Vor 20 Jahren: Wahlrecht für alle in Wien

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Das Wahlrecht für alle einzuführen war der erste und bisher einzige Versuch, Mitbestimmung Bewohner*innen unabhängig von Staatsangehörigkeiten zu ermöglichen. Den Prozess und sein Scheitern beschreibt Maria Kohen

Am 13. 12. 2002 fiel im Wiener Landtag ein historischer Beschluss, nämlich die Novellen der Wiener Stadtverfassung und der Wiener Gemeindewahlordnung, womit allen Menschen, die seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen in Wien ihren Hauptwohnsitz hatten, das aktive und passive Wahlrecht auf Bezirksebene gegeben wurde.1

Umgesetzt werden konnte das Wahlrecht für alle leider nie, denn der Verfassungsgerichtshof hob eineinhalb Jahre später den Beschluss wieder auf.

Die Vorgeschichte

Nach der Bildung der schwarz-blauen Bundesregierung Anfang 2000 versuchte die SPÖ die Stadt Wien als linken Gegenpol hervorzuheben. Eine der Strategien gegen die ausländer:innenfeindliche Regierung war die Aufwertung der nichtösterreichischen Mitbürger:innen in Wien mit mehr Mitbestimmungsrechten.

Bei der Wienwahl am 25. 3. 2001 erreichte die SPÖ mit 52 von 100 Mandaten (mit nur 46,9 % der Stimmen) wieder die absolute Mehrheit. Im Regierungsprogramm vereinbarte die SPÖ mit den Grünen eine Reihe von gemeinsamen Projekten, u. a. eine Wahlrechts- und Demokratiereform. Bürgermeister Michael Häupl in seiner Regierungserklärung in der Gemeinderatssitzung vom 27. 4. 2001: »[...] und wir wollen das Wiener Wahlrecht reformieren: Wählen mit 16, ein stärkeres Persönlichkeitswahlrecht und ein Wahlrecht für nichtösterreichische Mitbürgerinnen und Mitbürger auf Bezirksebene sollen hier die Schwerpunkte sein. Ich möchte aber auch die Briefwahl einführen. Außerdem bin ich der Meinung, dass all jene, die einen Zweitwohnsitz in Wien haben, in Zukunft nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen werden sollen.«2

Der Ausschuss

Am 20. 6. 2001 nahm der Unterausschuss »Wahlrecht«, bestehend aus neun Personen von allen vier im Gemeinderat vertretenen Parteien, seine Arbeit auf. Ziel war die Erarbeitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wahlbeteiligung. Bei der Herabsenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, der Einführung der Briefwahl und des Vorzugsstimmenwahlrechts wurde man sich einig, nicht aber bei der Abschaffung des mehrheitsfördernden Systems (relative Mehrheit der Stimmen, aber absolute Mehrheit an Mandaten), was sich alle Oppositionsparteien gewünscht hatten, sowie beim Wahlrecht für Menschen mit Zweitwohnsitz.

Das Wahlrecht für alle wurde, wie nicht anders zu erwarten war, zum heißen Thema. In den folgenden eineinhalb Jahren wurden Verfassungsgutachten eingeholt, Expert:innen angehört, es gab heftige Debatten, auch in den Medien. Es war klar, dass SPÖ und Grüne das Wahlrecht für alle durchsetzen würden. Als Mini-Zugeständnis an ÖVP und FPÖ fand man den Kompromiss, dass die sog. Drittstaatsangehörigen nicht Bezirksvorsteher:in, -stellvertreter:in und Mitglieder im Bauausschuss und in der Kleingartenkommission (!) werden durften.

Der Beschluss

Schließlich kam das »Wiener Demokratiepaket« am 13. 12. 2002 in einer Landtagssitzung zur Abstimmung. Die Debatte war gekennzeichnet von vielen emotionalen Zwischenrufen während der Reden, auch aus dem Publikum, und einige Gäste wurden des Saales verwiesen.

Eines der Hauptargumente von ÖVP und FPÖ gegen das Wahlrecht für alle war die Furcht vor »ethnischen Kämpfen« bei der Wahl. Die FPÖ beantragte in der Sitzung eine Wiener Volksabstimmung über das Ausländer:innenwahlrecht. Dieser Antrag wurde zurecht abgelehnt – über Minderheitenenrechte lässt sich nicht abstimmen!

