Dieser Text erscheint in der April Ausgabe der Volksstimme
Hallo, ich bin eine Risikogruppe! Ich bin älter als 70 Jahre, habe eine organische Vorerkrankung, ich bin Großmutter und möchte mich nicht mit dem Corona-Virus anstecken, der die Welt in Atem hält.
Ich bin eine vernünftige Risikogruppe. Ich bin aus Wien in meine Enklave ins Waldviertel geflüchtet. Ein Luxus und eine Entscheidungsfreiheit, die nur wenige Menschen haben, etwa jene nicht, die innerhalb der Mauern EU-Europas, etwa auf Lesbos, krepieren, von den Todgeweihten außerhalb ganz zu schweigen. Das Wissen, dass Viren quer durch die Luft sausen und nicht von Grenzbalken und Barrikaden aufzuhalten sind, und die Gewissheit, dass ich irgendwann trotz Zäunen und Fingerzeig auf das Fremde und Unbekannte mit diesem vagen Virenungeheuer hierzulande in Berührung kommen werde, hat mich dazu bewogen, doch einige Vorsichtsmaßnahmen zu beachten. Denn Zeit ist Leben. Zeit, entsprechende Medikament zu entwickeln (die Pharmaindustrie und Virologen scharren ungeduldig in den Labors, denn schneller, besser, mehr verspricht Profit). Zeit, pandemisch emporschnellende Ansteckungsraten zu verzögern, um die Akutversorgung in den Spitälern nach Möglichkeit zu gewährleisten, was in Italien nicht mehr überall geht, denn viele Krankenhäuser verfügen im Notfall nicht mehr über Akutbetten oder Beatmungsgeräte. Wieviel klinisches Personal liegt durch Corona selber flach? Und wie viele Menschen bräuchten dringend Akutbehandlung auch ohne Corona? (Was für ein hübscher Name übrigens: er bedeutet »gekrönt«, kommt aus dem Spanischen oder Portugiesischen und das Geschlecht ist weiblich. Auf der Websitesuche finde ich: »Mit dem Namen Corona würde ich zurzeit besser keine Reise antreten« und: »Corona, danke, Mama und Papa, nicht lustig, hust...«)
Die Zwangsbetroffenen
Ich halte die Maßnahmen der türkis-grünen Regierung für nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es sich um eine von der WHO eingestufte Pandemie handelt. Ob sie übertrieben sind, kann auch ich als diplomierte Krankenschwester schwer beurteilen. Aber so viel weiß ich noch aus meiner Berufszeit: Pandemisch sich ausbreitende Viren können Gesundheitssysteme lahmlegen, Hygienemaßnahmen sind das A und O und gehören eigentlich zu den normalen menschlichen Anstandsregeln:
Erstens: Händewaschen nach jedem Freigang, gründlich mit Seife.
Zweitens: Meinem Nach- oder Vormenschen auf der U-Bahn-Rolltreppe nicht in den Kragen niesen oder ins offene Visier husten.
Drittens: Papiertaschentücher nur einmal benutzen und nicht am U-Bahn-Sitz liegen lassen. Ebenso die Kleinformate, die täglich neuen Horror und Viren an die Leser*innen handwarm verbreiten.
Viertens: Alle großen Veranstaltungen, bei denen, wie beim Linken Ball der KPÖ, mehr als 100 Leute erwartet wurden, sind abgesagt worden und ich komme nicht in eine Vernunft-Vergnügen-Entscheidungs-Verlegenheit.
Fünftens: Menschenmassen meiden: Fitnesstraining gecancelt, Öffis gemieden, Kaufräusche sind sowieso nicht meines.
Sechstens: Habe ich nicht gemacht: haufenweise Klopapier, Nudeln, Reis, Konserven, Haltbarmilch, Kaffee oder Mineralwasser eingekauft. Aber: genug Medikamente für meine Vorerkrankung, die ich regelmäßig einnehmen muss, besorgt, weil ich schon lange vor Corona die Erfahrung gemacht habe, dass manche Pharmafirmen nicht immer alles an Apotheken ausliefern. Und das Auto habe ich vollgetankt, wahrscheinlich ein Vorsichts-Überbleibsel aus den vergangenen Ölkrisen und dem Preisschock.
