In seiner kürzlich erschienen Diplomarbeit »Immobilienentwicklung in Wien mit David Harvey lesen« beschäftigt sich Georg Šembera mit der Analyse des einflussreichen marxistischen Geografen. David Harvey hat in den letzten Jahren mit Büchern wie »Rebellische Städte« wichtige Impulse für Recht-auf-Stadt-Aktivist*innen auf der ganzen Welt gegeben. Für die Volksstimme stellt Šembera zentrale Ansatzpunkte von Harveys Analyse dar. Und wie diese die exorbitanten Preissteigerungen am Immobilienmarkt in Wien als Klassen politik von oben erklären kann.
David Harvey beschäftigt sich seit den 1960ern mit der Bedeutung des Immobilienwesens für kapitalistische Entwicklungen aus marxistischer Perspektive. Seine Theorien wurden bislang aber nur selten auf praktische Beispiele angewendet. Dies aber wollte ich in meiner Diplomarbeit in Bezug auf Wien ausprobieren.
Nach David Harvey kommt es im Kapitalismus immer wieder zu Krisen, welche aufgrund von Überproduktion und Über akkumulation entstehen. Dabei trifft eine im Prinzip unbegrenzte Produktion auf eine begrenzte zahlungsfähige Nachfrage. Tritt dieser Fall ein bedeutet das auch eine Krise für die Mehrheit der Unternehmer* innen, welche dadurch finanzielle Verluste erleiden würden. Dies versuchen sie daher zu vermeiden.
Hier kommt die Theorie der Kapitalkreisläufe von David Harvey ins Spiel. Nach ihm gibt es drei Kapitalkreisläufe. Der erste besteht aus Investitionen in Gewerbe und der Industrie, der zweite primär aus dem Handel mit Immobilien und der dritte aus Investitionen in physische und soziale Infrastruktur.
Der Überschuss an Kapital und Arbeit, welcher nicht im ersten Kapitalkreislauf verwertet werden kann, kann durch eine Verlagerung in den zweiten und dritten Kapitalkreislauf temporär gebunden und eine Überakkumulationskrise verzögert bzw. abgeschwächt werden. Im Gegensatz zum zirkulierenden Kapital (u. a. Arbeitskraft und Rohstoffe), bei dem deren Wert im Produktionsprozess unmittelbar auf die produzierte Ware übergeht, geschieht dies bei fixem Kapital (Immobilien aller Art, Infrastrukturen und Maschinen) nur allmählich. Überschüssiges Kapital, welches also gerade nicht für den unmittelbaren Produktionsprozess in Konsumgüter investiert werden kann, weil die zahlungskräftige Nachfrage danach fehlt, kann in Krisenzeiten auf diese Weise temporär in diesen Bereichen »geparkt« werden. Nach David Harvey wird dadurch eine Krise aber nicht verhindert, sondern nur zeitlich oder räumlich verlagert.
Das Wiener Immobilienwesens in der Krise
Auch an Wien ist die Krise 2008 ff nicht spurlos vorbeigezogen. Anstatt des Ausbaus der eigenen Kapazitäten, oder Investitionen in andere Unternehmen scheinen viele Konzerne seit der letzten Wirtschaftskrise auf sogenanntes »Betongold« zu setzen. Ebenso hat es den Anschein, dass Privat personen seit der Wirtschaftskrise ihr Geld lieber in Immobilien investieren, als in Investmentfonds. Dies treibt die Immobilienpreise in die Höhe und in Folge auch die Mieten. Höhere Mietzinse »müssen« verlangt werden, weil sich die Investitionen sonst nicht lohnen würden. Ein weiterer Grund für steigende Mieten in Wien ist auch das Wachstum der Bevölkerung bei gleichzeitig unzureichender Neubau leistung. Im Jahr 2014 wuchs die Wohn bevölkerung um 33.000 Menschen. Im selben Jahr wurden nach Angaben der Stadt Wien jedoch nur 7.273 neue Wohnungen errichtet.
Zu wenig Immobilien oder zu viel Spekulation?
