Aus dem gewaltsamen Tod des Sozialamtsleiters in Dornbirn versucht die Regierung und allen voran Innenminister Kickl einen tagespolitischen Mehrwert zu schlagen. Das Bild des »Gefährders« wird wiedermal herangezogen, um die autoritären Umbaupläne von Rechts-, Gerichts- und Kontrollapparaten zu einem vermeintlichen Sicherheitsstaat rassistisch zu ummanteln. Im Kampf für die Einhaltung unserer Verfassung geht es also nicht nur um die Wahrung von BürgerInnenrechten, sondern auch um den Kampf gegen einen rassistischen Polizeistaat.
Von ALFRED J. NOLL
Es bereitet beträchtliche Mühe, in Hinsicht auf die Forderung nach einer »Sicherungsverwahrung« für »gefährliche Ausländer« die Übersicht zu bewahren. Noch schwieriger ist es, die einzelnen Elemente dieser Debatte politisch einzuordnen und sich auf dem reichlich unübersichtlichen Feld zu orientieren. Die gewaltsame Tötung des Sozialamtsleiters in Dornbirn durch einen türkischen Staatsbürger vor einigen Wochen hat die öffentliche Diskussion vornehmlich in eine juristische Richtung gedrängt. Die ganze Problematik wurde auf die Frage verkürzt, ob der Mann – der in Österreich geboren und in die Schule gegangen ist, und über den nach mehrfachen Straftaten ein Aufenthaltsverbot verhängt wurde – vor seiner Tat hätte festgenommen werden dürfen, obwohl er einen Asylantrag gestellt hatte.
Es ist nicht sinnvoll, diese juristische Diskussion an dieser Stelle zu führen. Einerseits kennt niemand von uns den Akt, wir haben nur bruchstückhafte Informationen aus den Medien; andererseits ist die rechtliche Gemengelage von europäischen und nationalen Rechtsvorschriften derart unübersichtlich, dass sich auf knappem Raum kaum darstellen lässt, wie die Rechtslage für diesen Fall wirklich liegt. An der genauen Untersuchung des Falles und an der Notwendigkeit einer lückenlosen Aufklärung aller Umstände führt jedenfalls kein Weg vorbei – und bis zum Abschluss dieser Untersuchungen ist es schlicht unverantwortlich, die erschreckende Untat in Vorarlberg als Anlass für eine gravierende Verfassungsänderung zu nehmen. Was Kickl & Co. derzeit in Aussicht nehmen, die Zulässigkeit einer Inhaftierung von Fremden allein auf der Grundlage einer »Gefährlichkeitsprognose« ohne Straftat, würde jedenfalls den Freiheitsschutz in Österreich gravierend mindern. Es ist wichtig, sich das einleitend ganz deutlich vor Augen zu führen: Sicher, der Staat hat dafür zu sorgen, dass den BürgerInnen maximaler Schutz vor potentiellen Gefährdern zukommt. Selten macht man sich aber klar, was das eigentlich heißt. Gefordert wird damit nämlich, dass der Staat unentwegt und ausnahmslos immer alle anderen BürgerInnen hundertprozentig zu schützen hätte. Das geht aber eben nur dann, wenn er uns alle einsperrt. »Potentiell«, also »denkbar«, sind wir alle »GefährderInnen«. Wir alle sind Menschen, von denen aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass von uns eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen könnte (!). Die Formel für die Präventivhaft lautet also: Es ist »denkbar«, dass etwas »sein könnte« – und genau das soll nun als Rechtsgrund fürs Einsperren von Fremden formuliert werden! Damit würde der Kerngehalt des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung deutlich gemindert.
Das erste Gebot in dieser Diskussion muss also lauten, dass gegenwärtig einfach nicht zweifelsfrei beurteilt werden kann, ob wir unsere Gesetze ändern müssen. Man muss sich dem von der Regierung vorgegebenen Zwang, eine »rasche Antwort« zu finden, zunächst einmal verweigern – zumal derzeit die besseren Gründe insgesamt dafür sprechen, dass eine Verhaftung des Vorarlberger Täters durchaus auch auf der Grundlage bestehender Gesetze möglich gewesen wäre. Und wir müssen uns auch dem Zwang entziehen, diese Diskussion unreflektiert mit der Frage zu vermischen, ob wir in Österreich zu viel Zuwanderung haben.
