Polen ist seit Anfang der 1990er Jahre d e r Vorzeigeschüler in puncto Neoliberalismus. Neben vielen anderen Bereichen ist jener des Wohnens den Kräften des Marktes überlassen worden. Und dieser hat, wie nicht anders zu erwarten, versagt.
Von PIOTR IKONOWICZ
Die Tragödie der Mieter*innen liegt in zwei Ereignissen begründet: Zunächst hat 1994 die Regierung der Links-Demokratischen Allianz ein neues Gesetz betreffend die Vermietung von Wohnungen verabschiedet. Dieses erlaubt Delogierungen, ohne dass den Mieter*innen eine Ersatzunterkunft zur Verfügung gestellt werden muss. Der zweite Faktor war die Aufhebung der Mietzinsbindung. Im Jahr 2005 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg befunden, dass die polnische Gesetzgebung betreffend die Höhe von Mieten ungerecht sei, da sie Wohnungsbesitzer*innen benachteilige. Polen wurde deshalb verpflichtet, die Mietzinsobergrenzen im privaten Wohnungssektor aufzuheben. Der polnische Verfassungsgerichtshof folgte diesen Vorgaben, das polnische Parlament stimmte einem Anstieg der Mieten von bis zu zehn Prozent alle sechs Monate zu.
Millionen polnischer Mieter*innen mussten sich aufgrund der exzessiven Mietpreissteigerungen verschulden, das neue Gesetz zu Delogierungen hatte massenhafte Entmietungen zur Folge. Während jener Zeit war ich Parlamentsabgeordneter für die Polnische Sozialistische Partei, gemeinsam mit anderen saß ich auf den Stiegen von Häusern und verhinderte Delogierungen. Aus diesem Grund wurde ich, nach Ablauf der beiden Legislaturperioden, die ich im Parlament vertreten war, vor Gericht gestellt und verurteilt.
Delogierungen sind tödlich
1997 wurde eine neue polnische Verfassung angenommen, der zufolge »die inhärente und unveräußerliche Würde der Person eine Quelle für persönliche und bürgerliche Freiheiten und Rechte darstellen soll. (...) Dafür zu sorgen, dass sie respektiert und geschützt wird, ist die Verpflichtung der staatlichen Behörden.« (Artikel 30) Aus diesem Grund hat der Verfassungsgerichtshof befunden, dass die Delogierung von Mieter*innen verfassungswidrig ist. Allerdings hat die Gesetzgebung niemals dafür gesorgt, dass Delogierungen tatsächlich gestoppt werden. Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, sollten nicht unmittelbar auf die Straße gesetzt werden, sondern für einen Zeitraum von ein bis sechs Monaten eine Behausung in sogenannten vorübergehenden Unterkünften finden. Erst nach Ablauf dieser Periode sollten sie endgültig delogiert werden. Es gab den Fall einer Frau mit Behinderung, die sich vor Ablauf der vorgesehenen Frist in einem Lagerhaus auf dem Grundstück der vorübergehenden Unterkunft versteckte. Als die Sicherheitskräfte sie aus ihrem Unterschlupf zerrten, starb sie an einem Schlaganfall. In zahlreichen anderen Fällen begingen Leute Selbstmord, bevor die Delogierungsmannschaft kam.
Wohnungsknappheit und Überbelegung
Schätzungen zufolge braucht Polen drei Millionen zusätzliche Wohnungen, um den gesellschaftlichen Bedarf abzudecken. Diese Knappheit hat zu einer enormen Verteuerung des Wohnens geführt. Wohnungen kosten in großen polnischen Städten so viel wie in Paris und New York, während die Löhne drei bis viermal niedriger sind. 75 Prozent der polnischen Kinder wohnen in überbelegten Wohnungen, in denen sie um Platz raufen müssen, um ihre Hausübungen zu erledigen. Das Wohnproblem ist die Wurzel der Massenabwanderung von jungen Erwachsenen in andere EU-Länder.
Der Gemeindebausektor macht nur 6,83 Prozent des gesamten Wohnungssektors aus. An die 77 Prozent der Menschen haben Eigentumswohnungen. Der Rest lebt in Genossenschaftswohnungen, die privatisiert wurden und für die – wie überall sonst – die Regeln des freien Marktes gelten, einschließlich der Delogierungen.
Ehemalige Betriebswohnungen wurden privatisiert
In Polen existieren auch noch andere Wohnformen. Dies sind u. a. an aufgelassene Fabriken angeschlossene Wohnungen, die den Arbeiter*innen als Unterkünfte dienten. Wohnungen von hunderttausenden Mieter*innen – ehemaligen Arbeiter* innen in diesen Fabriken – wurden gemeinsam mit den Fabriken um einen Spottpreis privatisiert. Mit einem Mal wurden die Bewohner*innen private Mieter*innen, die die marktüblichen Mieten zu berappen hatten, was sie sich nicht leisten konnten. Aufgrund des Widerstands, der mancherorts organisiert wurde, wurden diese Fabrikswohnungen vom Gemeindesektor übernommen. Im oberschlesischen Zabre, einer Bergbau- und Stahlarbeiter*innenstadt, gehören fast alle (ehemaligen Fabriks-) Wohnungen der Gemeinde, 30.000 Menschen stehen Schlange, um vom dortigen Rathaus eine Wohnung zu bekommen.
Verschuldung als Ursache für Obdachlosigkeit
Banken und andere Gläubiger ordnen immer mehr Delogierungen an. Der Großteil der Pol*innen verfügt über keine oder beinahe keine Ersparnisse und lebt von einem Monatslohn zum nächsten. Ihr einziger »Reichtum« ist ihre Wohnung oder ihr Haus. Daher riskieren sie, sobald sie sich verschulden, das Dach über ihrem Kopf zu verlieren und auf der Straße zu landen. Da sie keine Mieter*innen sind, unterstehen sie keinem Schutz, da das Mieterschutzgesetz nur für Menschen gilt, die nicht Eigentümer*innen ihrer Wohnungen sind. Somit besteht für die früheren Eigentümer*innen ein höheres Risiko, obdachlos zu werden als für Menschen, die Mieter*innen sind.
Mieterrechte, gemeindeeigener Hausbestand und eine 2001 angenommene Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches verpflichten die Gerichte dazu, sicherzustellen, dass Kinder, Menschen mit Behinderungen, Schwangere und Alte solange nicht delogiert werden dürfen, bis ihnen von der Gemeinde eine Wohnung zur Verfügung gestellt wird. Sollte allerdings die von Delogierung bedrohte Person aus irgendeinem Grund bei der Gerichtsverhandlung nicht anwesend sein können, wird sie in den meisten Fällen delogiert.
Der Verein Büro für soziale Gerechtigkeit und die Partei Bewegung für soziale Gerechtigkeit führen einen beharrlichen Kampf für die Rechte von Mieter*innen, indem sie Delogierungen verhindern, Verhandlungen auch vor Gericht führen und Gesetzesänderungen vorantreiben. Jedoch besteht die effizienteste Lösung der Wohnungskrise darin, Millionen von Gemeindewohnungen mit regulierten Mieten zu bauen. Dies zu verlangen und umzusetzen ist eine der dringlichsten Aufgaben der polnischen Linken.
Piotr Ikonowicz ist Gründer und ehrenamtlicher Mitarbeiter des »Büros für soziale Gerechtigkeit«, einer NGO, die Rechtsbeistand zur Verfügung stellt und zugunsten von Menschen, denen die Delogierung droht, initerveniert. Darüber hinaus ist er Vorsitzender der politischen Partei »Bewegung für soziale Gerechtigkeit«.