03 Mai

Das Feingefühl der Unterdrückten

von

Spätestens seit ihrem Erfolg bei den türkischen Wahlen im Jahr 2015 ist die HDP (Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker) systematischen Repressionen ausgeliefert. Zur gleichen Zeit hat die türkische Regierung eine neue militärische Kampagne gegen die KurdInnen gestartet. Wir haben mit Berk Özdemir, einem Vertreter der HDP in Österreich, über seine Partei und ihre Rolle in diesem Konflikt gesprochen.

Zitiert aus der Volksstimme No.5 Mai 2016

Volksstimme: Die HDP gibt es noch nicht sehr lange, trotzdem geht ihre Geschichte weit zurück. Könnt ihr kurz die historische Entwicklung und die politischen Ziele beschreiben, die schließlich zur Gründung der HDP geführt haben?

Berk Özdemir (HDP Avusturya): Die HDP vereint eine große Palette an unterschiedlichen kurdischen, linken politischen Parteien aus der Türkei und Kurdistan. Davor gab es die HDK (Demokratischer Kongress der Völker), der 2011 gegründet wurde. Die HDK hat allen bis zu dem damaligen Zeitpunkt von der in der Türkei herrschenden Politik ausgegrenzten Völkern und Menschen ein Gesicht gegeben, eine Stimme verliehen. Die HDP ist die Umgestaltung der HDK in eine Partei.

In der Türkei und Kurdistan sind viele unterschiedliche revolutionäre linke politische Strömungen zu finden. Im Gegensatz zu Europa sind hier politische Traditionen aus den 60er und 70er Jahren lebendig. Die HDP ist auch eine Fortführerin dieser politischen Traditionen aber mit einer Erweiterung der bisherigen Visionen. Sie ist ein Zusammenschluss vieler dieser linken Fraktionen in der Türkei mit dem Ziel, eine politische Alternative für die Türkei aber auch für die Region zu sein. Diese Alternative kann man mit Stichwörtern zusammenfassen: gegen Patriarchat und für Frauengleichberechtigung, Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung, Gründung einer ökologischen Gesellschaft gegen jegliche Form der Zerstörung der Natur, politische Partizipation der Menschen verbreitern usw.

 

Wie erklärt ihr euch den Erfolg bei den letzten Wahlen und wie kam und kommt die HDP bei den in der Türkei wahlberechtigten MigrantInnen in Europa – z.B. in Österreich – an? Wie hat sich insgesamt der Zuspruch aus der Bevölkerung seit den Wahlen entwickelt?

Berk Özdemir: Die HDP erzielte diesen Erfolg, weil sie die einzige Alternative zu den nationalistischen, den Islam instrumentalisierenden Minderheiten und unterschiedliche Religionen ausgrenzenden anderen politischen Parteien in der Türkei ist. Mit der Stimme an die HDP hatten die wahlberechtigten MigrantInnen in Europa das erste Mal, seitdem sie die Türkei verlassen hatten, die Möglichkeit, die Politik in der Türkei progressiv zu beeinflussen.

Die Frage der Entwicklung lässt derzeit nicht ganz eindeutig beantworten, da nach den Wahlen im Juni die AKP-Regierung die Verluste im Parlament nicht verkraften konnte und somit das Land mit einer bewusst gesteuerten Eskalation in einen Krieg in Nordkurdistan gebracht hat. Die HDP selbst kann aufgrund der herrschen Kriegssituation derzeit nicht die Politik verfolgen, die sie beabsichtigt hat. Das primäre Ziel derzeit ist es, den Kriegszustand zu beenden und einen gerechten Friedensprozess wiederaufzunehmen.

 

Wie hat man in der Türkei auf das Wahlergebnis der HDP reagiert? Gab es als Reaktion auf euren Erfolg politische Repressionen gegenüber Abgeordneten oder HDP-MitarbeiterInnen seitens Erdogans Regierung oder dem unter seinem Einfluss stehenden Apparat?

Berk Özdemir: Die Wahlergebnisse der HDP waren natürlich ein großer Hoffnungsschimmer bei vielen Teilen der Gesellschaft. Vor allem nach den Wahlen am 7. Juni 2015 haben viele Menschen ihre Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Türkei in die HDP gesetzt. Die HDP war und ist die beste Möglichkeit dafür, die faschistischen Bestrebungen der AKP, welche die Gesellschaft in der Türkei immer weiter polarisiert, zu durchbrechen. Mit dem Einzug der HDP ins Parlament hat die AKP ihre Mehrheit im türkischen Parlament verloren. Vor allem deswegen sind nicht nur seit den letzten zwei Wahlen die HDP, sondern auch ihre Mitglieder und WählerInnen massiven Repressionen ausgesetzt. Nach den Wahlen wurden rund 1.500 HDP-Angehörige inhaftiert. Den HDP-Abgeordneten will man die Immunität aberkennen.

