Ein Gespräch zwischen Gabriele Michalitsch und Ulli Weish mit feministischem Blick auf das Koalitionsabkommen der Bundesregierung und die Handschriften von Grün und Türkis.
Aufgezeichnet von BÄRBEL DANNEBERG und CORNELIA RENOLDNER.
Werte und Worte – ein 326-seitiges Regierungsabkommen zwischen Türkis und Grün ohne ideologische Brüche scheint unmöglich, und doch sind beide Parteien bemüht, den Anschein von Übereinstimmung in Grundsatzfragen zu vermitteln. Welche frauenpolitischen Inhalte sind erkennbar und welche Handschrift hat sich eurer Meinung nach in den Vordergrund geschrieben?
ULLI WEISH: Im Verhältnis zur Vorgängerregierung ist die neoliberale Transformation in diesem Programm nichts Neues trotz grüner Hoffnungsrhetorik: die große Mehrheit bleibt weiterhin von Konsumsteuern belastet, konkrete Maßnahmen sind vage, in einzelnen Kapiteln ist die Handschrift von Lobbyisten – sprachlich wie inhaltlich – erkennbar.
GABRIELE MICHALITSCH: Im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse ist es ein rechtes Programm, auch wenn sich in der Präambel bemerkenswerte Änderungen gegenüber 2017 finden (siehe dazu den Kommentar zur Präambel, die Red.). So wird zum Beispiel Gleichstellung der Geschlechter explizit als eine Grundlage der sogenannten »österreichischen Werteordnung« erwähnt. Die patriarchale Struktur der österreichischen Gesellschaft wird also verleugnet, Patriarchat gibt es offenbar nur bei den »Anderen«. Auch die Ablehnung jeder Form von Gewalt wird dabei als »österreichischer Wert« genannt, dabei ist die Gesellschaft völlig von Gewalt durchdrungen. Das zeigt auch die letzte große Gewalt-Prävalenzstudie der Uni Wien. Ein Leben ohne Gewalterfahrung gibt es auch in Österreich de facto nicht, dennoch wird behauptet, es gebe eine allgemeine Ablehnung von Gewalt. Und gleichzeitig sollen der Grundwehrdienst und der Beruf des Soldaten attraktiver gestaltet und die Tauglichkeitskriterien reformiert werden, um letztlich mehr junge Männer für den militärischen Kampf auszubilden.
ULLI WEISH: Die sprachliche Anrufung der Gleichberechtigung scheint aus dem katholischen Werkzeugkasten zu stammen, im Sinne von Fürbitten. Das ist billig, denn das kostet nix, weil dahinter keine Maßnahmen stehen, die budgetiert werden. Ein noch immer neutraler Staat Österreich steht zu Einsparungen, beim Bundesheer
wurde der krasse Gegensatz dazu fortgesetzt, allerdings »modernisiert« durch die erste Verteidigungsministerin der Republik. Dieses Regierungspapier hat sehr wenig an tatsächlicher Gleichstellungspolitik parat, hat aber erstmals eine große Beteiligung von Ministerinnen, wie es sie noch nie gegeben hat.
Ist die weibliche Aufrüstung in den Ministerien nicht doch auch ein Zeichen nach außen, dass Frauenpolitik ernster genommen wird?
ULLI WEISH: Das eine wird mit dem anderen verwechselt und als solches verkauft werden. Die Gleichstellungspolitik braucht es dann inhaltlich nicht, weil es eine symbolische und medial vermittelte »Übergleichstellung« gibt. Die Bilder über die Ministerinnen werden über die fehlenden inhaltlichen Maßnahmen hinwegtäuschen.
