Angry Pride Happy Pride ILLUSTRATION: COLORVALLEY (HAIFA, ISRAEL) / DEPOSITPHOTO

Angry Pride Happy Pride

von

Ein Essay von Denice Bourbon

Es ist Sommer 1998 und ich sitze alleine außerhalb eines abgeschlossenen Bereichs. Ich sehe Menschen dabei zu, wie sie trinken und lautstark Spaß haben. Ich stehe auf einer Seite des Zauns, sie auf der anderen. Sie drinnen, ich draußen. Ich sitze auf weichem, grünem Gras und sie wirbeln Staub auf mit ihren FlipFlops und ihren Buffalo Schuhen. Auf dem großen trockenen Spielfeld füllen Tische und Bierbänke die leeren Flächen zwischen Barzelten, temporären Merchandise-Ständen und verschieden großen Bühnen. Irgendwo steht der Ring fürs lesbische Schlammcatchen.

Sie und ich, wir befinden uns auf der Europride in Stockholm. Aber ich bin Zuschauerin, sehe ihnen beim Feiern zu und sie nehmen keine Notiz von dem Goth-Mädchen, dass alleine im Gras sitzt, mit der warmen Bierdose in der Hand. Schmelzendes Make-up rinnt mir das Gesicht hinunter, während ich in der erbarmungslosen Sonne brate. Sie grölen Eurovision Song Contest Hits, während sie ihre Plastikbecher mit überteuertem Bier in der Luft schwenken. Ich sitze hier und frage mich: »Soll das jetzt mein Leben sein?«

Es ist weniger als ein Jahr her, seit ich der ganzen Welt (mich eingeschlossen) erzählt habe, dass Heterosexualität eigentlich nicht meins ist. Das Internet und die Möglichkeiten, sich mit anderen Queers in Verbindung zu setzen, war noch nichts, wozu alle Menschen Zugang hatten. Ich hatte versucht, queere Freund* innen zu finden, um mich weniger wie »Die Einsame Lesbe« zu fühlen, aber wie macht man sich denn Freund*innen auf Basis der geteilten Sexualität? Was hatte ich gemeinsam mit diesen Leuten, abgesehen davon, dass wir homo sind? Nichts.

So fühlte sich das an. Wir hatten nichts gemeinsam. Ich kam von Punk Rock, Alternativer Musik, antikapitalistischer Politik. Von rasierten Köpfen und non-konformem Make-up. Und saß da, sah mir die Leute an, die gekleidet waren wie all die anderen Normies auf der Welt (mal abgesehen von den Drag Queens). Sie singen mainstreamige Horror-Kommerz-Kack-Lieder und kennen jedes einzelne Wort, als hätten sie es in der Schwul-Schule gelernt.

»So fühlt sich das an, wenn man Teil der queeren Szene ist?« Wobei queer war damals eigentlich kein Konzept. Wir waren Homos. Manche waren Bi, aber die zählten nicht. Homo it was.

Also warum bin ich hier? Warum sitze ich alleine draußen? Warum sitze ich nicht drinnen? Warum bin ich allein?

Rückblick: Ich lebte zu dieser Zeit von weniger als 150 Euro im Monat, musste jeden Cent zählen, um sicher sein zu können, dass ich die Zeit bis zur nächsten Sozialhilfe-Zahlung überstehe. Aber ich hatte gerade erst mein Coming-Out, meine Mutter war gerade gestorben und ich wollte wirklich wissen, wie man eine Lesbe ist. Also habe ich 40 Euro investiert, um mit dem Bus sieben Stunden von Malmö in die Hauptstadt von Schweden zu fahren, in der Hoffnung, dass ich dort Homos wie mich treffe. Dort gab es zehntausende Queers auf einem Platz. Dort musste es Leute geben, die homosexuell und große The Cure Fans waren, oder?

Ich kam in Stockholm an, so aufgeregt, dass ich dachte, ich müsste aus der Haut fahren. Vielleicht würde ich ja sogar jemand Besonderen treffen. Die erste Hürde begegnete mir sehr schnell. Die Öffi-Fahrkarten waren zu teuer und ich musste sehr genau überlegen, welchen Weg ich nehmen wollte. (Die Öffis in Stockholm sind nicht frei zugänglich, wie in Wien. Es gibt Gates.) Und das Falafel Sandwich, das in Malmö einen Euro kostet, kostet 3 Euro in Stockholm. Aber dadurch wollte ich mich nicht aufhalten lassen.

Ich hatte Göttin sei Dank DocMartens an (These Boots Are Made for Walking) und war davon überzeugt, dass die Käsebrote, die ich mir zuhause gemacht hatte, eine volle Mahlzeit darstellten. Ich war mit meiner neuen Mitbewohnerin dorthin gereist, die Musicals liebte und Song Contest Fan war. Sie hatte vor, mit dem Malmö Schwulen- und Lesben-Chor aufzutreten und hatte den Veranstalter*innen gesagt, ich wäre Teil des Chors. Also hatte ich eine Couch, auf der ich schlafen konnte.