Angebot und Nachfrage: Eine Bekannte sitzt in Rom fest, Quarantäne, wer zahlt den Aufenthalt, ihren Verdienstentgang und wie und wann kann sie zurück nach Wien? Das 90-Euro-Flugticket wird mittlerweile mit 600 Euro gehandelt. Meine Kollegin Helga ist in Spanien, Auslandsreisende sollten sich um ihren Rückflug kümmern, sagt die Regierung. Eines meiner besorgten Enkelkinder schreibt mir: »Im Musikverein wurden alle Konzerte und Führungen abgesagt – keine Arbeit, kein Geld für mich.« Smiley mit Tränen. Das öffentliche Leben meiden, Sozialkontakte reduzieren, wird uns verordnet. Die geliebten Omas und Opas ihrem Schicksal überlassen? Eine Generation, die in friedlicher Gewissheit und (groß-)elterlicher Fürsorge großgeworden ist, erlebt zusätzlich zum Klimawandel erstmals Angst und Schrecken vor etwas Unbekanntem. Und die Regierung verhält sich ganz nach dem scheinheiligen alten Versicherungs-Werbespruch: Eure Sorgen wollen wir haben...
Die Schutzbefohlenen
Nicht nur alte Menschen wie ich sind auf soziale Kontakte angewiesen. Ich erinnere mich an die medial gehypte große nationale Katastrophenschutzübung, die ausgestrahlt wurde, kurz bevor die türkis-blaue Regierung von Ibiza overrollt wurde und abgetreten ist. (Der abhanden gekommene blaue Rest beschwört in geteilter Schwäche neue Krisenszenarien). Der ehemalige Innenminister Kickl beschönigte damals in einem ORF-Interview die Zivilschutzübungen daheim als niedliche Survive-Anregungen: Konserven für 14 Tage Überleben einkaufen, genug Mineralwasser und Batterien besorgen und mit den Kindern im Wohnzimmer als Übung ein Zelt aufbauen, das kann lustig für den Ernstfall sein. Mich beschleicht ein Verdacht: War das eine Vorübung? NEIN, eine Pandemie war noch weit entfernt. Und obwohl mir diese eine Radiomeldung von vor fast 40 Jahren noch im Ohr liegt, aus einem US-Labor seien unbekannte Viren entkommen, und obwohl ich weiß, dass Algorithmen-gesteuerte Atom- und Biowaffenarsenale um vieles unberechenbarer und weltvernichtender sind, und obwohl ich weiß, dass Wissenschaft und Technik zum Wohl und Wehe der Menschen, etwa in der Human- und Gentechnik, eingesetzt werden können: Covid-19, das unbekannte Wesen, macht Angst und allgemeine Verunsicherung. Meine Enkelkinder: Bitte, Oma, bleib zu Hause, riskiere nichts, kein Kontakt, keine Umarmung, aber Mails: Intensivanrufe, Blogs, Videos, Wissenschaftslinks und Onlineforen häufen sich in meiner Mailbox. Sie haben Angst um mich, ich liebe sie! Omas müssen sich in Isolationshaft begeben. Ich höre auf sie, um IHNEN ihre Angst zu nehmen. Ich bin da für sie, auch online. Und zum Glück brauche ich keine 24-Stunden-Pflege, sondern bin ziemlich mobil, denn sonst wäre ich jetzt aufgeschmissen.
