Gibt es ein demokratisches Gefühl? FOTO: ANDREKAPHOTO, BOGOTA / DESPOSITPHOTOS

Gibt es ein demokratisches Gefühl?

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Die Frage, wie Menschen mehr Lust auf Demokratie zu machen sei, verfehlt die Aufgabe fast immer im Kern, denn dabei wird eine Art der »Manipulation zum Guten« versucht, die dem demokratischen Streben an sich widerspricht.

Von Frank Jödicke

Vorbemerkung: Diese Zeilen werden in dem Moment geschrieben, als der russische Präsident Wladimir Putin seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat wegen des »aggressiven Verhaltens« der NATO. Durch den Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ist eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt worden, deren Ausgang ungewiss ist. Die wechselseitige Demonstration der »Stärke« der Konfliktparteien kann im Tod aller enden. Bei atomaren Konflikten übernimmt zuletzt die »Totmannschaltung«, wie die militärische Fachsprache sagt, somit ein Mechanismus, der selbst nach dem Tod sämtlicher beteiligter Soldat*innen noch den Abwurf der A-Bombe auslöst. Die Absurdität des Atomzeitalters ist eigentlich intellektuell leicht zu begreifen, allein die Gefühle hinken immer noch hinterher. Tatsächlich dominiert immer noch ein archaischer »Glaube« an den Sieg über die jeweiligen Gegner*innen, der leugnet, wie viel Niederlage in jedem Sieg steckt. Eine demokratische Aushandlung sollte hingegen eben dies bewusst machen: Wir gelangen zu einer gemeinsamen Lösung, die die Ansprüche beider Seiten begrenzt, im Wissen darum, dass der Kompromiss besser ist als jeder »Sieg«. Warum ist es aber so schwer dies zu empfinden?

Das gegenteilige Gefühl ist leicht zur Hand. Am Abend der Nukleardrohung Russlands wurde aus deutschen Fernsehstudios der Kampf für die Demokratie mit Waffengewalt gefordert. »Endlich« (?) seien alle Illusionen über Russland gefallen und jetzt helfe nur mehr die Tat. Waffenlieferung ins Kriegsgebiet und hundert Milliarden mehr fürs Militär. Es scheint, als spüre man die Schwäche des russischen Diktators. Der kalte Krieg, der nie geendet hat, wird wieder heiß. Bei allem berechtigten Abscheu gegenüber dem durch nichts zu rechtfertigenden Verhalten Putins dürfte besonneneren Beobach-ter*innen der immanente Widerspruch der gewaltsamen Liebe zur Demokratie auffallen. Das zutiefst undemokratische Gefühl, dass es »jene« gibt, die nie verstehen und nie verstehen werden und die keine »andere Sprache verstehen« als die Durchsetzung von »Prinzipien« mit Gewalt. Ein seltsamer Irrglaube, weil die gescholtenen Machthaber und Generäle genau diese Sprache sehr gut verstehen. Es ist tatsächlich genau das, worauf Diktatoren schon immer insgeheim gehofft haben und wovon sie fest ausgingen: Hinter den westlichen Demokratiemasken hält sich die gleiche Lust an der Gewalt verborgen.

Erlebnis des Ausgleichs

Historisch gesehen gibt es eine ziemlich alte und wenig befriedigende Diskussion darüber, wie dem Wissen und der rationalen Erwägung ein Gefühl hinzugesellt werden könnte. Etwa durch die Entwicklung einer »Vernunftreli-gion« (Deutscher Idealismus) oder die Beförderung eines »Verfassungsstolzes« (Habermas). Sagen wir mal so: People aren’t buying it. Dadurch wird es für dunkle und potenziell gefährlichere Gefühle leichter, zu »übernehmen« und sich durch irrationale Handlungen zu verwirklichen. Im Autoritarismus wird die Sehnsucht nach einem »starken Mann« gefordert, der alles regelt. Ein Mann, der mit entblößtem Oberkörper durch die Tundra reitet und die Welt in Stücke sprengt, weil seinem verletzten Mütchen nicht Sorge getragen wird. Die hierbei erlebbare Lust an der Unterwerfung ist leider ein starkes Gefühl. Niederwerfen vor dem Größeren, das zugleich der eigenen Verantwortung enthebt. Ein anderes gut bekanntes Phänomen ist die Lust an der Rache, die gerade auch den österreichischen Parlamentarismus bestimmt. Ziel des eigenen Agierens ist die Vergeltung am politischen Gegner, die einzig vielleicht durch Sideletter eingeschränkt werden kann.