Wir waren ein seltsames Paar, sie und ich. Das totale Gegenteil voneinander. Sie konnte nicht verstehen, warum ich mich dazu »entschlossen« hatte, mein Leben so zu leben. Und ich hatte das Gefühl, dass sie keine eigene Persönlichkeit hatte. Aber irgendwie kamen wir miteinander aus und sie war im Grunde genommen eine der wenigen lesbischen Menschen, die ich kannte. Langer Rede kurzer Sinn, das war meine erste Pride überhaupt, seit ich als Lesbe out and proud war (im Jahr davor war ich schon auf der Malmö-Pride, versteckte mich hinter einer kleinen Regenbogen-Fahne und murmelte Dinge vor mich hin wie »vielleicht ein bisschen Bi«). Und das war hier nicht irgendeine Pride. Es war die EuroPride, mit Leuten aus ganz Europa. Und wenn ich sage Leute, dann meine ich schwule Männer mit viel Geld. Sie waren die einzigen, die sich die Reise nach Stockholm leisten konnten, in der Zeit vor Billigfluglinien. Stockhom ist ziemlich am Arsch der Welt, wenn man sich die Europa-Karte anschaut. Ich war so aufgeregt.

Und dann kam ich an, beim »Pride Park« und da war ein Schild, auf dem stand »Wochenpass 75 Euro / Tagesticket 20 Euro«. Mein Herz fiel mir in die Stiefel und ich wusste, dass ich das Innere dieses Parks nie sehen werde. Und ich dachte mir: »Scheiß drauf, ich war schon auf Festivals, ich bin früher schon über Zäune geklettert. Ich bin Punk Rock. Ich brauche keine Pässe und Tickets!«

Ich sagte das auch laut zu meiner Mitbewohnerin, und sie sah mich an als hätte ich sie gerade angekotzt. »Das kannst du doch nicht machen, was ist, wenn sie dich erwischen? Das ist super peinlich ...« Ich sah ihr an, dass sie gerade total bereute, dass sie mich mitgenommen hatte. Ich wollte sie nicht blamieren, letztendlich hatte sie die Couch für mich organisiert. Sie hat mir angeboten, mir ein Tagesticket zu bezahlen, aber ich hatte die Getränkepreise auf den Tafeln schon durch den Zaun gesehen und ich wollte nicht der traurige Grufti mit einem Glas Wasser sein, der in einer Staubwolke verschwindet, während Schwule mit nacktem Oberkörper um mich herumtanzen und »I am what I am« singen.

Ich sah mich um und sah, dass tatsächlich auch viele viele Menschen im Park rund um den Bereich saßen, billigen Wein direkt aus der Flasche tranken, Picknicks auf Decken hatten und Musik aus riesigen Boomboxen hörten, bis die Batterien leer waren. Ich sagte ihr, es wäre okay für mich, draußen zu bleiben. Dass ich mir ein Bier aus dem Supermarkt holen und mich draußen hinsetzen würde. Und dass ich mir sicher war, dass ich Freund*innen finden würde. »Mach dir keine Sorgen, geh rein. Viel Spaß beim Song-Contest Karaoke!«

Ich setzte mich hin und sah mich um. In der Nähe saß eine Gruppe, die wie meine alten Punk Freund*innen aussahen, nur nicht so hetero. Sie sahen aus, als hätten sie so viel Spaß. Sie hatten ein Transpi, auf dem stand »Stockholm Shame«. Ich brauchte eine Stunde, bis ich das Wortspiel begriffen hatte. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wofür sie sich schämten. Es fühlte sich an, wie am ersten Schultag. Wenn du auf dem Spielplatz stehst und darauf wartest, dass jemand kommt und dich fragt, ob ihr beste Freund*innen sein wollt. Ich versuchte dezent cool und lässig zu wirken, als ob ich auf jemanden warten würde. Ich wollte nicht, dass jemand denkt, dass ich alleine hier war (nicht die beste Strategie, neue Leute kennen zu lernen).

Ich blickte durch den Zaun, sah die Leute, wie sie mit Geld um sich warfen, als gäbe es kein Morgen. Mit einem Schmunzeln im Gesicht dachte ich mir: »Stockholm Pride … Euro Pride … Ein Haufen kapitalistischer Kackscheiße, nicht besser als jede andere Mainstream Mist-Veranstaltung!«

Aber insgeheim wünschte ich mir, bei ihnen sein zu können. Und ich wünschte mir auch, tapfer genug zu sein, um »Hallo« zu den Queerpunks da drüben sagen zu können. Ich wünschte mir, ich wäre hetero, damit ich einfach zu normalen Punk Festivals gehen und damit zufrieden sein konnte. Ich wünschte mir, ich wäre eine Normie-Lesbe, die Eurodisco Musik liebt, damit ich in die Menge passe. Ich wünschte mir so viele Sachen und habe so wenig deswegen unternommen.