GABRIELE MICHALITSCH: Die Frauen in diesen sehr sichtbaren politischen Führungsfunktionen verdecken, dass in den meisten weniger sichtbaren Bereichen, etwa in den Gemeinderäten und Landtagen, vor allem aber an den Spitzen der Unternehmen, Frauen keineswegs derart präsent sind. Andererseits stützt diese Geschlechter-Diversität natürlich neoliberale, für die meisten Frauen schädliche und das Patriarchat verfestigende Politik. Es wird so getan, als hätten wir längst Gleichstellung erreicht, daher sei Feminismus überflüssig. Folglich seien Feministinnen blindwütige Männer-Hasserinnen, gegen die man durchaus begründet hetzen könne. Die Fokussierung auf Diversität läuft aber auch Gefahr, Geschlechternaturalisierung und Stereotypisierung zu bekräftigen, denn Frauen und Männer sind in ihren politischen Positionen keineswegs zwangsläufig unterschiedlich. Doch genau das wird vermittelt. Inhaltliche Homogenität wird durch eine symbolische, im Prinzip biologistische Diversität verdeckt – letztlich ein Ablenkungsmanöver, um feministische Politik zu verhindern. Und es stellt alle feministischen Bewegungen einmal mehr vor die Frage, was Feminismus ist und an welchen Zielen er sich orientieren soll.
ULLI WEISH: Ich beobachte eine Dynamik, die ich als ›mittelalterliche‹ Frau in der grünen Szene kenne, nämlich die große Enttäuschung, dass sich die Schwächeren null durchgesetzt haben innerhalb eines unglaublich hierarchischen Verhandlungsapparates, wo nach dem Scheitern der ersten Schwarz-Blau-Regierung 2003 und den langen und schließlich abgebrochenen Verhandlungen mit den Grünen damals klar war, dass die Grünen diesmal nicht als erste aufstehen werden. Meine These ist, dass es viel zu schnell zu einer Einigung kam, Kogler auch überrumpelt war mit der Feststellung, jetzt haben wir uns geeinigt. Man hat sich auf eine halbfertige Regierungsvorlage eingeschworen und wird nun im laufenden Regierungsgeschäft nachverhandeln, so hoffe ich es jedenfalls.
Die Grünen haben eine blaue Regierungsbeteiligung vereitelt. Doch jetzt knicken sie bei vielen Themen, z. B. in der Sicherungshaftfrage, ein ...
GABRIELE MICHALITSCH: Nicht nur dort, sondern in jeder Hinsicht. Außer beim Klima, aber das hätte Herr Kurz ohnehin adressieren müssen. Es macht einen Unterschied, ob ein solches Programm von der FPÖ mitgetragen wird oder von den Grünen. Ich vermute, sie werden es bei der nächsten Wahl bereuen.
ULLI WEISH: Das sehe ich anders und gebe zu bedenken, dass die Grünen 2017 aus dem Parlament flogen und vor kurzer Zeit wiederbelebt worden sind. Die Alternative, die die Grünen im Moment historisch haben, sehe ich nicht außerhalb einer Regierung im aktuellen Kräfteverhältnis der Parteien. Die Klimakatastrophe wartet nicht, die ist da. Rund 40 Prozent aller Insekten sind verschwunden, es gibt keine Schlangen und Eidechsen mehr, Frösche überleben in Kleingartensiedlungen in Biotopen. Die Grünen haben nun einen dringenden ökologischen Auftrag. Die Verkehrs- und Infrastrukturministerin Leonore Gewessler steht für einen Paradigmenwechsel, der Voraussetzung für alles andere sein wird. Ich wünsche mir, dass die Sozialdemokratie ihre Expertisen, die sie z. B. im Arbeitsmarktbereich oder der Gleichstellungspolitik haben, in eine lebendig agierende Oppositionspolitik einbringen. Zivilgesellschaftliche Initiativen müssen das Gespräch suchen, vor allem zu den türkisen Ministerinnen, und das sollte auch gleichzeitig den möglichen unterstützenden Kräften kommuniziert werden. Die kritische Analyseebene ist wichtig, aber die alleine erzeugt keinen Wandel. Sie ist der Ausgangspunkt.
GABRIELE MICHALITSCH: Ich halte es für einen Fehler zu glauben, Politik bestehe primär darin, Gesetze zu verabschieden oder Posten zu besetzen. Bei Politik geht es auch um Diskurs, um Denk- und Wahrnehmungsweisen, um die Erzeugung von Stimmungen. Ich finde, dass die Grünen mit der Auffassung »Wir können nur in der Regierung gestalten« Politik zu eng verstehen. Wenn sich die Grünen für radikale Oppositionspolitik entschieden hätten, könnten sie Sichtweisen, Denkmuster und Haltungen wahrscheinlich stärker verändern.
