Die Frage danach, ob es eine besondere Form des Antisemitismus bzw. das spezifische Phänomen »linker Antisemitismus« in Theorie und Praxis der Linken gibt oder gab, zieht sich wie ein roter Faden durch den von Gerhard Hanloser herausgegebenen gleichnamigen Sammelband. In neun Aufsätzen ergründen die AutorInnen aus historischer, philosophischer, literaturwissenschaftlicher Perspektive die im linken Lager verordneten Erscheinungsformen von Antisemitismus und kommen darin allesamt zu dem Ergebnis: Eine spezifisch linke Feindschaft gegen Juden ob ihres Jüdisch-Seins existiert nicht. Vielmehr erfüllt der Vorwurf des Antisemitismus gegen die Linke dieselbe Funktion wie einst der von antisemitischer Seite geäußerte Vorwurf, etwas sei »jüdisch«, nämlich die Immunisierung der eigenen Position durch »die Diskreditierung des Gegners« (8).
In der Kategorie des linken Antisemitismus begegnet uns also, so die Kernaussage des Buches, eine klassische Form des Totschlagarguments, die linke Gesellschaftskritik a priori im Keim ersticken will. In den Blickpunkt gerät dabei in identitätspolitischer Manier nicht länger die inhaltlich-argumentative Ebene linker Gesellschaftstheorie, sondern die moralische Wertigkeit ihrer Agenten. Die Komplexität des Nahostkonflikts, die Ambivalenz des Zionismus sowie das umfangreiche Unterfangen, die kapitalistische Produktionsweise theoretisch zu fassen, erfährt in der Denkschablone des Antisemitismus-Vorwurfes eine simplifizierende Reduktion auf den banalen Fingerzeig: »Das ist antisemitisch!«. Schlagwörter ersetzen Argumente, Kritik weicht Diffamierung und Tabuisierung tritt an die Stelle begrifflicher Analyse, was besonders deutlich von Peter Menne für den Theaterskandal rund um Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod herausgearbeitet wird.
Die argumentative Unbestimmtheit, in die sich das großangelegte Suchmanöver nach antisemitischen Momenten in der Linken verflüchtigt, spiegelt die Unbestimmtheit des Begriffs »linker Antisemitismus« wider. Historisch entwickelte sich der Antisemitismus in enger Verbindung mit Konservativismus und Nationalismus (19) »als Gegenbewegung zur starken, noch revolutionär gesonnenen Sozialdemokratie und gegen den Klassenkampf« (90) und widerspricht damit den Fundamenten der Linken, also Internationalismus, Klassenbezug und Antikolonialismus. »Der Antisemitismus negiert den antagonistischen Klassenkampf nicht nur, sondern bietet eine andere, quer zum Klassenkampf stehende Gemeinschaft an.« (275). Es herrscht bereits rein begrifflich ein Widerspruch, wenn dem Antisemitismus pauschal das Prädikat »links« beigestellt wird, ohne die genauen historischen Umstände zu berücksichtigen. So setzt etwa Gerhard Hanloser die unter Stalin erfolgte Rehabilitation des russisch-zaristischen Volksantisemitismus in Verbindung zur damit einhergehenden Hinwendung zum Nationalismus und Imperialismus der Sowjetunion, nicht aber ohne darauf hinzuweisen, dass der Widerstand gegen die russische Revolution seinerseits stark antisemitisch motiviert war (34f). Es geht dem Sammelband daher nicht um die blinde Verteidigung antisemitischer Momente in der Linken – derer es vereinzelte gibt, wobei die Existenz eines systematischen Antisemitismus innerhalb der Linken explizit verneint wird –, sondern darum, Antisemitismus als Herrschaftsinstrument auszuweisen und in seiner Funktion im konkreten politischen Kampf zu erfassen. In diesem Sinne wird etwa die Figur des »selbsthassenden Juden« von Moshe Zuckermann als historischer Brennpunkt eines Konfliktes innerhalb des Judentums, nämlich zwischen orthodoxem antizionistischen und säkulärem zionistischen Judentum, begriffen (282); ein innerjüdischer Konflikt, der in der polarisierenden Mainstream-Debatte um den Nahostkonflikt vollständig ignoriert wird, wenn der Staat Israel als unantastbare Spitze der Emanzipation des Judentums stilisiert wird.