Mitten in der Pride Woche bin ich dann weg aus Stockholm, um mit irgend so einem Typen rumzumachen, den ich bei einem Festival kennen gelernt hatte. Ich brauchte einfach das Gefühl, zu wissen, was ich tue. Es war nicht das Richtige für mich, das zu tun, aber es gab mir Sicherheit. Er lebte eine Stunde von Stockholm entfernt und ich bin dort per Anhalter hingefahren. Und rechtzeitig zur großen Pride Parade wieder zurück. Aber ich hasste mich später selbst dafür, dass ich mich der Heteronorm gebeugt hatte. Und ich gab der Pride die Schuld. Ich ging ein bisschen mit der Parade mit, bis es sich falsch anfühlte. Die Schwulen Polizisten hatten ihren eigenen Block. Und dann kamen die Schwulen Geschäftsmänner. WTF?

Ich war danach lange auf keiner Pride Veranstaltung mehr. Ich habe andere Wege gefunden, stolz und queer zu sein und ich wusste, dass ich mich Dingen, die Konsumismus und Geld miteinschlossen, nicht anschließen musste. Ich wollte nicht derselben Gruppe angehören, wie die ganzen »Heterolesben«, nur weil wir die gleiche Lust-Orientierung teilten. Pffft.

»Die Pride ist nicht mehr politisch! Die Pride besteht nur mehr aus Unterneh-men, die vom queeren Konsumismus leben! Nur weil du eine Pride Fahne in deinem Schaufenster hast, bist du noch kein*e Unterstützer*in!«

Ich war echt eine trotzige Spaßbremse, die ihre politischen Ideale jedem unter die Nase gerieben hat, ohne auch nur danach zu fragen. Und dann, an einem wunderschönen Tag im Juni in Wien, noch nicht viele Jahre her, fiel diese Maske aus Ärger und Frust von mir ab und ich konnte sehen, wie die Leute feierten. Die Queers vom Land, die zu Hause nicht den Luxus der eigenen Szene hatten. Menschen, die genau einmal im Jahr Party machen konnten und zwar am Tag der Pride.

Die Leute von der Queer Base, die zum ersten Mal überhaupt bei einer Pride feiern konnten, ohne Angst vor Repression, Angst um ihre Sicherheit, Angst um ihr Leben haben zu müssen. Die unterschiedlichen kleinen politischen Netzwerke, die harte Arbeit leisten, um einzelne Themen sichtbar zu machen, die von der Gesellschaft ignoriert werden, weil sie nur für eine kleine Gruppe von Menschen relevant sind. Themen, die aber überlebens-notwendig sind für die Menschen, deren Leben davon abhängt.

Und ich fühlte mich so überheblich. Ich hatte von einem privilegierten Stand-punkt aus herumgeschrien, Jahre lang. Ich konnte nicht sehen, welches Privileg das war, ein großes queeres Netzwerk zu haben. In den vergangenen Jahren konnte ich meine eigene Pride jeden einzelnen Tag feiern. Das können nicht viele Menschen. Viele haben vielleicht nur diesen einen Tag. Und ich stand da und wollte sie anschreien dafür, dass sie »Lakaien des Schwulen Kapitalismus« waren. Ich trat die Ärger-Maske von mir weg und nahm an den Feierlichkeiten Teil.

Ja, es ist sehr Mainstream. Aber das ist auch okay. Nichts hält uns davon ab, unsere eigenen Gruppen bei der Parade zu bilden, anzuziehen, was wir wollen. Schilder zu tragen, mit welchen Sprüchen wir auch immer wollen. Wir können unsere eigenen After-Pride-Partys organisieren, wenn uns die existie-renden Partys nicht taugen. Und wir können unsere Energie einsetzen, um sicher zu stellen, dass wir eine inklusivere diversere Pride schaffen, damit die Menschen sehen, dass es mehr gibt als weiße schwule Männer, die im Brustgeschirr zu Techno tanzen. Wir können uns auch ein bisschen beruhigen und »wooohooo« rufen, wenn die Lastautos mit den Muscle-Gays an uns vorbeifahren. Wir können uns entscheiden, eine schöne Zeit zu haben. Einmal im Jahr etwas oberflächlichen Spaß haben. Zwar kritisch und aufmerksam bleiben, aber unsere Bitterkeit in ein Schachterl geben und ein bisschen Party machen.

Vor 24 Jahren war ich eine komische 22-jährige Lesbe außerhalb des Zauns. Es fühlte sich an, als wäre in der LGBTQ+ Community kein Platz für mich. Und wahrscheinlich hatte ich Recht. Es war damals kein Platz. Aber jetzt ist Platz. Weil sich die Zeiten verändern. Die Straßen werden breiter und Spaß haben gibt einem so viel mehr Energie als zwider sein. Und diese Energie brauchen wir, um die Straßen offen zu halten für Alle! Happy Pride Everybody!

Aus dem Englischen übersetzt von Diana Leah Mosser

Denice Bourbon ist eine lesbisch/queerfeministische Performancekünstlerin, Sängerin, Autorin, Moderatorin, Kuratorin und Stand-up-Comedian. Sie verwendet Humor und Unterhaltung als aktivistisches Werkzeug, um auf politische Themen aufmerksam zu machen. Seit Jahren arbeitet sie als freie Künst lerin sowohl im Theater- als auch im Filmbereich.

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Gelesen 1942 mal Letzte Änderung am Sonntag, 12 Juni 2022 11:54
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