Etwas macht mich sehr stutzig: ICH, alt, ausgedient, gesellschaftspolitisch eine Last und eine verachtenswerte, weil nicht mehr (re)produktive Bevölkerungsgruppe, die den Jungen ihre Zukunft stiehlt, wie seitenlange Medienberichte durch Bevölkerungs-Entwicklungskurven für Pensionssysteme belegen sollen – ICH, der schon auch mal, im Witz natürlich, »sozialverträgliches Frühableben« empfohlen wurde, ICH soll plötzlich eine schützenswerte Art sein? Wo gibt’s denn das! Kanzler Kurz, der sich nicht erst seit den peinlichen Altersheimbesuchen für Wahlwerbung als Altenschützling und Experte aufspielte, denn auch er hat eine Oma, der junge Kanzler, der den Alten den Wunschenkel vorspielt und ihnen wirtschaftspolitisch durch neoliberale Programme das Wasser abgräbt – DER soll sich um MEINE Zukunft sorgen, die statistisch eh berechenbar ist? Wer das glaubt! Aber der Enkelgeneration kann Pflicht und Gehorsam beigebracht werden. Keine Demos, keine Umarmungen, keine Kontakte, sondern Isolationshaft, wie das übrigens seit eh und je mit dem Altenteil im Ausgedinge gehandhabt wurde.
Die Angstbesoffenen
Ich Risikogruppe empfinde die Diskussion um Corona in meinem Alter auch wieder erfrischend. Die Maßnahmen, die mit radikaler Freiheitsbeschränkung und Enkelverunsicherung einhergehen, machen mir Mut, aber nicht, weil Mitmenschlichkeit im kapitalistischen System eine nennenswerte Kategorie wäre. Mut macht mir die Sichtbarkeit des irren Glaubens an den Wachstumsfetischismus, der ja mit der Lebensmittelproduktion, der globalen Umschlagsschnelligkeit und dem so zu erzielenden Profit sichtbar wird. Ich bin gespannt, ob Regierungen, wie damals 2008 zur Bankenrettung, soviel Cash zur Menschen- und in meinem Fall Altenrettung lockermachen, für Sozialität, für Kranken- und Zukunftssicherung der Bedürftigen. Ich denke, dass ein Denkschub in Gang gesetzt werden könnte, der nicht im Streichelmodus für die Alten und Underdogs verharrt, sondern in den Erkenntnismodus kommt, dass dieses Ende vom Anfang her gedacht werden muss. Ich glaube am Ende meines Lebens, dass der Kapitalismus wie auch ich selbst zu Ende geht. Ich hoffe auf einen friedlichen Übergang, für mich und die Welt.
Aber keine Illusionen. Friedlich war noch nie ein Wechsel. Private Trennungen wie globale Territorial-Eroberungen oder wirtschaftspolitische Erpressungsversuche berichten vom menschlichen Leid. Welche Spielregeln die Menschheit sich zu geben versucht haben, etwa durch UNO-, Flüchtlings- oder WHO-Vereinbarungen, die einen zivilisierten Umgang mit Konflikten durch Verträge festlegen, wird in der Endphase der Unmöglichkeit unserer Überlebenschancen sichtbar. Die Lemuren kriechen aus den Löchern und nehmen die Welt in Geiselhaft, nicht nur Trump, sondern viele seiner Ideologiebefürworter. Eines meiner Enkelkinder schrieb mir ungläubig nach Berichten aus italienischen Spitälern, die mittlerweile Notaufnahmen separieren: »ÄrztInnen dürfen doch Menschen gar nicht einfach so sterben lassen oder sie wegschicken. Die haben doch die Pflicht, Leben zu retten, oder?« Ich schrieb zurück: »Bestimmte Krisenpläne beinhalten, ›hoffnungslose Fälle‹ nicht mehr zuerst zu behandeln. Wenn das mit dem Hippokratischen Eid, die Rettung von Menschenleben, wirklich Konsens wäre: Weshalb lässt man dann Menschen wissentlich sehenden Auges in Quarantäne-Flüchtlingslagern krepieren?«
Bitte, meine lieben Enkelkinder: Seid nicht nachlässig, eure Sorge um uns Alte weiß ich zu schätzen, bleibt hellhörig auch den Regierungsverordnungen gegenüber, habt keine Angst, aber lasst das systemisch Alte ruhig absterben. Es kommt Neues.