Das Regierungsinteresse
Warum aber werden von unserer Regierung derartige Anstrengungen unternommen, schon vor der genauen Aufklärung des Falles und noch bevor genau untersucht wurde, ob hier nicht ein gravierendes Behördenversagen vorliegt, eine »Präventivhaft« für »gefährliche Fremde« einzuführen? Es ist offenkundig, dass sich unsere Regierung von einer derartigen Forderung einen tagespolitischen Mehrwert verspricht. Es ist aber zweckmäßig, diese Maßnahme in einen größeren Rahmen zu stellen: Flucht und Migration sind weder naturwüchsige Bewegungen, noch sind sie das bloße Resultat einer Vielzahl voneinander unabhängiger individueller Entscheidungen. Flucht und Migration haben konkrete wirtschaftliche, soziale und politische Ursachen. Einerlei ob es ein Krieg, die politische Unterdrückung oder der Hunger ist, in allen Fällen hat das Elend, das zu massenhafter Flucht und Migration zwingt, »gemachte« Voraussetzungen. Unter den Voraussetzungen einer globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft entsteht kein globalisierter Weltstaat, sondern wir sehen einen wachsenden Widerspruch zwischen den einzelnen Nationalstaaten (die durch Grenzen definiert sind) und den Anforderungen und Auswirkungen globaler Warenströme und der globalen Mobilität von Kapital und Arbeit. Wer die »Migrationsfrage« aus diesem Zusammenhang löst, verfehlt das Thema.
Nationalstaatliche Souveränität erfährt unter diesen Voraussetzungen einen drastischen Wandel. Einerseits verliert sie an Bedeutung, die Nationalstaaten verlieren an wirtschaftlicher und finanzpolitischer Autonomie; andererseits versuchen alle Nationalstaaten, Reste staatlicher Souveränität gerade im Sozial und Sicherheitsbereich zu erhalten. Die daraus resultierenden Verwerfungen, Reibungen und Widersprüche bilden den determinierenden Hintergrund für den staatlichen Umgang mit »Fremden«. Völlig zutreffend schreibt daher Nicholas De Genova davon, dass die »Krise« der Grenzkontrolle und des »Migrationsmanagements« in ihrem Kern als eine Krise der staatlichen Souveränität betrachtet werden muss; und diese »Krise« wird in erster Linie ausgelöst und wiederholt durch verschiedene Manifestationen der autonomen Subjektivität der menschlichen Mobilität selbst.
Was im Wesentlichen ein Moment der nationalstaatlichen Sackgasse ist (die »Krise« einer territorial definierten staatlichen Macht über die grenzüberschreitende Mobilität von Menschen) wird heute umgedeutet, mobilisiert und strategisch als »Flüchtlingskrise« für die Rekonfiguration von Taktiken und Techniken der Grenzpolizei und zur Durchsetzung des Einwanderungs- und des Asylrechts instrumentalisiert. Kein Wunder, dass die Ungleichheit der Grenzpolitiken an »Europas Grenzen« und die heterogene Taktik verschiedener Nationalstaaten bei der Bewältigung der daraus resultierenden »Krise« das Projekt der europäischen Integration und Grenzharmonisierung mit seinen eigenen unvereinbaren Widersprüchen durcheinander gebracht haben.1
Neokoloniale Disziplinierungstechniken
Die Politik Europas gegenüber Fremden steht in der unaufgearbeiteten Tradition von Kolonialismus und Imperialismus. Rassismus, Kriminalisierung und präventive Sicherungspolitik sind elementare Bestandteile gegenwärtiger europäischer Fremdenpolitik. Wir sehen hier die Fortsetzung und Neukonfiguration ehemaliger kolonialer Disziplinierungstechniken. Die Entwicklung und Ausweitung von Gefängnissen wurde international durch den zunehmenden Einsatz von Abschiebung und der gesetzgebenden Befugnisse ergänzt, um die Staatsbürgerschaft zu verweigern und sie denjenigen zu rauben, die über diese verfügen. Es ist der Einsatz, die Anpassung und die Erweiterung von Rechts-, Gerichts- und Kontrollapparaten bei der Verwirklichung dieser Prozesse, die wir sehen können. Die Formen und Details dieser Sicherungspolitik widerspiegeln in vielerlei Hinsicht einen Rechtsstaatlichkeitszustand, der heute weit über die routinemäßige Verwendung der repressiven Rechtsinstrumente des Staates hinausgeht, wie wir ihn in den Beginnphasen des Sicherheitsstaates Anfang der 70er Jahre beobachten konnten. Seit damals können wir in Europa und den USA eine Entwicklung hin zu einem Zustand sehen, in der sich die fortschreitende Nachgiebigkeit des Sicherheitsapparates im Interesse der politischen Notwendigkeiten der stetigen Erosion der Bürgerrechte nähert. Und der Trend hat sich weiterentwickelt: Die privilegierten Ansprüche auf liberale Demokratie, die das bestimmende Merkmal Europas waren, sowie das Zeichen der Kontrastierung und Trennung von (Post-)Kolonialstaaten sind schwach ausgeprägt und unübersichtlich und komplexer geworden. Die räumliche Trennung zwischen europäischem Liberalismus und kolonialem Autoritarismus ist aufgehoben. Die Intensivierung der Sicherungspolitik als Reaktion auf die Produktion rassistisch entmenschlichter Personen hat die autoritären Elemente des Staates aufgedeckt – einen Autoritarismus, der weiterhin intensiviert wird. Die Bedeutung des Krieges gegen den Terrorismus (»War on Terror«) besteht in diesem Zusammenhang darin, dass er diese Beziehung offenkundig macht, indem er als legitimierende ideologische Kraft den Totalitarismus ausdehnt und normalisiert und dabei das Vertrauen des Liberalismus auf seine eigenen autoritären Seiten aufdeckt.
