Eva Brenner zur Retrospektive von Ai Weiwei in der Albertina modern
Als die Dependance des Stammhauses Albertina, die Albertina modern, 2020 im Gebäude der hundertjährigen Künstlerhaus Vereinigung am Karlsplatz eröffnete, hielt sich die Begeisterung vieler BeobachterInnen, der freien Theaterszene, deren zentrales Spielhaus in der Innenstadt damit verloren ging, wie auch eines Gutteils von KünstlerInnen der seit 1861 bestehenden Vereinigung, die in Räume des Obergeschosses verbannt wurde, in Grenzen. Zu aufdringlich erschien vielen die krakenhafte Ausbreitung von Institutionen der Wiener Hochkultur, die seit Jahren ohne Unterlass stattfindet und mit einem deutlichen Verlust von künstlerischer Diversität einhergeht. Der Erste Bezirk ist beinahe gänzlich zur Domäne der Hochkultur geworden, alternative Kunst lässt sich maximal noch in der Vorstadt und an der Peripherie genießen.
Im neuen Kunsttempel
Seither hat es mich zweimal in die aufwändig mit Hilfe des Sponsorings der Strabag renovierten Hallen der Albertina modern verschlagen – einmal zur Eröffnung, dem gesellschaftlichen Großereignis, bei dem sich Betreiber, KuratorInnen inklusive ihrer potenten Sponsoren selbst abfeierten und die kaum ästhetische Neuanfänge versprach. Eher »more of the same« eines kleinen elitären Reigens von Großausstellungen mit Werken berühmter KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts, Ikonen aus dem Kanon, wie man allerorts in dutzenden Variationen vorfindet – medial, touristisch und kommerziell verwertbar, wenig dazu angetan, die viel zitierte »Masse« zu erreichen. Mein zweiter, wesentlich lehrreicherer Besuch galt kürzlich der retrospektiven Ausstellung Ai Weiwei. In Search of Humanity, die Anlass gibt zur Reflexion über Entwicklungen avantgardistischer Kunst heute.
Erstaunliches Kompendium politischer Kunst
Die Ausstellung bietet eine überwältigende Vielfalt von Werken, einen Überblick über eine mehr als vier Jahrzehnte währende Künstlerkarriere und beinhaltet Schlüsselwerke aus allen Schaffensphasen. Die Gliederung erfolgt nach Epochen: Im Zentrum stehen dabei seine 81 Tage der Inhaftierung, die in der originalgetreu nachkonstruierten und begehbaren Zelle sowie weiteren Dioramen nachgebildet sind. Das Metier des Konzeptkünstlers, Dissidenten und Aktivisten ist die Kritik an staatlicher Manipulation und Überwachung, ob in Fotoserien, ready-mades, Skulpturen in billigen und edlen Materialien (Marmor, Bronze) oder raumgreifenden Installationen.
Direktor Klaus-Albrecht Schröder schickt in der Ankündigung vorweg, dass Ai Weiwei »einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit, ein unermüdlicher Aktivist und Kritiker autoritärer Systeme« sei, womit der hohe Ton der Retrospektive angeschlagen ist. Mit In Search of Humanity umreißt der Großmeister seine bevorzugten Themen von Demokratie, Menschenrechten, Flucht, Meinungsfreiheit und gibt den eigenen provokanten Kunst-politischen Statements breiten Raum. Beginnend mit Frühwerken, die geprägt sind von der Auseinandersetzung mit seinem Heimatland China, wo er als Kind die Verbannung seines Vaters, des bekannten Dichters Ai Qing, und die Folgen der Kulturrevolution miterlebte, später als aufstrebender Künstler in der Szene im New York der 1980er, wo er zum Dokumentarist der amerikanischen Protestbewegungen mutierte und der kritischen künstleri-schen Bearbeitung seiner Verhaftung während der Proteste 2011. Danach hatte er bis 2015 Reiseverbot, anschließend ging er in den Westen. Zuerst in Berlin und London ansässig, lebt Ai Weiwei derzeit in Portugal.