Ungleiche Machtverhältnisse drücken sich auch in ministeriellen Zuordnungen aus. Etwa in einem neu geschaffenen ÖVP-Ministerium für »Arbeit, Familie und Jugend«, welches dem Sozial- und Gesundheitsministerium und somit grünem Einfluss entzogen und der Wirtschaft zugeordnet ist.
ULLI WEISH: Es gibt eine hochinteressante Palette der Sprachlosigkeit und der Leere im Regierungsabkommen, aber es gibt Beispiele, die für frauenpolitische Realverhältnisse relevant bleiben, etwa die Zumutbarkeitsgrenzen bei AlleinerzieherInnen, bei der Pflege und vielen Alltagsthemen von Nichtprivilegierten, da wird nichts gelöst.
GABRIELE MICHALITSCH: Pflege soll primär zu Hause erfolgen, das ist das Grundprinzip des Programms. Es rückt die Unterstützung pflegender Angehöriger ins Zentrum. Z. B. soll ein »Pflege-Daheim-Bonus« für pflegende Angehörige eingeführt und Pflegezeit als Versicherungszeit über drei Jahre hinaus angerechnet werden, auch wenn keine Erwerbszeit vorliegt. Das bedeutet konkret, vor allem ein Hausfrauen-Pflegerinnen-Modell und damit die geschlechtliche Arbeitsteilung zu fördern. Hinzu kommt die angestrebte Aufwertung des Ehrenamtes in der Pflege, also einmal mehr unbezahlte Arbeit. Mich hat besonders irritiert, von »präventiver Entlastung von Young Carers« zu lesen, also von Kindern und Jugendlichen, die Pflegearbeit machen. Die sollten meines Erachtens aber keine Pflegearbeit machen, sondern in die Schule gehen! Die gesamte Pflegeproblematik soll offenbar weiter individualisiert und privatisiert werden. Das Pflegegeld wird ausgeweitet, sonst aber hat der Staat keine Verantwortung, das ist die Zielrichtung.
ULLI WEISH: Bei der Kinderarmut hat parteiübergreifend ein Konsens vorher bestanden, aber im Regierungsprogramm findet sich zur Verhinderung konkret gar nichts. Kinder, die im Ausland leben, sind beim Zugang von Sozialleistungen und familienunterstützenden Maßnahmen nicht zu finden. Bei der gemeinsamen Obsorge oder bei Aspekten vom Familienrecht findet sich eine komplizierte Praxis, die dann in Ordnung ist, wenn sich PartnerInnen geregelt trennen, aber nicht im Konflikt.
GABRIELE MICHALITSCH: Die Polarisierung zwischen Kindern wird vorangetrieben – durch klassistische und rassistische Politik. Wenn der Familienbonus erhöht wird, auf maximal 1.750 Euro pro Kind, bringt das den ärmeren Bevölkerungsschichten, also gerade auch Migrant*innen, sehr viel weniger als den reicheren. Wobei gerade diejenigen, die ihn am dringendsten bräuchten, nämlich die ganzjährig Langzeitarbeitslosen und MindestsicherungsbezieherInnen, explizit davon ausgeschlossen sind.
So soll offenbar, wie es in der Präambel heißt, das soziale Netz, »gestärkt« werden und »diejenigen auffangen, die sich selbst nicht helfen können«. Das aber bedeutete ein klares Abrücken vom Sozialstaatsprinzip und ein Bekenntnis zu einem Fürsorgesystem – statt Rechte für alle Almosen für die Armen!
Das muss man zusammen mit den Vor
schlägen im Steuerbereich sehen: die Senkung der Körperschaftssteuer, die Absenkung der Progression in der Lohn- und Einkommenssteuer – das sagt eigentlich alles. Und immer wieder diese grundsätzlichen Bekenntnisse zu einer Senkung der Steuer- und Abgabenquote, da geht‘s ja nicht nur um Steuern, sondern implizit auch um öffentliche Ausgaben.