Rassismus und Autoritarismus
Die Diskussion über die Einführung einer »Präventivhaft« für Ausländer läuft vor diesem Hintergrund ab. Vordergründig handelt es sich »nur« um eine bis zu 18 Monaten ausdehnbare Polizeihaft für AusländerInnen aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose ohne Straftat. Diese Beschränkung auf »Fremde« hat aber nichts zu tun mit dem Argument überdurchschnittlicher »Ausländerkriminalität« (die höchste Kriminalität von AusländerInnen in Österreich ist Deutschen und RumänInnen zuzurechnen, dahinter erst kommen NigerianInner, SyrerInnen, TschetschenInnen und AfghanInnen). Es hat vielmehr zu tun mit Rassismus und der Tradition (polizei )bürokratischer Herrschaftsausübung über Fremde; wir sehen im Bestreben, eine »Präventivhaft« für Ausländer einzuführen, die Folgeerscheinung eines europäischen, autoritären Imperialismus – und Rasse und Bürokratie sind nach wie vor zentrale Bestandteile seines zeitgenössischen Ausdrucks. Durch die Schaffung und Verfolgung außergewöhnlicher Räume – ob Standorte der Kolonialzeit, Sklavenplantagen, Gefängnisse in all ihren Variationen oder Konzentrationslager – werden disziplinäre Überwachungs- und Kontrolltechnologien erprobt, getestet und entwickelt. Kickls berüchtigter »Sager«, er wolle eine »konzentrierte Anhaltung« von Asylwerbern, ist kein Ausrutscher – er ist Programm. Die Rechtfertigung für solche Räume und die in ihnen verwendeten Technologien waren durch die Rassendefinition gezielter Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet, die die in dieser oder jener Form markierten Bevölkerungsgruppen abbaut oder ausstößt, ob sie solchen Gruppen mangelnde Zivilisation, einen Status der Nicht-Zugehörigkeit oder der Tendenz zu Kriminalität zuschreiben. Während der Sicherheitsstaat gewachsen und entwickelt wurde, um den Bedürfnissen der aufstrebenden neoliberalen politischen Weltwirtschaft gerecht zu werden, haben sicHinwendung zu und die Erweiterung von Recht und Ordnung als System zur Steuerung der Gesellschaft war ein tief rassistisches Projekt, in dem die Auswirkungen des Wachstums der Sicherheitskräfte des Staates von rassisch marginalisierten Gemeinschaften unverhältnismäßig stark empfunden und abgelehnt wurden (viel deutlicher als in Österreich sehen wir das in den USA, England und Frankreich). Die Manipulation und Aneignung des Gesetzes zur Förderung einer dauerhaften und legitimen Staatsmacht ist ein Schlüsselelement für die Verwirklichung des Autoritarismus. Es ist nicht so sehr, dass das Gesetz ausgesetzt wird, sondern dass die Trennung zwischen den richterlichen und exekutiven Armen des Staates allmählich aufgehoben wird. Justizinstitutionen und -regelungen, die grundsätzlich unabhängig von der Exekutive sind, werden an die wachsende Exekutivgewalt angepasst und umgestaltet. Verwaltung und Bürokratie gehen voran: Auch die »Präventivhaft« soll von der Polizeiverwaltung verfügt werden, und Kickl hat ausdrücklich davon gesprochen, dass er nicht den »Umweg« über Gerichte gehen wolle. Der Kampf gegen die Einführung einer »Präventivhaft« für Ausländer ist deshalb nicht nur ein Kampf um den Erhalt unserer Verfassung (Schutz vor willkürlicher Verhaftung), sondern es ist auch der Kampf gegen die Nachwehen eines kolonialistischen und rassistischen Systems, das zwar auf der Ebene des Völkerrechts und der nationalstaatlichen Befreiung der ehemals kolonialisierten Völker längst Geschichte ist, das aber in den Köpfen vieler Europäer Innen immer noch wie ein Gespenst aus vergangener Zeit sein Unwesen treibt.
Alfred J. Noll, geb. 1960 in Salzburg. Rechtsanwalt in Wien, Univ.-Prof. für Öffentliche Recht und Rechtslehre und seit 2017 Abgeordneter zum Nationalrat (JETZT).
1 Ausführlicher in Nicholas De Genova, »The Crisis of the European border regime: Toward a Marxist theory of borders«, International Socialism 150 (2016), zugänglich unter: http://isj.org.uk/the-crisis-of-the-european-border-regime-towards-a-marxist-theory-of-borders/