Edel und gut? Warum Bildung alles machen und nichts bekommen soll

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Fragen von Jan Niggemann

Bildung wird für viele wichtige Aufgaben angesprochen: Vorurteile und Diskriminierung abbauen, Menschen ohne Erbe sozial aufsteigen lassen, gegen rechten Populismus helfen usw. Bildung hat aber in der Form der Schulbildung die Funktion, bestehende Ungleichheit zu erhalten, Lebenschancen zu verteilen und nach zukünftigen Tätigkeiten zu sortieren. Zeit für außerschulische politische Bildung ist knapp. Vereine und Initiativen, die sie gezielt und kostenlos anbieten, haben knappe oder keine Budgets, werden nicht gefördert oder nur sehr selektiv. Was bedeutet es, wenn eine Gesellschaft die wichtige und sozial unverzichtbare Arbeit kaum oder schlecht bezahlt, während sie sie lobt, so lange Ruhe herrscht und es nichts kostet?

Diese komplexen, gewollt emanzipatorischen Prozesse sind langwierig: Lernen, bilden, erziehen, fürsorglich und unterstützend oder assistierend da sein lohnen sich für Menschen, aber nur bedingt für den Markt. Dennoch boomen Privatschulen, Nachhilfe, Coachings und Beratungen oder Tutorials auf youtube, tiktok oder insta. Der Bedarf ist riesig, die Bezahlung ein Witz. In der Hochschule werden massenhafte Befristungen zur neuen Normalität, so dass sich ohne sachlich-inhaltliche Begründung alle paar Monate die Karrieren und Lebensläufe statt dem Forschungs- oder Lernprozess zu folgen, einer abstrakten Konkurrenz also einer konkret unplanbaren Situation anpassen müssen. Bildung wird zur Ware, die Orte ihrer Vermittlung oder Ermöglichung werden zum Markt oder dem Zufall überlassen.

Andererseits hält diese Zwangslage, weil diejenigen, die im Bildungsbereich arbeiten, die Lücken mit Engagement, Idealismus, Mut und Fleiß tragen, also Mittragen, auch ohne angemessene symbolische oder materielle Aufwertung. Das Gefühl, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, ist sicher angenehmer, als Ohnmacht und wenige Spielräume zu erkennen. Dennoch beschleicht einen das Gefühl, dass genau dort die Falle zuschnappt. Und es stimmt, wenngleich auch nicht ganz. Denn so sehr Bildung zur Dienstleistung wird, widerstreben ihre Unplanbarkeit und Eigentümlichkeit sowie die Interessen und Wünsche der an ihr Beteiligten auch ihrer kompletten Vereinnahmung.

Bildung ist nicht neutral

Denken hat die Aufgabe, die Alternativlosigkeit von Gegenwart und das Erbe der Vergangenheit nicht als Perspektive der Ohnmacht, sondern des Möglichen (dabei überschreitenden) zu entwerfen. Der italienische Journalist, Philosoph und Mitbegründer der sozialistischen und der kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci interveniert in die als Naturgesetz erlebte und empfundene Geschichte, indem er all die Gruppen adressiert, die bisher keine oder keine »gemeinsame« Zukunft erwartet, gedacht oder geplant haben und stellt sich gegen jede Form von »Schicksalsgemeinschaft«. Mit und durch Bildung können sich Menschen selbst in die Geschichte einmischen lernen, sich selbst als denkende und fühlende individuell-kollektive Wesen kennenlernen, die »ohne Inventarvorbehalt« die Spuren der Gewalt und Herrschaft in ihnen und zwischen ihnen kennen lernen wollen. Nicht um sie zu leugnen, sondern mit ihnen Bündnisse, Lernprozesse und Kämpfe zu ermöglichen, in denen sie sich und die Welt verändern. Strukturen und Beziehungen zu sich selbst und untereinander sind nicht abstrakt, aber wirken unsichtbar. Menschen können selbst Erkenntnis- oder Beherrschungsobjekte sein und Objekte das Ergebnis subjektiver Tätigkeiten anderer: »Der Mensch ist zu begreifen als ein geschichtlicher Block von rein individuellen, subjektiven Elementen und von massenhaften, objektiven und materiellen Elementen, zu denen der Mensch eine tätige Beziehung unterhält.« (Gramsci) Das Wesen des Menschen liegt nicht in einem authentischen Kern, sondern in der Gesellschaftlichkeit, die Gramsci auch als »Konformismus« bezeichnet. Was einen Menschen als einzigartiges Individuum ausmacht, ist ein tätiges Dasein. Menschen sind ein Knotenpunkt sozialer Mehrfachzugehörigkeiten, sie gehören gleichzeitig vielen Gruppen an. Das gesellschaftliche Wesen des Menschen ist so widersprüchlich wie seine Existenzbedingungen, seine Geschichte und Situation.