Die Frauenagenden sind jetzt im »Ministerium für Integration und Frauen« zu finden. Wird den Frauen damit ein erzieherischer Auftrag erteilt?
ULLI WEISH: Bei den Themen Integration und Asyl herrscht eine feindliche Konstruktion von »Den Anderen« vor. Bei den Gewaltaspekten wird so getan, als käme das als importierter Maskulinismus aus arabischen Staaten auf uns friedensliebende ÖsterreicherInnen zu. Das bedient FPÖ-Stimmen, dabei wäre auf die Gewalt in der Familie zu schauen.
GABRIELE MICHALITSCH: Hinzu kommt, dass muslimischen LehrerInnen das Kopftuch verboten werden soll. Strukturell wird damit die Klassenspaltung rassifiziert. Das finde ich besonders niederträchtig, dass man die Musliminnen, die als Lehrerinnen am ehesten ökonomisch gleichgestellt sind, auf Grund ihres sichtbaren Religionsbekenntnisses ausschließen will, bei den muslimischen Putzfrauen ist das offenbar gleichgültig.
ULLI WEISH: Viele Aspekte, gerade in der Gleichstellung oder im Familienkapitel bei den Kinderbetreuungsplätzen, klingen gut und freundlich – aber es fehlt die Aussicht auf Umsetzung. Alle Dinge, die nach Gleichstellung klingen, bleiben vage. Manches ist auf den ersten Blick für mich sehr erleichternd, weil es die Schwere der freiheitlichen Handschrift vordergründig nicht hat. Es braucht eine zivilgesellschaftliche Einmischung und kritische Menschen, die Druck machen, damit z. B. MinisterInnen, die noch wenig Kontakt haben mit einer heterogenen feministischen Zivilgesellschaft, diese konkret erleben. Ich glaube tatsächlich, in einem kleinen Land ist eine politische Beziehungsdynamik nicht irrelevant.
GABRIELE MICHALITSCH: Es geht um einen rassistischen autoritären Neoliberalismus, der natürlich auch antifeministisch ist. Dieses Programm spiegelt ein Projekt der oberen zehn Prozent. Ein ausdrücklich formuliertes Ziel der Steuerpolitik besteht zum Beispiel darin, dass sich die Haushalte Eigentum schaffen. Nur: die untere Hälfte der Haushalte kann mit ihrem Einkommen kaum überleben. Diese Haushalte können sich kein Eigentum schaffen, die haben größte Mühe, ohne Schulden durchzukommen. Nächstes Beispiel: Pensionssplitting. Das soll als Automatismus eingerichtet und an gemeinsame Kinder gebunden werden. Das ist nicht nur eine Form von Individualisierung sozialer Sicherung, sondern auch eine Stärkung des patriarchalen Familienmodells. Es setzt voraus, dass Frauen verheiratet sind und Kinder haben. Frauen sind dabei abhängig von einem gutverdienenden Partner, denn von Pensionssplitting haben Frauen oft nur etwas, wenn die eigene Pension durch das Splitting den Ausgleichszulagenrichtsatz überschreitet. De facto ist das Pensionssplitting eine Sparmaßnahme, um die Ausgaben für Ausgleichszulagen zu reduzieren
Wir haben also Sozialabbau, insbesondere eine Restrukturierung des Sozialsystems durch weitere Individualisierung, den deklarierten Abschied vom Sozialstaat zugunsten von Fürsorge für die, »die sich nicht selbst helfen können«. Gleichzeitig wird das Steuersystem immer mehr zu einem Instrument der Umverteilung »von unten nach oben«. Allein schon diese Elemente bewirken klassenspezifische Spaltung, Retraditionalisierung von Geschlechterverhältnissen und rassistischen Ausschluss.
Dr.in Gabriele Michalitsch, Politikwissenschafterin und Ökonomin, Universität Wien
Dr.in Ulli Weish, Medienwissenschafterin und Aktivistin bei der Plattform 20.000frauen