So ist es ja exakt jenes ahistorische und dekontextualisierende Denken, jene »Ticketmentalität«, die den Antisemitismus so eindrücklich charakterisiert, sodass eine Strukturähnlichkeit zwischen dem Vorwurf des linken Antisemitismus und dem Antisemitismus selbst festgestellt werden kann (225). Das Denken in den Kategorien von »Gut« und »Böse« entspricht der undifferenzierten – und etwa mit der deutschen Staatsräson in Einklang stehenden – Forderung nach bedingungsloser Solidarität mit Israel. In diesem Zusammenhang fungiert der Vorwurf des linken Antisemitismus als Immunisierungsstrategie gegenüber antizionistischen Stimmen und folglich als Herrschaftsinstrument – vornehmlich der sog. Antideutschen – im linken Diskurs selbst. Dagegen wird insbesondere von Karin Wetterau die staats- und nationalismuskritische Dimension des Antizionismus bzw. die ethnopluralistische Dimension des Zionismus betont, also die »fragwürdige Identifizierung von ›Israel als jüdischem Kollektiv‹« (117) aufgezeigt. Gleichzeitig wohnt dieser Gleichsetzung zwischen Antizionismus und Antisemitismus bzw. dem Vorwurf, Antizionismus sei nur die Tarnung antisemitischen Ressentiments, die verschwörerisch-paranoide Behauptung eines eigentlichen Wesens zugrunde, die wiederum Charakteristikum der antisemitischen Weltanschauung ist.
Das Anliegen des Sammelbandes besteht darin, erstens die Existenz eines strukturellen Antisemitismus innerhalb der Linken bzw. eines besonderen linken Antisemitismus zu verneinen. Daraus folgt auch zweitens, jene theoretischen Versuche, den Antisemitismus als bloß »verkürzte Kapitalismuskritik« zu erklären, zurückzuweisen. Der dahingehend prominenteste Versuch wurde von Moishe Postone unternommen. Nach diesem würde die »kapitalistische Produktionsweise […] in fetischisierter Form als Gegensatz zweier scheinbar voneinander trennbarer Sphären erscheinen, als Sphäre des Konkreten und als Sphäre des Abstrakten« (261), wobei der Antisemitismus die Sphäre des Abstrakten mit »dem Judentum« gleichsetze. Antisemitismus entspringe also nicht lediglich der willkürlichen Trennung in »raffendes« und »schaffendes« Kapital, wobei die raffende Finanzkapitalseite als »jüdisch« betrachtet wird, sondern einem ideologischen Verblendungszusammenhang, in welchem den Menschen die Herrschaft das Kapitals als Abstraktum, als undurchschaubare Macht erscheine (270). Diese werde, gerade weil sie selbst nicht zu begreifen sei, auf das Judentum projiziert. Karl Reitter macht nun darauf aufmerksam, dass der Marxsche Fetischbegriff nicht auf dem Gegensatz von abstrakt und konkret, sondern »auf dem Gegensatz von privat und gesellschaftlich« (264) beruht und soziale Herrschaft nicht abstrakt, sondern ganz im Gegenteil »konkret erfahren [wird]« (270). »Faschistischer ›Antikapitalismus‹ verleugnet die realen Erfahrungen der Herrschaft und will die Erinnerung an real stattgefundene Kämpfe auslöschen« (ebd.), will diese also nicht – wie Postone nahelegt – durch Auslagerung auf »die Juden« erklärbar machen. Drittens zeigt der Sammelband eine enge Beziehung zwischen Antisemitismus und dem Vorwurf des Antisemitismus in Struktur und Funktion auf und argumentiert viertens gegen den Begriff »linker Antisemitismus« aufgrund seiner inneren Widersprüchlichkeit.
Fraglich bleibt allerdings, ob Ilse Bindseil im letzten Aufsatz »Antisemitismus als Beute der Intellektuellen« den Sammelband nicht in einen performativen Widerspruch verstrickt, wenn darin einerseits die Geschichte und Gegenwart linken Antisemitismus und linker Antisemitismustheorie rekonstruiert und kritisiert wird, um zum Schluss eben dieses theoretische Unterfangen als »Beute der Intellektuellen« (291) zu verwerfen. Bindseil schreibt, die Antisemitismustheorie habe den Antisemitismus »in ein Rätsel verwandelt« (292); anstatt »die eigene Ohnmacht in karge Worte zu fassen«, habe sie »das Ungeheuerliche des nazistischen Vernichtungsprogramms in einer ungeheuerlichen theoretischen Konstruktion [abgebildet]« (298). Der Versuch einer vernünftigen Bestimmung eines Gegenstandes – des Antisemitismus oder seiner radikalsten Realisierung im Holocaust – ist aber ganz und gar nicht im Sinne einer »Bemächtigung« (293) des Gegenstandes bzw. einer Aufhebung dieses Gegenstandes zu verstehen, die »sein verleugnendes Moment hervor[kehrt]« (293) und »verewigt« (298). Die vernünftige Bestimmung eines Gegenstandes ist auch kein bloßes »[W]egerklären« (293). Die theoretische Aufhebung ist vielmehr eine Aufhebung auf eine höhere oder wenigstens andere Ebene, auf der die theoretische Erkenntnis des Gegenstandes – also die Funktionsweise des Antisemitismus und des Vorwurfes des Antisemitismus – in dessen praktische Ablehnung umschlägt. Theoretische Erkenntnis konserviert nicht, sondern ist immer schon auch praktische Urteilsbildung und Kritik und in diesem Sinne Ausgangspunkt für eine Umwälzung der Verhältnisse.
Gerhard Hanloser (Hg.), Linker Antisemitismus? mandelbaum Verlag 2020, Wien/Berlin, 304 Seiten, 22,00 Euro