In Weißrussland (Belarus) finden seit Monaten Massenproteste gegen das Regime von Alexander Lukaschenko statt, der seit 26 Jahren autoritär regiert. Der Abschaffung demokratischer Rechte folgten auch neoliberale Reformen. Dass sich in Belarus auch eine linke Opposition formiert, bleibt im Westen meist unerwähnt. Im Interview mit der Volksstimme erzählt Pavel Katarzheuski (24), Mitglied des Zentralkomitees der Linkspartei »Gerechte Welt«, über die Entwicklung der Protestbewegung, über Gefängnis und Folter sowie über die Perspektiven der linken Opposition.
VON DANIEL SCHUKOVITS
Die aktuellen Massenproteste in Belarus dauern schon Monate an. Woher nimmt man die Kraft, fast täglich auf die Straße zu gehen?
PAVEL KATARZHEUSKI: Eigentlich haben die Proteste Mitte Mai begonnen, als die Wahlen vorbereitet wurden. Die heiße Phase kam dann mit dem Wahltag. Sicher waren die absurden 80 Prozent für Lukaschenko ein wichtiger Grund. Aber hier hat es auch einen Umschlag von Quantität in Qualität gegeben. Mit seinem Amtsantritt hat Lukaschenko damit begonnen, demokratische wie soziale Rechte zu zerstören. Mitte der 2000er-Jahre wurden benachteiligte Gruppen wie Studierende, Pensionist:innen oder auch die Liquidator:innen, die in Tschernobyl im Einsatz waren, ihrer Zuschüsse beraubt. Zudem wurde ein Kurzzeit-System bei Arbeitsverträgen eingeführt, das an Sklaverei erinnert. Hinzugekommen ist der Versuch, Arbeitslose zu bestrafen. Zwar ist ein großer Teil der Wirtschaft in Staatseigentum – das aber von einer Bürokratie verwaltet wird, die mit dem Regime verbunden ist. Der Lebensstandard ist immer weiter gesunken und es gibt keine Möglichkeit, das zu verhindern. Mit den Worten von Marx und Engels gesagt, haben die Menschen nichts mehr zu verlieren als ihre Ketten.
Auch der Polizeiterror darf nicht unerwähnt bleiben. Nach aktuellem Stand sind fünf Demonstrant:innen getötet worden, viele sind verschwunden. Laut UN gab es mehr als 500 Fälle von Folter. Doch das sind keine vollständigen Zahlen, weil viele Betroffene keine Beschwerde einreichen. Das System will, dass man stillhält, sonst wird man bestraft. Sollten die Proteste aufhören, würde sich die Repression verschärfen. Wir müssen gewinnen, um unsere Freiheit, unsere Rechte und auch unsere Leben zu verteidigen. Nur so können wir uns weiter frei bewegen, ohne Angst haben zu müssen.
Du warst wie viele Demonstrierende im Gefängnis. Kannst du von deinen Erfahrungen in der Haft berichten?
PAVEL KATARZHEUSKI: Ich war mit Genoss:innen auf dem Weg zu einer Demo, als ich festgenommen wurde. Eigentlich war es keine Festnahme, sondern Kidnapping. Leute in schwarzen Sturmhauben ohne Abzeichen haben uns in einen Kleinbus ohne Nummernschild gezerrt. Sie drohten uns mit dem Tod, verlangten, dass wir unsere Handys entsperren und sagten, sie würden uns sonst die Finger brechen. Nachdem wir bereits dort geschlagen wurden, haben sie uns in eine Polizeistation gebracht. Dort wurden unsere Hände am Rücken gefesselt, wir wurden auf den Boden geschleudert. Bei vielen waren die Hände so abgeschnürt, dass sie schwarz wurden. So mussten wir im Freien zwölf bis vierzehn Stunden mit Gesicht auf dem Boden liegen. Man verprügelte alle, die versuchten, zu sprechen. Ein Mitgefangener mit Behinderung, der nach einem Arzt fragte, wurde so lange geschlagen, bis er verstummte.
