maßgeblich dazu bei, dass eine Angleichung der Wirtschaftsproduktivität des Ostens an den Westen unterblieb.
VON JÖRG ROESLER
Dieses Wahlergebnis hatte kaum jemand in der DDR erwartet: Am 18. März 1990 holte sich die von Helmut Kohl initiierte »Allianz für Deutschland« 45,2 Prozent der Stimmen (die CDU allein 40,9 Prozent) und ließ die Gegenkandidaten Oskar Lafontaine (SPD) und Hans Modrow (PDS) weit hinter sich. Eine Mehrheit der WählerInnen wollte offensichtlich keine Experimente, wie sie die Modrow-Regierung zu Jahresanfang begonnen hatte, sondern mehr Konsum und so rasch wie möglich die D-Mark. Der Soziologe Rainer Kollmorgen kommentierte die Wahlentscheidung bissig: »Viele Ostdeutsche hätten im März 1990 einer Art ›implizitem Gesellschaftsvertrag‹ zugestimmt: Wir lassen uns ganz gern enteignen, wenn wir dafür den Wohlstand des Westens bekommen.«
Damit war der Weg frei für die von Lothar de Maiziere geführte Koalitionsregierung der Ost-CDU, die genau das ausführte, was Kanzler Kohl und was die Konzerne der Bundesrepublik wollten. Im Mai akzeptierte die neue DDR-Regierung die »Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion«. Kohl hatte mit seinen Vorstellungen von der raschen und radikalen Einführung der Marktwirtschaft in der DDR auf der ganzen Linie gesiegt.
Die Treuhand als »Privatisierungsdienststelle«
Dass die Bundesregierung an der Treuhandanstalt (THA) festhielt, kam für manche BeobachterInnen überraschend. Die Regierung Modrow hatte am 12. März 1990, dem letzten Tag der Amtszeit, eine »Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums« gegründet, damit die Anfang März 1990 aus dem System staatlicher Kontrolle entlassenen Volkseigenen Betriebe (VEB) weder »herrenlos« noch die bisherigen Leiter zu de facto EigentümerInnen werden würden.
Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) sah in ihr ein brauchbares Instrument »bei der Privatisierung des Industrie- und Grundvermögens«, wie er verlautbarte. Damit waren die Vorstellungen von Eigentumsvielfalt und verschiedenen Formen des Gemeineigentums, die die SchöpferInnen der Treuhand zunächst vertreten hatten, passé.
Die nunmehr als reine »Privatisierungsdienststelle« konzipierte Treuhandanstalt nahm am 1. Juli 1990 ihre Arbeit auf. Die aus der DDR stammenden Kader, die unmittelbar nach der Gründung der Anstalt ihre Arbeit aufgenommen hatten, wurden einer »Reinigung« unterzogen. MitarbeiterInnen aus dem Westen besetzten rasch die oberen Ränge in den Ressorts. Sie prägten entscheidend die Art und Weise, wie – mit welchem Ziel und in welchem Tempo – die Treuhandanstalt die Privatisierung betrieb. Die von Widerspenstigen gereinigte ostdeutsche Mit arbeiterInnenschaft hielt sich an die Weisungen ihrer Westchefs, auch wenn sie diese unter sich hinter vorgehaltener Hand als »Besserwessis« kritisierte.
Der Treuhand unterstanden im Dezember 1990 fast 9.000 ehemalige VEB. Ungefähr 50 Prozent dieser Betriebe wurden an PrivateigentümerInnen verkauft. Die übrigen befanden sich am Ende der Treuhandtätigkeit »in Liquidation«. Die Masse dieser Betriebe, die keine KäuferInnen gefunden hatten, wurden erst von der »Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sondervorhaben« (BvS), die 1995 Nachfolgerin der Treuhand wurde, offiziell still gelegt. Das Firmensterben dieser verschmähten ehemaligen VEB hatte enorme Auswirkungen auf die Beschäftigung in den neuen Bundesländern. Aber auch in den aufgekauften Treuhandbetrieben wurde die Beschäftigtenzahl rücksichtslos reduziert.
Radikale Privatisierung und Deindustrialisierung
»Blühende Landschaften« wie in der Bundesrepublik hatte Kanzler Kohl den Ostdeutschen versprochen, als er im März 1990 auf Wahlkampftour durch die DDR reiste. Die Bundesregierung versprach Milliardenkredite bereitzustellen, um das Aufholen zu beschleunigen und die Angleichung an das westdeutsche Wirtschafts- und Wohlstandsniveau so bald wie möglich zu erreichen. Gegenüber Senatoren des US-amerikanischen Kongresses präzisierte Kohl: »In drei bis vier Jahren werde die DDR ein blühendes Land sein.«
Die tatsächliche Entwicklung verlief anders. Zunächst einmal ging es infolge der überstürzten Einführung der bundesdeutschen Marktwirtschaft und der radikalen Privatisierung der Industriebetriebe, bald auch als »Schocktherapie« charakterisiert, mit der DDR-Wirtschaft abwärts. Als im Juli 1990 die zwischen der Bundesregierung und der Regierung de Maiziere vereinbarten Regeln der »Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion« in Kraft traten, wurden etwa 5.000 von 8.000 Treuhandbetrieben zahlungsunfähig, weil sie durch die Umtauschquote von Mark in DM außerordentlich benachteiligt wurden. Um weiter produzieren zu können, mussten sie Anträge auf Liquiditätskredite in Höhe von 23 Mrd. DM stellen. Beim Verkauf derjenigen Betriebe, für die es im Westen InteressentInnen gab, wurden Glieder aus dem arbeitsteiligen System der DDR-Wirtschaft nacheinander herausgebrochen und – in der Regel – als »verlängerte Werkbänke« in das Zuliefersystem der sie aufkaufenden Westunternehmen eingeordnet. Die ostdeutsche Wirtschaft verlor so ihren inneren Zusammenhalt, der sich in 40 Jahren DDR herausgebildet hatte. Ebenso wurden ihre nach 1945 aufgebauten günstigen Export- und Importverbindungen nach Osteuropa gekappt.
