Die gängigen Vorstellungen von Kunst und Kultur werden auf unangenehme Weise infrage gestellt.
Von Paul Schuberth
Wer das Stichwort Musik im Konzentrationslager hört, denkt wohl zuerst an das »reiche« Kulturleben im Lager Theresienstadt oder an Lagerlieder wie z.B. »Die Moorsoldaten«. Es sind hauptsächlich solche Aspekte dieses Themas bekannt, bei denen Musik mit Hoffnung und Widerstand verknüpft ist. Die Kehrseite des Phänomens haben AutorInnen wie Gabriele Knapp, Juliane Brauer oder Guido Fackler herausgearbeitet. In ausführlichen Studien beschreiben sie die Transformation von Musik in ein Terrormittel in den Händen der SS. Dass dieser Begriff keine Übertreibung ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Dieser Text will einen kurzen Überblick darüber geben (mit notwendigen Auslassungen), mit welch perfider Fantasie die TäterInnen Musik in den Dienst von Demütigung, Folter und Vernichtung stellten.
Musik und Gewalt
Musik war ständiger Begleiter des Lageralltags. In kaum einem Zeitzeugnis von Überlebenden fehlt die Erinnerung an den Zwang zum Singen sowie an die physischen und psychischen Qualen, die damit verbunden waren. In den unterschiedlichen Situationen, zu den verschiedenen Anlässen mussten deutsche Lieder gesungen werden. Der Überlebende Berthold Quade erinnert sich, dass etwa im KZ Sachsenhausen beim An- und Abmarsch der Arbeitskolonnen jeden Wochentag ein bestimmtes Lied »bis zum Erbrechen« intoniert werden musste. Das befohlene Singen hatte mehrere Funktionen. Es vereinheitlichte den Marschrhythmus, trug so zur Disziplinierung und – wie es Quade ironisch kommentiert – zur »Erhaltung der Arbeitskraft« bei. Außerdem stellte es eine belastende Ergänzung zu den stupiden, körperlich anstrengenden Zwangsarbeiten dar. Andererseits bot es für die SS-Leute immer wieder willkommene Anlässe zu besonderer Demütigung, Gewalt und Prügelexzessen (etwa als Strafe für wahlweise zu leises, zu lautes, falsches, … Singen): eine Machtdemonstration, die den besonderen »musikalischen Sadismus« der TäterInnen befriedigen sollte.
Dieser Begriff, vom als »Lagersänger« bekannt gewordenen ehemaligen Häftling Aleksander Kulisiewicz geprägt, beschreibt hervorragend die befremdliche Liaison zwischen Gewaltaffinität und einem liebevollen Verhältnis zur Musik: »Auf den Takt legten sie großen Wert. Es musste militärisch-schneidig und vor allem laut gesungen werden. (…) Unseren frisch-fröhlichen Gesang liebten sie sehr, sie konnten nicht genug davon haben«, erinnert sich der Häftling Karl Röder. Für die Liebe zur Musik spricht auch die Genauigkeit, mit der die TäterInnen das Repertoire auf die jeweils zu demütigende Häftlingsgruppe abstimmten: So wurden Juden und Jüdinnen gezwungen, antisemitische Lieder darzubieten, und KommunistInnen wurden bestraft, wenn sie das ihnen aufgetragene Kirchenlied nicht vorzusingen wussten. Karl Röder ergänzt: »(…) auch die Halbtoten, die am Boden lagen, mussten singen.« Ein Hinweis darauf, dass das Zwangssingen nicht nur als psychisches, sondern auch als physisches Foltermittel diente.
