Ich unterrichte neben meiner Arbeit als Künstlerin an einer AHS in Innsbruck Werk erziehung. Meine Schüler*innen fehlen mir.
VON JUDITH KLEMENC
Meine Schüler*innen arbeiten mit den Händen: Ich lehre sie, mit dem Ton zu tun, mit Holz, Metall, Papier, Stoff, Farbe, mit Resten des Alltags, mit all den Dingen, die das Leben begreifbar machen. Während des sinnlichen Tuns reden wir über alles Mögliche und auch Unmögliche, wir erzählen uns Geschichten, wir diskutieren über Gender, Rassismus, Sexismus und Diskriminierung, ausgehend von ihrer unterschiedlichen Betroffenheit. Ich bin gleichsam bemüht, ihre individuellen Betroffenheiten in einem gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren, so dass sie diskriminierende Themen nicht individualisieren, sondern auch von sich abstrahieren.
Kurz bevor die Schulen wegen Corona schlossen, erzählte ein elfjähriger Schüler mit asiatischem Aussehen, dass ihn auf der Straße ein Obdachloser um Geld bat, er hatte keines und wurde in Folge als »schirscher Chinese, der uns alle in die Hölle bringt« beschimpft. Eine Schülerin meinte, wie rassistisch das sei, eine andere, dass dies so gemein sei, weil er ja nichts dafürkönne, dass in China der Corona-Virus ausbrach … Eine andere, deren Mutter als Krankenpflegerin arbeitet, erörterte den Virus, ein anderer stellte fest, dass sie so viel wisse, obwohl sie mit ihrer Mutter, die nur als Krankenschwester arbeitet, allein sei …
Wir hatten also mehrere Themen zu besprechen: Rassismus, gering bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit, Lohnschere, Alleinerzieherin … Als promovierte Pädagogin im Feld Geschlechterverhältnis und kritische Migrationsforschung versuche ich, meine Schüler*innen für Differenzierungen und Diskriminierungsverhältnisse zu sensibilisieren, damit sie Welt- und Selbstverständnisse reflektieren, vielleicht auch neu und anders denken. Als Künstlerin weiß ich um das Er- und Begreifen in Zusammenhang mit sinnlichem Tun, um das Vertiefen eines werdenden Wissens in Zusammenhang mit sinnlicher Erfahrung.
Meine Schüler*innen sind mir ans Herz gewachsen und sie fehlen mir. Mir fehlt das Lesen von ihren Arbeiten, von ihren Händen, von ihren Gesichtern, von ihrem Erzählen, von ihrem Schweigen, mir fehlen die vielen unterschiedlichen Geschichten, mit denen wir inmitten von Unterricht ein Miteinander gestalten und uns auch neu- und anders er/finden, und ich hege den Verdacht, dass es ihnen nicht anders geht.
Ich erachte Schulbildung als eine Erziehung zur Mündigkeit, um für eine verantwortungsvolle Haltung sich und anderen gegenüber zu sensibilisieren. Bildung hat wenig mit dem Sammeln von abrufbarem und messbarem Wissen zu tun, noch dass ein sehr viel an Wissen zum Beispiel eher Bildung ist und ein weniger an Wissen weniger Bildung ist, es sich aber um spezifische Wissensarten handelt.
Aus der Fremdbeauftragung, die uns gesellschaftliche, politische Verhältnisse auferlegen, kann eine Selbstbeauftragung werden: Erfahrung, Reflexion, Erkenntnis, Selbstbefreiung. Emanzipation verbindet sich mit einem Prozess, der sich zugleich auch als Zweck weiß.
Aktuell werden wir alle zu unmündigen Bürger*innen erzogen. Wir sind alles brave Schüler*innen, die aufgrund der stündlichen tödlichen Bedrohung von Corona, das uns von morgens bis abends verfolgt, dem Staat gehorchen. Wir isolieren uns voneinander, wir ziehen uns auf die Kernfamilie (was ist das?) zurück, Vereinsamung, Vernachlässigung, Aggression, Sexismus, Gewalt, Depression, Apathie, Suizid im gleichen Bad mit dem glücklichen Miteinander gemischt, das Harmonieversprechen mit E-Learning, Home-Office, Ratgeber gegen die Langeweile (?!) und Kochrezepten. Das gemeinsame Abendmahl nicht das letzte.
Strikte Maßnahmen sind gesetzt, um die Verbreitung des Coronas-Virus’ einzudämmen, im Namen des Schutzes der österreichischen (?!) Bevölkerung, Solidarität das Zauberwort. Missachtung von Verboten, wie das alleinige Liegen auf einer Wiese im Wald, das alleinige Pausieren eines 79-jährigen Mannes in einem öffentlichen Park auf dem Nachhauseweg seines Einkaufes … werden mit einer Anzeige und zunehmend mit Verhaftungen sanktioniert. In beiden genannten Beispielen agierten die Personen mündig und verantwortungsvoll sich und anderen gegenüber: sie sorgten sich um das Wohl der anderen in dem Sinne, dass weit und breit kein Mensch war, den sie anstecken hätten können oder umgekehrt (außer die Polizei), und sie sorgten sich um ihr psychisches, gesundheitliches Wohl. In beiden genannten Fällen hielten sie nicht den Mund und wurden wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angezeigt.
Wir werden wieder von vorne anfangen können, um uns wieder einen Solidarisierungsbegriff anzueignen, der uns mündig (der Mund, der Parrhesia spricht) erklärt und sich nicht in etwas umwandelt, das Solidarität mit Isolation gleichsetzt. Die Frage stellt sich, wer dieses Wir nach dieser Corona-Krise sein wird, die braven Schüler*innen?
Liebe Schüler*innen, bewahrt euch die Gabe des »Nicht-den-Mund-Halten«, schützt sie, nach dieser Krise flüstern wir nicht, sondern sprechen wir darüber, auch wenn wir wieder von vorne anfangen, oder von hinten. Lasst uns erwachsen werden, um mittels Erfahrung, Reflexion, Erkenntnis, Selbstbefreiung und Emanzipation mündig zu werden, letztlich zu sein. Auch in Zeiten wie diesen, wo ihr mir fehlt.