Die Lohnquote ist in Österreich seit 1975 um mehr als 16 Prozentpunkte gefallen. … Eine solidarische Lohn politik wurde ebenfalls nicht erreicht.
Eine Rezension von PETER FLEISSNER
Aktiv in vielfältigen Einrichtungen der Lohnabhängigen1 ist Fritz Schiller mit ihren Problemen bestens vertraut. Es ist ihm gelungen, erstmalig in einer Monografie die theoretischen Konzepte und praktische Ergebnisse der Lohnpolitik in Österreich seit den 1960er Jahren detailliert zu durchleuchten und ihre jeweiligen Rahmenbedingungen zu untersuchen.
Neben einigen anderen theoretischen Ansätzen testet er, welche Ergebnisse die Gewerkschaften mit dem Konzept der produktivitätsorientierten und solidarischen Lohnpolitik erzielt haben. Ohne Zweifel ist sie in den späten 1960er Jahren bis in die 1970er Jahre tatsächlich realisiert worden.
Benya-Formel
Damals konnte der ÖGB einen Erfolg verbuchen, der bis heute nie mehr erreicht wurde. Unter dem Gewerkschaftspräsidenten Anton Benya gelang es, nach der Formel »Reallohnerhöhung = Abgeltung der Preissteigerungen plus Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität« höhere Reallöhne durchzusetzen und zehn Jahre lang einen Gleichstand bei der Verteilung der Zuwächse der Arbeitsproduktivität zu erreichen. Interessanter Effekt am Rande: Als 1975 die Wirtschaft in Österreich einbrach, die Wirtschaftsforscher aber fälschlich eine weitere Expansion vorhersagten, wurden in den sozialpartnerschaftlichen Gremien die Löhne einvernehmlich erhöht, mit dem Effekt, dass in Österreich durch die gestiegene Kaufkraft die Arbeitslosenquoten wesentlich geringer blieben als in Deutschland.
In den letzten Jahrzehnten konnte die Benya-Formel nicht mehr durchgesetzt werden. Seitdem in der Gewerkschaft die richtungsweisenden Kollektivverhandlungen nicht mehr zentral, sondern von Einzelgewerkschaften (allen voran von den Metallern) bestritten wurden, zerfiel die solidarische Lohnpolitik, die auch für schwächere Branchen gleiche Lohnzuwächse forderte. Trotz weiterhin wachsender Produktivität stagnierten die Reallöhne über Jahrzehnte. Eine weitere Schwäche: Die Lohnpolitik konnte die große Ungleichheit der Löhne und Gehälter weder zwischen Männern und Frauen noch zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen abbauen. Männer verdienten 2015 um 62 Prozent mehr als Frauen (S. 287), BeamtInnen verdienten 2,8-mal so viel wie ArbeiterInnen, Vertragsbedienstete und Angestellte um 67 bzw. 58 Prozent mehr.
Machtfrage
Als theoretische Alternative zieht Schiller Karl Marx mit seinem Konzept der industriellen Reservearmee heran. Marx zufolge führt die Tendenz, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, dazu, dass eine »überflüssige oder Zuschuss-Arbeiterbevölkerung« entsteht. Das Vorhandensein einer Reservearmee würde die Ansprüche der arbeitenden Menschen drücken, da die UnternehmerInnen jederzeit auf Arbeitslose zurückgreifen könnten. Tatsächlich wirkt dieses Konzept selbstverstärkend: Höhere Arbeitslosigkeit führt zu einer Schwächung des Einflusses der Lohnabhängigen, und diese wieder zu höherer Arbeitslosigkeit. Weiters konstatiert Schiller einen negativen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Lohnwachstum. Seine Bilanz: »Die Ergebnisse sind ernüchternd… Seit 1975 haben die Arbeitnehmerinnen in Österreich kumuliert um mehr als 15 Prozentpunkte weniger erhalten, die Lohnquote ist seit 1975 um mehr als 16 Prozentpunkte gefallen. …Eine solidarische Lohnpolitik wurde ebenfalls nicht erreicht.« (S. 287)
Möglicherweise ist die politische Orientierung des ÖGB an diesen Misserfolgen schuld, wonach es »nicht Aufgabe der Gewerkschaften (ist), im Kapitalismus die Machtfrage zu stellen. Das ist jenen ArbeiterInnenparteien vorbehalten, die ihr strategisches Ziel in der Ablöse des Kapitalismus sehen.« (S. 96). Wer damit wohl gemeint ist?
1 Betriebsratsobmann einer international tätigen Bank, Mitglied im Bundesvorstand der GPA und des erweiterten Bundesvorstands der Alternativen und Grünen GewerkschafterInnen / Unabhängigen GewerkschafterInnen (AUGE/UG), der Bundesarbeitskammer, des Vorstandes der Wiener Gebietskrankenkasse und Wiener Arbeiterkammerrat.
ZITIERT*
Der beachtliche wirtschaftliche Aufschwung bei relativ moderater Inflation in den zwei Jahrzehnten bis 1971 war auch eine Folge der engen Zusammenarbeit zwischen Regierung und Sozialpartnern (Beer et al., 2016, S. 21). Diese Zusammenarbeit zielte auf ein ausgewogenes Verhältnis von internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Reallohnerhöhungen sowie der Sicherstellung von sozialem Wohlstand und Frieden ab. Die Beschleunigung der Geldentwertung im Jahr 1957 führte zur Gründung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen. Die Sozialpartner verpflichteten sich dazu, alle Wünsche nach Preis- bzw. Lohnerhöhungen von dieser Kommission begutachten zu lassen (Butschek, 2011, S. 313; Seidel, 2005). Anfang der 1960er-Jahre (Raab-Olah-Abkommen) wurde zusätzlich ein Lohnunterausschuss eingesetzt, der fortan Lohnverhandlungen freizugeben und die Ergebnisse dieser Verhandlungen (»Kollektivverträge«) zu genehmigen hatte. Zusätzliche Impulse für den Ausbau des Kapitalbestands und die Ankurbelung des Potenzialwachstums kamen von Steuererleichterungen für Investitionen und Maßnahmen zur Investitionsförderung. Exportförderungsprogramme, etwa attraktive staatliche Garantiemodelle und Finanzierungen durch die öffentliche Hand, beflügelten die internationale Verflechtung der österreichischen Wirtschaft.
Fritz Schiller: Lohnpolitik in Österreich. ÖGB Verlag Wien 2018