Ein demokratisches Gefühl würde hingegen dazu anleiten, Spaltungen auszugleichen. Wie schwer dies ist, lässt sich gut an der aktuellen (und ungeheuer ermüdenden) Impfdiskussion zeigen. Impfgegner*innen mögen manches rechtsstaatliche Argument mit gutem Grund anführen, aber darum geht es offensichtlich nicht. Wer an Impfdemos vorbeischlendert, wird einer nicht vermittelbaren Spaltung ansichtig, zwischen einerseits grandiosen, aber abstrakten Forderungen »Freiheit, Menschenrecht und Land, in dem Milch und Honig fließen« und andererseits dem winzigen Bedürfnis, sich nicht impfen zu lassen. Eine Forderung, die jede Mitbürger*in gerne gewähren würde, wäre es nicht eine potenzielle Gesundheitsgefahr für alle. Eine Verbindung zwischen Heilsversprechen und Nicht-Impfen ist nicht mehr zu finden. Allein dieser intellektuelle Schaden macht die Veranstal tungen im Kern rechtsautoritär. Deshalb taucht auch immer das Missverständnis der »Souveränität« auf. Der Einser-Schmäh der Querfrontler*innen! Souverän ist im demokratischen Rechtsstaat das Elektorat, mithin alle Bürger*innen, denen Wahl erlaubt ist. Nur merken sie das nicht so richtig, weil die anderen das Falsche wählen. Deswegen verspricht der geübte Neonazi die »Souveränität« als Konzept: »Ab Morgen ist jede*r König*in.« Ein rein praktisch unmögliches Versprechen. Der Ausgleich divergierender Interessen setzt ein »Von-sich-selbst-Absehen« voraus und ist deshalb Grundvoraussetzung für das Erleben eines demokratischen Gefühls. Es hat genau besehen mehr Genuss im Gepäck als jede Vorstadtkönig-Heilsversprechung.

Räte vielleicht?

Allerdings will dieses Gefühl erst geschult werden. Wer sich zum alleinigen Souverän aufblasen will, ist dem Frust unausweichlich ausgeliefert. Spätestens Naturgesetze (oder eben die medizinischen Gesetze) werden ihm oder ihr Grenzen aufzeigen. Wem es gelingt, das eigene Bedürfnis mit den mehr oder minder berechtigten der anderen zu vermitteln, ist einen Schritt näher gekommen zum Friedensschluss mit sich selbst. Sicherlich ist dies emotional und intellektuell aufwendig, weil jeder Kompromiss immer auch unbefriedigend ist. Deswegen ist es so wichtig, dass der Schmerz über die »Halbheit« des Kompromisses offen und transparent artikuliert wird. Das ist die große Schule des demokratischen Empfindens, ähnlich dem Sportsmanship (Gewinnen kann jede*r, aber Verlieren will gelernt sein), die in der Niederlage beim Durchsetzen der eigenen Interessen trotzdem den Sinn und die Größe des Aushandelns an sich würdigen kann.

Davon ist die heute ausgeübte Demokratie sehr weit entfernt, weil die Aushandlungen ins getäfelte Hinterzimmer gewandert sind. Wer ausgesperrt bleibt, vermutet mit gutem Grund hinter der Tapetentür nichts als Betrug. Die Machtzirkel legen in Sidelettern ihre Postenvorstellungen fest, stecken ihre Einflusssphären ab und fürs Publikum bleiben ein parlamentarischer Schaukampf oder leere Wahlversprechen, die immer an der »Realität« der klandestinen Aushandlung scheitern müssen. Aktuell spielt der »Westen« gern seine moralische Überlegenheit aus, die kaum mehr als Rhetorik ist. Man erkennt den Baufehler der Oligarchie, prangert ihn an, um dann doch wieder mit den Rogue-States zu handeln. Vielleicht auch, weil man viel ähnlichere »Werte« hat, als man wahrhaben will. Jeder Einfluss von außen verpufft zuverlässig, insbesondere dann, wenn Demokratie und Menschen-rechte mit Gewalt gebracht werden sollen. Die Menschen vor Ort durchschauen die Verlogenheit. Die einzige Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Putins, Zis und Jong-uns dieser Welt läge darin, dass deren unter-jochte Bevölkerung die an anderen Orten gelebte authentische Demokratie sehen kann. Sicherlich gibt es ein Problem mit irreführender Propaganda, nur hilft da weniger Gegen-Propaganda, als die kaum abzuschirmende Strahlkraft der besseren Verhältnisse.

Sofern es diese gibt. Die Frage, wie Menschen mehr Lust auf Demokratie zu machen sei, verfehlt die Aufgabe fast immer im Kern, denn dabei wird eine Art der »Manipulation zum Guten« versucht, die dem demokratischen Streben an sich widerspricht. Ein Gefühl für die lästige Halbheit des Kompro-misses und die nie zu erlangende Gewissheit, dass es grundsätzlich nicht besser geht, ist nicht unbedingt sexy. Dennoch spüren viele, dass es tiefgreifender Änderungen bedarf, wenn Demokratie nicht zur Fassade werden soll. »Klimaräte«, »Jugendräte«, »Zukunftsräte«, mal mehr, mal weniger Grassroots, zeigen, dass ein Gefühl für Demokratie nur dann geschult werden kann, wenn es aufrichtig etwas zu verhandeln gibt. Eine konkrete Beteiligung und gemeinsame Übernahme von Verantwortung lässt alle Beteiligten »wachsen«. Beobachter*innen staunen, wie viel Kompromissbereitschaft in den Menschen steckt und wie viele Ideen zur Verbesserung des Gemeinwesens im Verborgenen schlummern. Die etablierten politischen Strukturen müssten den demokratischen Gefühlen nur freien Lauf lassen und dürfen sie nicht durch überkommene Machtparität ersticken.

Frank Jödicke ist Chefredakteur des Magazins skug, schrieb zuletzt in der Volksstimme April 2022 über die Enteignung aller Oligarch*innen.

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Gelesen 2220 mal Letzte Änderung am Sonntag, 12 Juni 2022 09:46
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