Wie erwartet wurde der Hauptantrag mit den Stimmen von SPÖ und Grünen angenommen.

Was danach folgte

Am 10. 2. 2003 erhob der Ministerrat der Bundesregierung Einspruch, weil der Beschluss für das Ausländer:innenwahlrecht ihrer Ansicht nach nicht verfassungskonform war. Am 24. 4. erfolgte der Beharrungsbeschluss im Wiener Landtag und am 21. 5. die Kundmachung im Landesgesetzblatt für Wien. ÖVP und FPÖ beantragten am 5. 9. beim VfGH die Aufhebung des Ausländer:innenwahlrechts.

Der VfGH schloss sich der Argumentation von ÖVP und FPÖ an und gab der Anfechtung schließlich am 30. 6. 2004 statt3. Laut Karl Korinek, dem damaligen Präsidenten des VfGH, habe es sich bei der Entscheidung um eine »relativ einfache Rechtsfrage« gehandelt4. Konkret: Die Bezirke sind in Wien die unterste Stufe der politischen und administrativen Organisation, die Bezirksvertretungen sind ihre Repräsentationsorgane. Die Bezirksrät:innen haben ein öffentliches Amt inne und üben somit hoheitliche Rechte aus. Von daher können diese Funktion nur österreichische Staatsbürger:innen (bzw. ihnen gleichgestellte, nämlich die EU- Bürger:innen, Anm. MK) ausüben. Zum Artikel 1 B-VG – »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus« – meinte der VfGH, der Begriff »Volk« beinhalte die österreichische Staatsbürgerschaft.

Fazit

Heute sind wir vom Wahlrecht für alle weiter entfernt denn je, obwohl mittlerweile ein Drittel der Wiener Bevölkerung von Wahlen ausgeschlossen ist (im Jahr 2002 war es ein Sechstel), in ganz Österreich sind es 18 Prozent.

In den letzten Jahren mehrten sich die Stimmen von Jurist:innen und Politikwissenschafter:innen, die meinten, es bräuchte eine modernere Interpretation des Begriffs »Volk«, da das Erkenntnis des VfGH auf der Interpretation aus jener Zeit basiert, als die Verfassung geschrieben wurde – vor 100 Jahren! Eine Festlegung, wer wahlberechtigt ist, ist wohl trotzdem nur mit einer Änderung der Bundesverfassung machbar; leider setzt sich keine Parlamentspartei dafür ein. Die öffentliche Diskussion dreht sich nur mehr um die Staatsbürger:innenschaft – wer wählen will, soll sie annehmen. Dieses Argument geht allerdings an der Sache vorbei, denn es wird immer viele Menschen geben, die die Staatsbürger:innenschaft nicht annehmen können oder wollen. Die Forderung nach dem erleichterten Zugang zur Staatsbürger:innenschaft ist wichtig, aber viel wichtiger ist es, das Wahlrecht für ALLE zu fordern! Auch linke Parteien und Organisationen sollten mehr in diesem Sinn argumentieren und nicht – salopp gesagt – Äpfel mit Birnen vermischen, indem sie beides gleichzeitig fordern, obwohl das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Die Welt ist klein, und die Menschen sind mobil geworden. Ein Stück Papier mit einer Staatsbezeichnung sagt weniger über einen Menschen aus als die Tatsache, wo sie oder er aufgewachsen ist oder lebt.

Der Wiener Beschluss von 2002 bleibt der einzige Versuch in Österreich, die Mitbestimmung bei Wahlen für alle einzuführen.

1 Protokoll der Landtagssitzung vom 13. 12. 2002: www.wien.gv.at/mdb/ltg/2002/ltg-011-w-2002-12-13-001.htm

2 www.wien.gv.at/mdb/gr/2001/ gr-001-w-2001-04-27-025.htm

3 VfGH-Urteil: www.vfgh.gv.at/downloads/VfGH_G_218-03.pdf

4 in: Wiener Zeitung vom 1. 7. 2004

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Gelesen 1563 mal Letzte Änderung am Dienstag, 07 Februar 2023 17:09
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