Später wurden wir in einem überfüllten Haftwagen in das Gefängnis von Zhodino gebracht. Der Wagen heizte sich so auf, dass ein Mitgefangener kollabierte. Sie haben ihn rausgeholt und ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Im Gefängnis war es insofern besser, weil wir nicht geschlagen wurden. Sicherlich waren die Bedingungen grauenhaft. Wir waren 24 in einer Zelle mit acht Betten, das Essen war furchtbar und es gab kaum Sanitäreinrichtungen. Die meisten Mitgefangenen waren interessante und nette Menschen, die nur durch Zufall festgenommen wurden. Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, am Weg in die Arbeit einfach gekidnapped, geschlagen und ins Gefängnis gebracht zu werden?
Das Schlimmste war aber, dass es keinen Kontakt nach draußen gab. Primär dachte ich an meine Familie, an die Genoss:innen, die uns in Krankenhäusern, Polizeistationen und Leichenhallen suchten. Später wurde ich in einem Schnellverfahren zu fünf Tagen Haft verurteilt. Als ich herausgekommen bin, war ich erstaunt, dass die Proteste auch zu Streiks geführt haben. Vor dem Gebäude warteten Taxis, die Freigelassene kostenlos befördert haben. Ich bin dann in ein Krankenhaus gefahren, um meine Verletzungen zu dokumentieren. Was ich dort gesehen habe, werde ich nicht so schnell vergessen: Junge Menschen mit Gesichtern, die schwarz angeschwollen waren, viele im Rollstuhl. Dort erfuhr ich, dass ich mit dem Gefängnis in Zhodino Glück gehabt hatte. Im Gefängnis in Minsk wurden den Leuten die Knochen gebrochen, viele wurden mit Schlagstöcken vergewaltigt. Einige, die dort im Gefängnis waren, haben das Tageslicht nie wieder gesehen.
Erzielen die repressiven Maßnahmen deiner Ansicht nach den gewünschten Effekt? Lassen sich die Menschen einschüchtern?
PAVEL KATARZHEUSKI: Die Gewalt hat die Proteste weiter befeuert. In Fabriken kam es zu Widerstand und die spontane Bewegung »Frauen in Weiß« hat sich gegründet, die »Ketten der Solidarität« an den Straßen organisiert. Viele frühere Anhänger:innen von Lukaschenko haben sich aufgrund der Gewalt vom Regime distanziert.
Hat sich im Laufe der Zeit etwas an den Protesten und ihrer Zusammensetzung verändert?
PAVEL KATARZHEUSKI: Seit den 1990er Jahren hat sich jetzt erstmals die Arbeiter:innenklasse wieder zu Wort gemeldet. Während der Protest anfangs eher abstrakt war, führte der Terror dazu, dass die Industriearbeiter:innen zu einem Motor des Protests geworden sind. Dazu kommen auch Gruppen, die bisher als »Rückgrat des Regimes« gegolten haben. Viele der Streik-Komitees wurden aber zerschlagen, und jetzt herrscht ein Gefängnisregime in den Fabriken. Trotzdem geht der Widerstand weiter. Hervorheben möchte ich einen Helden dieser Tage: Der Minenarbeiter Yuri Korzun hat sich in einer Tiefe von 300 Metern angekettet und wird erst wieder herauskommen, wenn Lukaschenko zurückgetreten ist. Was die offiziellen Gewerkschaften angeht, so verteidigen sie nicht die Arbeiter:innen, sondern die Unternehmen. Unabhängige Gewerkschaften sind sehr schwach, eine Folge ihrer Einschränkung. Jetzt unterstützen sie den Kampf gegen die Diktatur.
In den westlichen Medien werden die Proteste als liberales Phänomen dargestellt, während das Regime von Lukaschenko teilweise als kommunistisch beschrieben wird. Wie würdest du die Stellung der linken Opposition beschreiben?
