Erwin Riess’ jüngster Roman erzählt davon, dass Drangsalierte ihre Opferrollen ablegen und zu politischen Subjekten werden.
VON FRANZ FEND.
» Lasst, die ihr hier eintretet, alle Hoffnung fahren!«, dieser Spruch Dantes über dem Eingang in dessen Inferno könnte gut auch über den Eingängen von Einrichtungen und Heimen stehen, in welchen behinderte Menschen in ganz Europa untergebracht sind. Sie sind es, denen am übelsten mitgespielt wurde beim neoliberal-autoritären Umbau Europas. Die Taktik der Herrschenden ist seit langem bekannt, wurde immer wieder praktiziert und zeigt eine stupende Wirkung: Zuerst werden die Allerschwächsten einer Gesellschaft niedergemacht, jene, die nicht den Verwertungserfordernissen des realen Kapitalismus entsprechen, Geflüchtete oder Behinderte zumeist. Dann kommt die nächste Gruppe dran, die Alten oder die Arbeitslosen. Gesellschaftliche Errungenschaften, die den ärmeren Bevölkerungsgruppen ein halbwegs erträgliches Auskommen ermöglichten, werden sukzessive abgeschafft, meist unter dem Jubel jener, die noch nicht davon betroffen sind. Die Sozialpolitik wird ersetzt durch ein ständestaatliches Armen- und Fürsorgewesen, das statt gesetzlich garantierten Leistungen Schikanen, Drohungen und Demütigungen bereithält. Die Staaten Europa sind unterschiedlich weit auf dem Weg der Umwandlung der bürgerlichen Demokratien in autoritäre Systeme mit christlicher Prägung und antisozialer, rassistischer und nationalistischer Grundierung. Der Ort, der für die unteren Klassen – so sie sich nicht unterwerfen – vorgesehen ist, ist das Gefängnis. Der Prozess des Aussortierens, der Selektion ist voll im Gange. Das Gefängnis, die Herrschenden scheuen sich nicht, es zu betonen, ist erst der Anfang.
Randständige werden zu Aufständigen
Vor diesem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund handelt Erwin Riess’ neuer Roman »Herr Groll und die Donaupiraten«. Groll, der Protagonist und Ich-Erzähler, wartet, wie wir es kennen, mit einer trefflichen Analyse der Lage auf. Diese fällt, im Unterschied zu früheren Romanen, keineswegs sarkastisch oder gar ironisch aus. Zu sehr hat sich die Lage in Europa gewandelt. »Der große europäische Umbau kennt zwei Sieger: die Groß- und Finanzindustrie sowie ein weit rechts stehendes Parteienbiotop, das große Gruppen der subalternen Klassen und kleinbürgerliche Schichten aufsaugt und radikalisiert. Die einen scheffeln Rekordgewinne, die anderen schwindelerregende Zuwächse bei den Wahlen.« Es regieren »zwielichtige Figuren, alerte Blender, rachsüchtige Studienabbrecher, ausgebuffte Halunken und Schlägertypen«, welche mittels Hetze gegen Minderheiten, Hass auf Andersartige, bis zur Hysterie geschürte Ängste sämtliche zivilisatorischen Standards und soziale Sicherheiten niederreißen. Vor allem behinderte Menschen, Geflüchtete und Armutsreisenden sind der Gewalt der neuen Herren ausgesetzt.
Groll sucht im Auftrag seines New Yorker Freundes Mister Giordano nach einer Gruppe von Jugendlichen, die getarnt als Zirkustruppe aus Europa zu flüchten gezwungen sind. Es habe sich, so Giordano, im östlichen Donauraum eine soziale Revolte entwickelt, Randständige aller Art, zumeist Jugendliche, würden plündernd und brandschatzend durch die Lande ziehen, um herrschaftliche Einrichtungen wie Gerichte, Gefängnisse, Polizeistationen, aber auch Behindertenheime anzugreifen. Es kam vor, dass ungarische Jobbik-Bürgermeister vor den Augen der Verwandtschaft in ihrem Auto abgefackelt wurden. Unter den Aufständischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass ducken und stillhalten keine Option mehr sei. Dass es an der Zeit sei, die Opfer-Rolle abzulegen und zum Handeln überzugehen. Diese Einsicht setzte voraus, dass in Zeiten des aufstrebenden Faschismus, in Zeiten des eliminatorischen Krieges der Herrschenden gegen die unteren Klassen und gegen alles »Volksfremde« ein Hoffen auf Besserung aussichtslos ist, im Gegenteil, der Faschismus vor allem durch Stillhalten seiner GegnerInnen nur an Stärke gewinnt. Es setzte ein kategorisches und praktisches Nein zu den herrschenden Verhältnissen voraus. Wenn man so will, ist das vielleicht das Thema des Romans, die grundsätzliche Weigerung, sich auch nur in der geringsten Weise mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten zu arrangieren.
Gehetzt vom heimattümelnden Mob
Groll, der eine der widerständigen Gruppen bald gefunden hat und sich ihr anschließt, wird dadurch selber zum Gejagten. Die Zirkustruppe beabsichtigt, sich donauaufwärts nach Österreich und später über einen Adriahafen nach Nordafrika durchzuschlagen. Vom Medien-Mob zu Verbrechern gestempelt, werden sie von Polizei, Militär, ungarischen Faschisten, österreichischen Heimwehrlern verfolgt. Unterstützung erhalten die Flüchtigen, das ist ebenfalls ein bemerkenswerter Aspekt des Romans, von VertreterInnen des Kulturlebens. In Ungarn ist es ein ehemaliger Schauspieler und Fernseh-Publikumsliebling aus der Zeit, als das Land noch Volksrepublik Ungarn hieß, und in Österreich sind es MitarbeiterInnen des Stieglerhauses in der Südweststeiermark. Dort kommt es schließlich zur finalen Schlacht zwischen der dortigen völkischen Heimwehr und den Flüchtigen. Das Stieglerhaus wird verwüstet, der Angriff jedoch zurückgeschlagen. Hilfe, die Flucht fortsetzen zu können, kommt von unerwarteter Seite.
Der komplex gebaute Roman bezieht seine Spannung von einer vielschichtigen Erzählstruktur, die da besteht aus dem Logbuch des Cornel Vanators, des Anführers der aufständigen Zirkustruppe, dem Bericht von Groll und der E-Mail-Korrespondenz von Giordano und Grolls Freund, dem Dozenten. Riess besticht auch in diesem Roman durch eine unglaubliche Fülle von historischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Fakten, die gekonnt in die Romanhandlung eingeflochten werden. Der neue Riess ist der Roman zu den politischen Verwerfungen, welche Europa gegenwärtig erschüttern. Er ist auch ein Roman, der zeigt, dass diese Episode nicht mit Ducken und Durchtauchen zu bewältigen ist. Denn die Kräfte, die nun das Sagen haben, sind von einem missionarischen Eifer und einem terminatorischen Furor getrieben.
Erwin Riess: Herr Groll und die Donaupiraten. Roman, Salzburg: Otto Müller Verlag 2019, 302 Seiten, 23 Euro.