Zurück in Peking waren es die Nachwehen des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens, die seine Kunst inspirierten. Davon zeugt der ausgestreckte Mittelfinger, den er in Fotos ikonischer Bauwerke als Repräsentationsobjekte der Macht entgegenhält, um die Missstände und autoritäre Herrschaftsstrukturen anzuprangern. Oder in der aktivistischen Zerstörung von Kulturgütern, wenn er für eine Foto collage alte chinesische Vasen zu Boden schmettert. Beindruckend darunter die »Treadmill« von WikiLeaks-Gründer Julian Assange, die er lapidar ins Museum stellt und begleitet mit einem Video – Ai läuft (auf der Stelle) auf dem Laufband, das ihm Assange schenkte und mit dem er auf die Pressefreiheit als wichtige Säule der sogenannten freien Gesellschaft hinweist.
Ästhetische und politische Arbeit, Kunst und Aktivismus sind in Ai Weiweis Schaffen untrennbar verbunden. Er legt die Finger auf die Wunden von Zensur und Machtmissbrauch, posiert als Anwalt der weltweiten Migrationskrise, bereist Flüchtlings lager und kommentiert die anhaltenden Verletzungen von Asyl- und Menschenrechten. Die aktuelle Situation Flüchtender auf der ganzen Welt betrachtet er als die größte globale humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg – und er ruft jeden und jede dazu auf, zu handeln, solange es noch nicht zu spät ist. Über den Krieg in der Ukraine sprach er zuletzt bei Pressegesprächen aus Anlass der Wiener Ausstellung:
»Es war natürlich ein Schock, der Krieg war unvorhersehbar. Aber er ist jetzt so real und so nahe. Wir sehen, dass unser friedliches Leben und unsere friedliche Ära zu Ende gehen. Es kam so plötzlich, und man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass es in Europa einen Krieg geben würde und so viele Flüchtlinge und viele Tote. Und das geht jetzt noch weiter. Jeder ist in Panik. Die Welt braucht jetzt eine klare Schlussfolgerung aus dieser Lage. Wir brauchen Frieden. Stoppt den Krieg. Wo immer auf der Welt. No war!«
Einverleibung total, Avantgarde ade?
Die gelungene Retrospektive von und für den Universal-Künstler Ai Wei Wei in der Albertina modern stellt Fragen und gibt manche Rätsel auf: Ist die Bewegung künstlerischer Avantgarden, die derzeit in Wien Station macht und sich mittlerweile europaweit fest verankert hat, endgültig vom Mainstream verschluckt worden? Hat die Kunst im Zeichen kapitalistischer Betriebsamkeit, um sich greifender Festivalisierung und institutioneller Mono-polisierung die Aussicht auf kommende ästhetische Revolutionen zunichte gemacht? Haben es westliche wie östliche AvantgardistInnen verabsäumt, effektiven Widerstand gegen Prozesse der Vereinnahmung, Vermarkung und schleichender Kooptierung inhaltliche Deutungshoheit zu leisten? Was hätte man gegen den unaufhaltsamen Trend zur Kommerzialisierung ausrichten können? Worin bestehen die Ansprüche rebellischer AvantgardistInnen, die sich angesichts einer durch und durch von Herrschaftsdenken kontrollierten Kunstszene mit dem Scheitern ihrer vormaligen Illusionen konfrontiert sehen? Hat es die jeweils herrschende Bourgeoisie nicht stets verstanden, sich künstlerische »Revolutionen« stolz auf ihre Fahnen zu heften, sie als Zeichen ihrer grenzenlosen Toleranz darzustellen und damit gutes Geschäft zu machen? Ist das historische Zeitfenster, das sich nach knapp 150 Jahren nun zu schließen scheint, für einen Ausbruch der Kunst aus dem Korsett der Abhängigkeit in die erträumte Freiheit – dem Traum von Kunst/Kultur für alle! – mit der neoliberalen Deformation der bürgerlichen Gesellschaft endgültig abgelaufen?
Ist es dieses spätkapitalistische Prinzip der grenzenlosen Vermarkung, das man atmosphärisch in der neuen Albertina modern verspürt und gegen das sich selbst ein Kunststar wie Ai Weiwei nicht zu wehren vermag? Hier ist zweifelsohne ein großartiger politischer Künstler am Werk, wie man ihn landauf landab, ob West oder Ost, nicht zweimal findet. Leider wird man den Eindruck nicht los, dass hier bei uns im Westen seine Werke weniger der Demonstration künstlerischer Freiheiten als der Diskreditierung des chinesischen Modells von Kommunismus dienen.
Die Ausstellung Ai Weiwei. In Search of Humanity ist noch bis zum 4. September 2022 zu sehen.