Eine Frage die sich stellt ist, gibt es zu wenig Immobilien oder sind die Preissteigerungen auf Spekulation zurückzuführen? Zur Ermittlung, ob die hohen Immobilien- und Mietpreise primär aufgrund einer Verknappung des Gutes »Immobilien« herrühren, oder aufgrund spekulativer Investitionen, kann der sogenannte Fundamentalpreisindikator der Österreichischen Nationalbank (OeNB) herangezogen werden. Dieser Indikator gibt in einem Zahlenwert die Abweichung der Immobilienpreise von einem sogenannten Fundamentalpreis an, den die OeNB berechnet. Berücksichtigt werden dabei u.a. demographische Entwicklungen, das gesellschaftlich durchschnittliche Wohlstandsniveau, oder die Verfügbarkeit von Grund und Boden. Nicht enthalten sind im Indikator jedoch Spekulationen auf fallende oder steigende Preise. Wenn es über einen längeren Zeitraum zu einer Abweichung der Immobilienpreise vom Fundamentalpreis der OeNB kommt, kann also von einer Überhitzung oder gar einer Blase gesprochen werden.
Die Graphik (Abb. 1 unten) zeigt eindeutig, dass die Wiener Immobilien seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008/2009 eine starke Überbewertung erfahren haben. Waren sie im Jahr 2008 gegenüber dem langfristigen Trend noch um 5 % unterbewertet, sind sie der OeNB nach im Jahr 2016 um 21 % überbewertet.
Kann die Immobilienblase in Wien platzen?
Ob der Immobiliensektor als Auslöser für eine Wirtschaftskrise in Frage kommt oder nicht, hängt von einer Reihe spezieller Voraussetzungen ab. Dazu zählen neben demographischen auch wirtschaftspsychologische Faktoren, wie das Vertrauen bzw. Misstrauen in die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Aktienmärkte, wirtschaftspolitische, wie die Höhe des Leitzinses, oder politische Rahmenbedingungen wie Mieter*innenschutz und Ausmaß und Zugang zum kommunalen Wohnbau. Dabei handelt es sich nicht um einen rein automatisch ablaufenden ökonomischen Prozess, in denen der Immobiliensektor integriert wird, sondern um einen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Prozess, der von unterschiedlichen Akteur*innen, maßgeblich beeinflusst werden kann.
Immobilien- und Wohnpolitik als Klassenpolitik von oben
Die Vermarktwirtschaftlichung des Immobilienwesens und der Wohnungspolitik hat sich in Wien über Jahrzehnte hingezogen und wurde von der kapitalistischen Klasse und ihren politischen Vertreter*innen mit viel Mühe und langer Ausdauer vorangetrieben. Dieser Prozess ist aber keineswegs abgeschlossen. So beklagen Philipp Geymüller und Michael Christl von der Agenda Austria in ihrem 2014 erschienen Pamphlet »Teurer Wohnen. Wie Politik und Mietrecht den Wohnungsmarkt außer Kraft setzen.«, dass der Wiener Wohnungsmarkt dermaßen überreguliert sei, sodass hier erst gar nicht von einem Wohnungsmarkt gesprochen werden kann. Wohnungen im kommunalen Besitz, gemeinnützige und genossenschaftliche Wohnbauvereinigungen und Mieter*innenschutzbestimmungen würden den Markt verzerren. Die Autoren der Agenda Austria schlagen vor, ein Vergleichsmietensystem als Übergang zu einem freien Wohnungsmarkt zu etablieren. Dies soll Vermieter*innen, deren Wohnungen dem Kategorie- oder dem Richtwertsystem unterworfen sind ermöglichen bestehende niedrige Mieten an die Durchschnittsmieten anzupassen. Ebenso sollen dadurch Mieterhöhungen in bestehenden Verträgen leichter ermöglicht werden.
Anstatt einer Ausrichtung der Wohnungspolitik im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung können Philipp Geymüller und Michael Christl als Lobbyisten der Vermieter*innen betrachtet werden. Dies zeigt sich darin, dass ihre Forderungen sich mit jenen der Vermieter*innen decken. So fordert der Verband der institutionalisierten Immobilieninvestoren (VII), welcher sich als Unterstützer der Wohnungsbesitzer* innen sieht, dass die Wiener Politik aufhören solle die Entwicklung eines freien Wohnungsmarktes zu behindern. Ausreichende Renditen für Wohnungsinvestor*innen dürften nicht durch Mietgesetze verhindert werden. Die Politik müsse sich klar gegen Mietzinsbegrenzungen, Leerstandsabgaben und gegen eine Einschränkung befristeter Mietverhältnisse positionieren, wie es in Presseunterlagen des Verbandes heißt. So wie auch von den Lobbyisten der Agenda Austria vorgeschlagen, sollen auch laut dem Verband Altmietverträge schrittweise an das Marktniveau angepasst werden. Ihre politischen Bündnispartnerinnen sieht die VII wenig überraschend in den neoliberalen Parteien ÖVP und NEOS.
Widerstand von Unten: Sozialisierung, Vergesellschaftung, Commons?