Zur vollen Geltung kam das Foltermittel Musik bei der sogenannten »Fuhrwerks kolonne«. Bei diesem Kommando, dem ausschließlich Juden angehörten, mussten Häftlinge, die an Stelle von Pferden in Gurten gespannt wurden, einen schwerbeladenen Wagen ziehen. »Damit sollten Muskeln, Lungen, Brustkorb, Nervensystem und Stimmbänder zugleich kaputt gemacht werden. Singen mussten sie Marschlieder, rasante und liebliche Melodien, alles, damit die Verzweiflung noch schlimmer wurde«, urteilt Aleksander Kulisiewicz. Die Historikerin Juliane Brauer beobachtet: »Die musikalische Gewalt birgt beides in sich – die Verletzung des Körpers und der Seele des Menschen –, wodurch sich ihre zerstörende Macht potenziert.« Ist schon das In- und Miteinander von Musik und Gewalt ein kaum zu entschlüsselndes Phänomen, ist es erst die Detailverliebtheit in der Umsetzung der musikalischen Gewalt, die einen ratlos zurücklassen muss. Jüdische BerufsmusikerInnen waren ein bevorzugtes Ziel des musikalischen Terrors. Das entsprach dem von MusikwissenschafterInnen über Jahre kultivierten antisemitischen Ressentiment, wonach die Juden und Jüdinnen besonders musikalisch seien. Es sind etliche Fälle dokumentiert, in denen etwa jüdische Opernsänger eine Arie anstimmen mussten, während sie geschlagen oder ermordet wurden.
Die Lagerorchester
Zu den unglaublichsten Aspekten des Lageralltags gehört die Geschichte der Lagerkapellen und -orchester. 1933–1936 waren diese noch provisorisch zusammengestellte Übergangsphänomene. Doch nach der Neuordnung des Lagersystems wurden sie als feste Institutionen etabliert. Die Mitglieder rekrutierte man, indem man unter den Häftlingen die MusikerInnen aussortierte oder Probevorspiele veranstaltete. Die Besetzungen der Kapellen reichten von einem Trio aus Mandoline, Geige und einem Blasinstrument in Treblinka bis zu einem Symphonieorchester von achtzig Menschen in Auschwitz. Sie wurden zu regelrechten Statussymbolen für die jeweiligen Kommandanten und SS-Mannschaften. Die Kapellen erfüllten einen doppelten Zweck, wie es auch der ehemalige Dirigent des Auschwitzer Männerorchesters, der polnische Jude Szymon Laks, beschreibt: »Aufrechterhaltung der Lagerdisziplin« – durch den Rhythmus der dargebotenen Märsche konnte ein koordinierter Bewegungsablauf der Häftlingskolonnen garantiert werden; »Ablenkung und Entspannung« für die Täter – die aufputschende Wirkung der meist schmissig-heiteren Musik senkte die moralischen Hemmschwellen bei Gewalt aktionen, und Privatkonzerte für SS-Leute boten eine Entspannung nach der »undankbaren Arbeit«. Primo Levi beschreibt die Wirkung der Marschmusik der Kapelle auf die Häftlinge: »Es sind nur wenige Motive, etwa ein Dutzend, und alle Tage, morgens und abends, dieselben: Märsche und Volkslieder, die jedem Deutschen lieb und teuer sind. Sie haben sich in unsere Köpfe eingegraben, und sie werden das letzte sein, was wir vom Lager vergessen werden: Des Lagers Stimme sind sie, der wahrnehmbare Ausdruck seines geometrisch konzipierten Irrsinns und eines fremden Willens, uns zunächst als Menschen zu vernichten, um uns dann langsam zu töten.« Einen weiteren Aspekt hat die Historikerin Shirli Gilbert herausgearbeitet. Die TäterInnen konnten die Musik einerseits dazu nutzen, sich von ihren Taten abzulenken, und andererseits dazu, ebendiese unter ein kultiviertes, »zivilisiertes« Paradigma zu setzen.