Alle Menschen machen die Welt

Gesellschaftliche Widersprüche durchziehen die Geschichte und zeigen sich als Zerrissenheit des Menschengeschlechts durch Arbeitsteilung und Besitzungleichheit, in der Fragmentierung der Subjekte, ihrer Seelen, Körper und Gedanken, aber auch in der manchmal uneindeutigen Zugehörigkeit und Zuweisung zu verschiedenen sozialen Gruppen. Solche Spaltungen drücken sich in der Einsetzung von Gegensätzen aus: von Stärke und Schwäche, intellektuell und manuell, Kognition und Emotion und vielen weiteren. Wenn aber Spaltungen Ergebnisse sozialer Ungleichheit sind, müssen sie historisch verstanden werden, um ihre Wirkmächtigkeit aufzuschlüsseln und den Zweck, den sie für die Interessen bestimmter Gruppen erfüllen. Es genügt nicht, sie als Tatsachen zu sehen oder als menschliche Natur. Es gibt keine Konflikte außerhalb der Hierarchien von Gruppen. Sich selbst erkennen und die eigene Lage verstehen, das lernt niemand in der Schule oder eben gerade. »Diese Verhältnisse sind nicht mechanisch. Sie sind tätig und bewusst, d. h. sie entsprechen einem größeren oder geringeren Grad des Verständnisses, das der Einzelmensch von ihnen hat. Daher kann man sagen, dass jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, anders werden lässt und verändert.« (Gramsci) Das tätige Verhältnis, das Menschen zu ihren Verhältnissen eingehen, zeigt ihren sozialen Charakter und nicht der Status. Ihre Abhängigkeit in der Organisation des Zusammenlebens stellt die Idee einer Individualität als autonomer Existenz unabhängig von anderen radikal in Zweifel.

Der Mensch stehe in einem Austausch mit seinem Selbst, der Welt und den Anderen, einer Tätigkeitsbeziehung zu den anderen Menschen und der Ordnung der Dinge. Das schließt die Gleichzeitigkeit von Individualität und Kollektivität, von Vergangenheit und Gegenwart mit ein. So können sie durch die Kritik an der Aneignung und Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse »in einen Prozess der sozialen und kulturellen Selbstpotenzierung« (Merkens) eintreten, indem sie Möglichkeiten sehen und ergreifen. Und selbst zu anderen werden. In der diskreten Poesie der Sprache von Gramsci: »Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln.« Selbstveränderung, die sich ohne die Veränderung der Bedingungen, unter denen sie stattfindet, vollzieht, muss dementsprechend noch keine Selbstpotenzierung sein. Sie wird es erst, wenn Menschen über die Fortsetzung oder Rücknahme dieser Entwicklung selbst verfügen. Gramsci bezeichnet die menschliche Selbstpotenzierung in Veränderung der Umstände als explizit politisch-pädagogischen Prozess, weil sie die Entwicklung der Persönlichkeit an die Entwicklung gesellschaftlicher Umstände knüpft. »Daher kann man sagen, dass der Mensch wesentlich politisch ist, denn die Tätigkeit zur bewussten Umformung und Leitung der anderen Menschen verwirklicht seine ›Menschlichkeit‹, sein ›menschliches Wesen‹.«

Vom Fühlen zum Verstehen zum Wissen

Die schwierige Aufgabe, in der die Hoffnung auf Bildung steckt, ist es also all die Verbindungen und Zusammenhänge zu verstehen, wo andere Prinzipien, Wesen oder Schicksal sagen. Das geht nicht, wenn Denken, Fühlen und Handeln gegeneinander ausgespielt oder voneinander isoliert werden. Autonomie ist selbst ein Ergebnis von Herrschaft: die Freude über Autonomie bleibt allen anderen im Halse stecken. Emotionen haben eine »erkenntnisleitende Funktion«, sie sind Bewertungen von Zuständen und Situationen, die man erstmal verstehen und deuten muss. Das zu Beginn erwähnte Denken als individuelle und kollektive Suche nach den Möglichkei-ten einer Situation, einer Zeit eines Raumes, einer Politikform bedeutet dann nicht, aus jeder Ruine ein Schloss zu bauen, sondern die Grenzen des Möglichen als Begrenzungen durch Machtverhältnisse erkennen zu lernen, inklusive der eigenen Umgangsweisen mit Emotionen als widersprüchliche Verbindung zu den gesellschaftlichen Bedingungen.

Double Binds und Dilemmata

Pädagogische Autorität ist eine mögliche Umgangsweise, in der Menschen anderen zeigen, wie mit dieser widersprüchlichen und überdeterminierten Ausgangslage umzugehen ist. Darin wird Bildung als offener Möglichkeitsraum begriffen, in dem die Verstrickung mit der Herrschaft als gewordene Tätigkeitsbeziehung so untersucht wird, dass individuelle und gesellschaftliche Perspektiven durch kollektive, solidarische Sorgebeziehungen entstehen, die die Abhängigkeiten voneinander nicht leugnen. Das eigene Inventar der Überzeugungen, des Glauben, der emotionalen Zugehörigkeiten benötigt Umgangsformen und auch Bildungsformate, die unterstützend sein sollen und Konflikte nicht vermeiden, sondern austragen. Und das ist gegen machtvolle Bedingungen schwierig. Dazu brauchen wir einander mehr denn je. Und um noch einmal wegzugehen von den Einzelnen: ermöglichen die Bildungsinstitutionen Räume und Möglichkeiten, neue Koopera tionsformen zu finden, zu üben und sich gemeinsam den Herausforderungen einer verschwindenden Zukunft zu stellen? Wie kommt das Volk in die Volkshochschulen und wie hoch sind die Hürden der Schulen? Wie lange möchte sich ein Bildungssystem leisten, nach marktkonformen Kriterien zu funktionieren, die Zeit, Potentiale und Energie der in ihr Arbeitenden vergeuden und mit den Ressourcen umgehen wie Bolsonaro mit dem Regenwald? Schließlich kommt keine Erziehung ohne Zwang aus. Am Ende ist auch für die im Bildungsbereich Tätigen eine offene Frage, wer die Erziehenden bildet und wo die Grenzen sind, wo Erziehung, Bildung, Lernen und Sorgen vernünftig bezahlt, höher geschätzt und ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens rücken. Es gibt keine Zukunft ohne Sorge um die Zukünftigen.

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Gelesen 1944 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 21 Juli 2022 12:04
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