Was wären Lösungsansätze von links? Kapitalist*innen als gesellschaftlicher Klasse sollte die Möglichkeit entzogen werden, den Arbeiter*innen und Angestellten einen Teil des von ihnen erwirtschafteten Mehrwerts durch Mieten zu entziehen. Dadurch würden nicht nur finanzielle Freiräume und ein Machtzuwachs für die Lohnabhängigen entstehen, weil sie ihre Abhängigkeit gegenüber den Unternehmer*innen reduzieren würden. Außerdem würde eine Sozialisierung des Immobilien sektors dem kapitalistischen Verwertungsprozess eine Akkumulationsmöglichkeit entziehen, wodurch dieser nach David Harvey in verstärktem Ausmaß in Krisen geraten würde.
Niedrige Mieten sind nicht per se ein Schritt in Richtung einer egalitären Gesellschaft, sondern können auch einen stabilisierenden Effekt für eine kapitalistische Ökonomie haben, wie an Hand des historischen Beispiels des »Roten Wiens« sichtbar wird. Daher müssen für eine Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems sowohl der Wohnraum als auch die Produktionsmittel vergesellschaftet werden.
Darüber wie Wohnraum sozialisiert werden könnte, gibt es in Wien keine im gesamtgesellschaftlichen Maße relevante Diskussion. Genossenschaften und gemeinnützige Wohngesellschaften haben den Nachteil, dass sie die ökonomisch Ärmsten in der Gesellschaft aufgrund fehlender Eigenmittelanteile praktisch ausschließen. Der Recht-auf-Stadt-Aktivist
Raphael Kiczka schlägt in einem Sammelband der IG Kultur Wien zum Thema »Leerstand in Wien« vor, leerstehende Räumlichkeiten zu Commons/Gemeingüter zu machen. Dabei sollen diese nicht vom Staat, sondern von den Commoners, also den Nutzer*innen der Gemeingüter selbst verwaltet werden. Ein Vorteil dieses Ansatzes stellt die Möglichkeit dar, dass es sich dabei sowohl um Räume für das Wohnen, als auch für das Wirtschaften und andere soziale Aktivitäten handeln könnte. Bleibt die Fokussierung auf leerstehende Gebäude beschränkt, handelt es sich dabei aber um eine Anomalie kapitalistischer Wohnungsmärkte und nicht um die Norm. Da leerstehender (Wohn)Raum zeigt, dass im Kapitalismus nicht die Bedürfnisbefriedigung im Mittelpunkt steht, sondern Profitmaximierung ist die Sozialisierung von Leerständen aber sicherlich ein praktikabler Ansatzpunkt marktwirtschaftliche Logiken in Frage zu stellen.
»Rotes Wien«: Keine Rendite mit der Miete
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, wie schon im Roten Wien betrieben, kommunalen Wohnbau im umfangreichen Ausmaß mit Steuergeldern zu finanzieren, für welche vor allem die wohlhabenderen Teile der Bevölkerung herangezogen werden. Dazu müssten linke Kräfte erst einmal die Mehrheit im Wiener Gemeinderat stellen, oder die Stadtregierung durch außerparlamentarische Interventionen massiv unter Druck setzen können.
Höchstmietzinse auf niedrigem Niveau würden die Verwertungsmöglichkeiten der privaten Vermieter*innen reduzieren, wodurch die Immobilienpreise fallen würden. Daraufhin könnte die Stadt Wien die entwerteten Wohnungen und Häuser verhältnismäßig günstig erwerben und so den Anteil des vergesellschafteten Wohnraums erhöhen. Die direkteste und konfrontativste Möglichkeit der Sozialisierung des Wohnungswesens würde schließlich die entschädigungslose Enteignung der privaten Eigentümer*innen darstellen.
Wie Raphael Kiczka und Sarah Kumnig in einer Schwerpunktbeilage des Augustins im April 2017 schreiben, gibt es aber nicht eine einzige, richtige Herangehensweise an das Thema. Stattdessen sollten Vertreter*innen unterschiedlicher Ansätze sich nicht gegenseitig behindern bzw. gegeneinander ausspielen lassen, sondern sich ergänzen und einander bestärken.
Georg Šembera interessiert sich im politischen Kontext insbesondere für die Geschichte der Linken, Entwicklungen des Städtischen, Linke Organisierungen und gesellschaftliche Utopien. Seine Diplomarbeit, mit dem Titel »Immobilienentwicklung in Wien mit David Harvey lesen«, steht unter tinyurl.com/wiener-immobilienentwicklung zum Download bereit.