Die Zerstörung der arbeitsteiligen Strukturen blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Abstand im Wirtschaftsniveau zwischen Ost- und Westdeutschland. Bis 1991 nahm der Rückstand in der Leistungskraft der ostdeutschen Wirtschaft – ganz anders als es die bundesdeutschen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, auf deren Aussagen sich Kohl und Waigel stützten, verkündet hatten – nicht ab, sondern drastisch zu. Basierend auf den Angaben von zwei maßgeblichen bundesdeutschen Forschungsinstituten erreichte die DDR-Wirtschaft 1989, gemessen am Niveau der Bundesrepublik (dieses = 100 gesetzt) in puncto Arbeitsproduktivität einen Wert von 56 Prozent. Ihre Wirtschaftskraft war also nicht viel mehr als halb so stark wie die der BRD, die allerdings wirtschaftlich an der Spitze aller westeuropäischen Staaten stand. Nach der gleichen Berechnungsmethode erreichte die Wirtschaftskraft der DDR 1991 nur noch einen Wert von 33 Prozent. Dieser steile Produktivitätsabfall widerspiegelt vor allem die eingetretene Deindustrialisierung.
Massenarbeitslosigkeit und »Abwärtsmobilität«
Die Deindustrialisierung hatte nicht nur ihre ökonomische Seite, sondern auch eine soziale und eine kulturelle. Es trat eine Massenarbeitslosigkeit ein, wie sie der Osten Deutschlands seit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre nicht mehr gekannt hatte. Hatte in Ostdeutschland die Zahl der KurzarbeiterInnen im zweiten Halbjahr 1990 schon eine dreiviertel Million und die der Arbeitslosen eine Viertelmillion betragen, so arbeiteten ein Jahr später bereits anderthalb Millionen kurz und fast eine Million Ostdeutsche waren arbeitslos. Für 1993 waren von den neuen BundesbürgerInnen »77 Prozent einer Abwärtsmobilität ausgesetzt«, wie der Soziologieprofessor Michael Hofmann von der Universität Dresden einschätzt. Viele Ostdeutsche sahen ihr Lebenswerk zerstört, unter ihnen verbreiteten sich Enttäuschung, Verbitterung und Wut. Birgit Breuel, von 1992 bis 1994 Treuhandpräsidentin, gab 1992 in einem Artikel in der »Zeit« zu: »Die Menschen in Ostdeutschland sind einem Veränderungsprozess ausgesetzt, der schier unglaublich ist.«
Nachdem der erste Schock überwunden war, bewegte sich die ostdeutsche Wirtschaft, die in ihrer Funktionsweise und mehr noch in ihrer Eigentumsstruktur der westdeutschen angeglichen wurde, wieder voran. 1995, als die Treuhand den Privatisierungsprozess in den neuen Bundesländern weitgehend abgeschlossen hatte und die BvS die Verwaltung des Restes des früheren Volkseigentums übernahm, hatte die Wirtschaft der neuen Bundesländer den Abstand zum »Westniveau« deutlich verringert. Statt 33 wurden 59 Prozent der Wirtschaftskraft der alten Bundesländer erreicht. Der Angleichungsprozess vollzog sich in den folgenden Jahren allerdings nur langsam. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer auf nur 60 Prozent im Jahre 2000 stieg, war er kaum spürbar. Bis 2005 wurden 66 Prozent des Niveaus der alten Länder erreicht.
Damit trug die Treuhandanstalt entscheidend dazu bei, dass die Vereinigung beider deutscher Staaten in Bezug auf Wirtschaftsproduktivität und Wohlstandsniveau nicht zur Angleichung des Ostens an den Westen führte, wie von der Regierung in Bonn versprochen und von einer Mehrheit der DDR-Bürger 1990 mit ihrer Stimme für die Einheit Deutschlands bezweckt wurde. Neben der wirtschaftlichen Deindustrialisierung führte dies in den neuen Bundesländern zu negativen Folgen im sozialen Bereich, etwa zu Massenarbeitslosigkeit und – infolge des weitgehenden Elitenausaustauschs – zur Unterrepräsentanz bzw. Unterordnung der Ostdeutschen in der vergrößerten Bundesrepublik. Ihr Erleben, dass die »Besserwessis« im Umgang mit den »anderen Deutschen« in der Regel nur ihre erspähbaren eigenen unmittelbaren Vorteile vor Augen haben, trug entscheidend dazu bei, dass der Unmut der Ostdeutschen bis heute geblieben ist.
Jörg Roesler war Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Danach lehrte er als Gastprofessor in Kanada und den USA.
Literaturtipp: Jörg Roesler: Geschichte der DDR. Köln: PapyRossa 2018, 130 Seiten, 9,90 Euro