 

Man findet in unseren Medien nur wenig über die aktuelle militärische Kampagne der türkischen Regierung gegen die KurdInnen. Könnt ihr uns mehr darüber berichten? Welche Rolle spielt die HDP in diesem Konflikt?

Berk Özdemir: Der Friedensprozess wurde endgültig für beendet erklärt; im Südosten des Landes, in Nordkurdistan, wurden militärische Operationen gestartet, bis jetzt hunderte ZivilistInnen, darunter viele Kinder, ermordet. Mit einer gewollt herbeigeführten Eskalation versucht die AKP-Regierung seit Monaten die Gesellschaft immer weiter zu polarisieren und erhofft sich dadurch ein Stimmenzuwachs, um das von ihr, vor allem von Präsident Erdogan, gewollte Präsidialsystem umzusetzen. In diesem Sinne werden alle regierungskritischen Kanäle und Menschen kriminalisiert und als Terroristen zur Zielscheibe gemacht. In den kurdischen Gebieten werden Menschen mit unfassbarer Brutalität seitens des Militärs ermordet, Leichen werden geschändet, tote kurdische Frauen werden auf Straßen nackt zur Schau gestellt, um die Zivilbevölkerung gleichzeitig auch psychologisch zu bekämpfen. Parallel zum Krieg in Kurdistan will man alle demokratischen, politischen Kanäle blockieren.

Dass wir in den österreichischen Medien nur wenig über die Massaker und den Krieg des türkischen Militärs in den kurdischen Städten finden, liegt nicht nur an der Presse hierzulande, sondern auch an uns. Aber ich bin auch der Meinung, dass diese fehlende Berichterstattung nicht die persönliche Entscheidung der österreichischen JournalistInnen ist. Manche von ihnen versuchen die ganze Problematik zu thematisieren. Wir möchten uns auch an dieser Stelle bei diesen JournalistInnen für ihre Bemühungen bedanken. Ich bin der Ansicht, dass der Krieg, der gegen die kurdische Zivilbevölkerung in der Türkei seitens des Militärs geführt wird – mit dem Ziel die kulturelle und physische Existenz der KurdInnen, ihrer Erinnerungen, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft zu vernichten und zu zerstören –, aufgrund des Deals zwischen der EU und der Türkei nur wenig Platz in den Medien findet. Diese Verhandlungen über die Leben der Flüchtlinge sind schmutzige Verhandlungen und zugleich überdecken sie die Menschenrechtsverletzungen aller Art, die seitens der türkischen Regierung im eigenen Land begangen werden.

Die HDP ist eine Partei, die mit ihren Werten das Leben, die Menschlichkeit vertritt. HDP Abgeordnete informieren die Weltöffentlichkeit fast tagtäglich über die Lage in militärisch belagerten kurdischen Städten. Vor allem werden hierfür die Social Media Kanäle als eine Plattform für die Informationsweitergabe genutzt. Insbesondere die Angriffe in den Städten und Regionen, in denen die HDP bei den letzten Wahlen ungefähr 80 Prozent der Stimmen bekommen hat, macht deutlich, dass es sich hierbei um Operationen handelt, die nur eines beabsichtigen – nämlich die demokratische Politik und deren Wege zu stoppen und zu blockieren. Die HDP hofft aber noch immer, die türkische Regierung an den Verhandlungstisch zu bringen und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu erreichen. Allerdings können zurzeit weder das Parlament noch alle anderen politischen Akteure aufgrund des Faktors Erdogan ihre tatsächlichen Aufgaben und Funktionen erfüllen. Präsident Erdogan steuert die militärischen Operationen in den kurdischen Gebieten mit seinen Entscheidungen und Reden. Gleichzeitig versucht er mit seiner gewalttätigen Rhetorik, die Brücken der Geschwisterlichkeit zwischen unseren Völkern zu zerstören. Wir als HDP versuchen, gegen dieses Regime einen gerechten Friedensprozess wieder in Gang zu bringen, in dem die kurdische Freiheitsbewegung nicht mit leeren Versprechungen hingehalten wird. Ziel ist es, eine neue Verfassung zu ermöglichen. Obwohl die HDP etliche Male verschiedenste Vorschläge zur Gestaltung einer neuen Verfassung gemacht hat, kam es leider innerhalb der Verfassungskommission zur keiner Einigung.

 

Gibt es auch ähnliche Repressionen gegen andere Minderheiten, die ihr vertretet?