PAVEL KATARZHEUSKI: Entgegen der Berichterstattung haben Personen wie die Kandidatin Svetlana Tikhanovskaya kaum Einfluss. Der Protest ist dezentral und selbstorganisiert. Menschen unterschiedlicher politischer Meinung, auch Unpolitische, beteiligen sich. Sie fordern lediglich Neuwahlen und ein Ende des Autoritarismus. Das Regime lässt sich kaum als »kommunistisch« einstufen, nachdem es sämtliche soziale und demokratische Rechte zerstört hat. Lukaschenko hat bereits 1996 das Parlament ausgeschaltet, dem eine große kommunistische Fraktion angehörte und hat im Prinzip das gleiche wie Jelzin in Russland gemacht. Nur ohne Panzer, dafür aber mit der Festnahme und Ermordung politischer Gegner:innen. Dabei setzt er auf eine gewisse Sowjet-Nostalgie, um ältere Wähler:innen zu halten. Unsere Partei wurde damals durch ein Manöver von Lukaschenko gespalten, der später die Gründung einer regimetreuen KP veranlasste. Diese unterstützt das Regime und fungiert als dessen Propaganda-Instrument. Aus diesen Gründen hat sich meine Partei zur Linkspartei »Gerechte Welt« umbenannt.
Wie steht deine Partei zur Verwendung der weiß-rot-weißen Flagge bei den Protesten? Ist das nicht auch ein Anknüpfen an die bürgerliche Opposition zu Zeiten des realen Sozialismus und an die Zeit der Nazi-Besatzung?
PAVEL KATARZHEUSKI: Die weiß-rot-weiße Fahne wird oft als Symbol des Nationalismus, Antikommunismus, fast schon als faschistisch angesehen. Historisch gesehen, war die Flagge 1917 ein sozialdemokratisches Symbol. Aber es gibt auch eine dunkle Seite: Diese Fahne wurde vom NS-System genutzt und war direkt nach dem Ende der UdSSR Staatsflagge. Seit Mitte der 90er Jahre gilt sie eher als liberales und nationales Symbol. Ich lehne eine Änderung der Staatssymbole jedenfalls ab und werde so eine Fahne niemals tragen. Aber ich bin auch froh, dass sich die Bedeutung dieser Farben verändert hat und dass sie jetzt auch ein Symbol der Demokratie und des zivilen Ungehorsams sind.
Steuert Belarus, sofern die Proteste erfolgreich sind, auf eine neue Republik zu? Welche Perspektiven könnten sich dabei für das Spannungsverhältnis zwischen Russland und der EU ergeben?
PAVEL KATARZHEUSKI: Die Proteste haben keinen geopolitischen Charakter. Auf den Demos gibt es weder anti- noch pro-russische Slogans. Dasselbe trifft auch für die EU zu. Es stimmt aber, dass man sich mit den Protesten in Sibirien solidarisiert hat. Die Menschen in Weißrussland und Russland haben gemeinsam gegen den Faschismus gekämpft, und jetzt kämpfen sie gemeinsam gegen bonapartistische Diktaturen, das ist sehr inspirierend. Im Falle eines Sieges der Proteste wäre ein neutraler Status für Belarus die beste Lösung, die Neutralität ist bereits in der Verfassung angelegt.
Österreich ist derzeit der zweitgrößte Investor in Belarus, das Unternehmen A1 kontrolliert einen großen Teil des Kommunikationssektors. Kannst du etwas über die Rolle von A1 bei den Internet-Sperren berichten?
PAVEL KATARZHEUSKI: Sie haben zugegeben, dass sie nach Aufforderung der Regierung das Internet abgedreht haben. Immerhin hat A1 die Kunden für den Ausfall entschädigt und sich offiziell entschuldigt. Am Rande erwähnt, nutze ich ebenfalls diesen Anbieter.
Wie können die Europäische Linke und die fortschrittlichen Parteien in der EU euren Kampf unterstützen?
PAVEL KATARZHEUSKI: Liebe Genoss:innen, ihr habt mit euren Solidaritätserklärungen bereits viel getan. Die »linken« Unter stützer:innen des Regimes schädigen die linke Opposition enorm. Die Leute protestieren gegen die Repression, gegen Mord und Wahlfälschung, und manche »linke« Partei übt dann Kritik daran. Das diskreditiert doch die Linke in den Augen der gesamten Bevölkerung. Der Antikommunismus beginnt immer auch damit, wenn die Linke rebellierende Arbeiter:innen verrät, dafür gibt es viele historische Beispiele. Erzählt euren Freund:innen und Genoss:innen, was in unserem Land passiert. Ich danke euch jedenfalls für eure Solidarität!