Musik und Vernichtung
Nicht unüblich war die Praxis, die Kapelle bei öffentlichen Züchtigungen oder gar Exekutionen aufspielen zu lassen, um den furchterregenden Eindruck des »Schauspiels« auf die anderen Häftlinge noch zu erhöhen. In anderen Fällen sorgte Musik allerdings für den gegenteiligen Effekt: mit ihr konnten Leidensschreie oder Schüsse übertönt werden. Vom angedeuteten Doppelnutzen von Musik – Übertönen von Gewalt bei gleichzeitiger Ablenkung der TäterInnen – profitierten die TäterInnen des Öfteren, auf besondere Weise jedoch kam er zum Tragen bei der sogenannten »Aktion Erntefest«. Diese Operation bildete den Abschluss der Aktion Reinhardt. Dabei wurden die 40.000 verbliebenen Juden und Jüdinnen des Distrikts Lublin durch Mitglieder der SS und des Reserve-Polizei-Bataillons 101 ermordet. Allein in Majdanek wurden in Gruben, die die Opfer selbst ausheben mussten, 18.000 Juden und Jüdinnen erschossen. Dieser Massenmord war zugleich ein »musikalisches Inferno«; beim örtlichen Propagandaamt hatte man sich Lautsprecheranlagen ausgeliehen, die an Masten oder Wachtürmen befestigt wurden. Der Lärm aus den Lautsprechern – fröhliche Tanzmusik – übertönte die Schüsse.
Mag man auch schon bis hier zur Auffassung gelangt sein, dass Musik eine wesentliche Rolle im Vernichtungsprozess selbst spielte, ist es erst die nun zu beleuchtende Dimension, die diese These unwiderlegbar zu beweisen droht. Musik war Teil jener Inszenierung, mit der die im Vernichtungslager neu Ankommenden über dessen wahren Zweck hinweggetäuscht werden sollten. In Treblinka wurden die Ankommenden mit einem perfekten Täuschungsszenario begrüßt: Die Entladerampe der toten Gleise war dort zu einem Bahnhof mit vielen Schildern und Zugfahrplänen umgebaut worden, um den Eindruck eines Umsteigebahnhofs zu erwecken; soweit wahrscheinlich bekannt. Doch: Das zehnköpfige Orchester, geleitet vom berühmten Musiker und Häftling Artur Gold, spielte »jazz and Jewish folk tunes«. Auch in anderen Vernichtungszentren mussten die Musikgruppen direkt an den Gleisen spielen, um mit »fröhlicher« Musik eine Atmosphäre zu erzeugen, die Panik- und Angstgefühle der Ankommenden zerstreuen sollte. Die Musik half dabei, die nervösen »Neuzugänge« zu beruhigen und sie zur problemlosen Kooperation bei ihrer eigenen Vernichtung zu bewegen. Dieser musikalische »Willkommensgruß«, in seiner Wirkung kalkuliert, beugte Tumulten oder gar Aufständen vor und garantierte so den reibungslosen Ablauf des Vernichtungsprozesses.
Esther Bejarano erinnert sich an ebendiese Praktik, die auch in Auschwitz angewendet wurde: »Als die Menschen in den Zügen an uns vorbeifuhren und die Musik hörten, dachten sie sicher, wo Musik spielt, kann es ja so schlimm nicht sein. Was für eine schreckliche psychische Belastung war das für das Orchester!« Im Vernichtungslager Sobibór wurden die zur Ermordung bestimmten Juden an der Rampe mit Musik vom Grammophon begrüßt. In Bełżec musste die Kapelle zwischen den Gaskammern und den Grabgruben spielen, wo sie für die musikalische Begleitung der Arbeit des sogenannten Sonderkommandos zu sorgen hatte. Warum sind diese historischen Fakten, die die musikalische Gewalt betreffen, weniger bekannt als andere Aspekte des Phänomens Musik im Konzentrationslager? Womöglich, weil durch sie gängige Vorstellungen von Kunst und Kultur auf unangenehme Weise infrage gestellt werden. Doch das muss an anderer Stelle erörtert werden.
Weiterführende Literatur:
Guido Fackler: »Des Lagers Stimme«. Musik im KZ
Gabriele Knapp: Das Frauenorchester in Auschwitz
Juliane Brauer: Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen
Shirli Gilbert: Music in the Holocaust
Paul Schuberth ist Musiker mit den Schwerpunkten Jazz und Klassik. Außerdem veröffentlicht er Texte zu v. a. kulturpolitischen Themen, u. a. in Café KPÖ, Versorgerin, konkret.