Berk Özdemir: Vorweg muss betont werden, dass all die Völker, die heute als Minderheiten bezeichnet werden, die eigentlichen Eigentümer dieser Region sind. Die auch zur Zeit angewendeten Repressionen sind nicht nur eine Methode, von der die AKP, welche jetzt schon seit 13 Jahren an der Macht ist, Gebrauch macht, sondern man kann sagen, dass es eine Staatstradition ist. Es gibt eine systematische Repression gegen alle, die nicht Türke oder Türkin sind, die nicht dem Islam angehören und die nicht heterosexuell sind. Entweder werden diese Menschen gedemütigt, von den grundsätzlichen Menschenrechten ausgeschlossen, oder der Staat gewährleistet ihre Lebenssicherheit nicht mehr. Die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink oder die Tatsache, dass das armenische Volk ihre Gotteshäuser nicht frei nutzen können, oder die Bezeichnung der kurdischen Zivilbevölkerung als »armenische Hurenkinder« über Lautsprecher seitens der türkischen Sicherheitskräfte als Synonym für einen Staatsfeind, können als Beispiele dieser Staatsideologie genannt werden. Außerdem versucht der Staat noch immer die in der Türkei lebenden AlevitInnen mit Zwang zu islamisieren. Die Cemhäuser, Gotteshäuser der AlevitInnen, werden bis heute noch immer nicht offiziell als solche akzeptiert. Mit Projekten wie »Moschee-Cemhaus« versucht man, die Religionsfreiheit anzugreifen.

LGBT-Mitglieder werden immer wieder als marginalisierte Gruppen dargestellt und von regierungsnahen Zeitungen zur Zielscheibe gemacht. Für diese ist es eine »Krankheit« ein LGBT-Mitglied zu sein. Der Staat und insbesondere die AKP will mit dieser Politik alle Minderheiten und Unterdrückten einschränken, ihre politischen Freiheiten angreifen und so eine gemeinsame gesellschaftliche Widerstandsbewegung verhindern. Die HDP ist nicht nur eine Partei, die all diese gesellschaftlichen Gruppen vertritt, sondern sie ist vielmehr eine Organisation, die versucht miteinander, gemeinsam Politik zu machen. Das heißt, die Forderungen der alevitischen Gemeinde werden von den AlevitInnen selbst bestimmt, die LGBT-Bewegung bestimmt ihre eigene individuelle Politik, und alle anderen Gruppierungen auch. Man kann sagen, dass innerhalb der HDP das Errichten einer gemeinsamen Plattform zur Gestaltung neuer Lösungsansätze in den Vordergrund tritt.

 

Wie können Menschen in Österreich, die in diesem Konflikt ihre Solidarität mit den KurdInnen zeigen wollen, am besten helfen bzw. euch unterstützen?

Berk Özdemir: Dass zurzeit überall auf der Welt Kriege stattfinden, hat einen strukturellen Grund. Deshalb werden die Solidarität und der internationale Zusammenhalt von den Arbeitenden, den Unterdrückten, von Tag zu Tag immer bedeutender. Dafür müssen wir stärkere Beziehungen aufbauen. Das bedeutet: Statt nur auf gemeinsamen Veranstaltungen Flugblätter unter einander zu verteilen, müssen wir Verbände gründen, die eine konkrete Kraft für Lösungen aufbringen können. Um das zu verwirklichen, braucht es Mut zur Kritik – auch zur Selbstkritik. Bei den letzten Wahlen haben mehr als 5.000 Menschen österreichweit ihre Stimme der HDP gegeben. Und es gibt noch genauso viele, die zwar HDP-Mitglieder sind, aber weil sie türkische Staatsbürger sind, nicht wahlberechtigt sind. Seit langem wollen wir unsere Arbeit als HDP/HDK auch hier in Österreich intensivieren. Aufgrund der Geschehnisse in der Türkei und in Kurdistan gibt es nahezu jede Woche seitens unserer Mitglieder Demonstrationen. Es ist möglich durch die Teilnahme an diesen Demos oder auch durch das Besuchen unserer Vereinslokale mit uns in Kontakt zu treten und sich untereinander auszutauschen. Denn wenn wir einen Blick auf die österreichischen Medien werfen, kann man bei manchen Nachrichten und Berichterstattungen sehen, dass sie auf ähnliche Art und Weise geschrieben werden, mit der gleichen Rhetorik, wie sie der türkische Staat verwendet. Wir sind der Meinung, dass die in Österreich lebenden Menschen eine breite Palette an unterschiedlichen Informationen aus der Türkei, aus Kurdistan bekommen sollten.

Vor allem sind die Verhandlungen, der Deal zwischen der Türkei und der EU, kritisch zu betrachten. Niemand sollte vergessen und außer Acht lassen, dass all diese Kriege, Repressionen, die vielleicht hunderte, tausende von Kilometern von uns entfernt sind, eines Tages auch uns treffen bzw. hier Auswirkungen haben können. Wenn wir nicht jetzt handeln und international Widerstand leisten, kann es morgen schon zu spät sein. Wie einst Che Guevara gesagt hat, sind wir auch der Meinung, dass die Solidarisierung das Feingefühl der Unterdrückten ist.

Zum Schluss bedanken wir uns noch dafür, dass ihr uns die Möglichkeit gegeben habt, uns hier vorzustellen und einen Überblick über unsere Arbeiten zu geben. Wir hoffen, dass wir eines Tages in der Zukunft auch über schönere Ereignisse in der Welt reden werden.

 

Vielen Dank für das Interview!

 

 

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367