Nach der Befreiung Österreichs vom Faschismus im April 1945 wurde eine Provisorische Regierung gebildet, an der die KPÖ als gleichberechtigte Partnerin von SPÖ und ÖVP beteiligt war. Die ersten Gesetzgebungsmaßnahmen der Regierung zielten darauf ab, dem wiedererstandenen Staat rechtliche Grundlagen zu geben. In diesem Zuge wurde auch die Verfassungsfrage aktuell. Im Artikel I der am 27. April 1945 verabschiedeten Unabhängigkeitserklärung war zunächst ganz allgemein von der Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich und ihrer Einrichtung »im Geiste der Verfassung von 1920« die Rede. Demgemäß wären alle weiteren verfassungsrechtlichen Optionen weitgehend offen gewesen, bis hin zu einer verfassungsrechtlichen Verankerung von Neuordnungsplänen. Dennoch wurde bereits am 16. Mai 1945 vom Kabinettsrat das »Verfassungs-Überleitungsgesetz« beschlossen, mit dem die Bundesverfassung des Jahres 1920 in der Fassung von 1929 definitiv in Kraft gesetzt wurde. Mit der raschen Übernahme der alten Verfassung wurde bereits wenige Wochen nach der Befreiung der Verfassungszustand vom 5. März 1933 zementiert. Eine von der KPÖ geforderte breite öffentliche Auseinandersetzung über neue Verfassungsinhalte und die Erweiterung demokratischer Rechte fand ein frühes Ende.
»Neue Demokratie«
Zunächst hatte auch Staatskanzler Karl Renner (SPÖ) die Ausarbeitung einer ganz neuen Verfassung bzw. zumindest die Rückkehr zu den Grundsätzen der Verfassung von 1920 geplant. In einem Mitte April 1945 – vor der Konstituierung der Regierung – verfassten Exposé lehnte er den Gedanken, »es handle sich einfach um Restauration«, also »um Wiederherstellung des Zustandes vor 1933 und 1938«, grundsätzlich ab. Vielmehr gehe es, so Renner, um »die Zukunft, den Aufbau einer neuen Ordnung, die Verwirklichung des Sozialismus«. Ähnlich äußerte sich Renner in seinem Brief an Josef Stalin vom 15. April 1945, in dem er sich für die Befreiung Österreichs durch die Rote Armee bedankte und es als »unfraglich« bezeichnete, dass »die Zukunft des Landes dem Sozialismus« gehöre.
Unter dem Einfluss von Vizekanzler Adolf Schärf, einem führenden Exponenten des rechten SPÖ-Flügels, ging Renner aber rasch von diesen Plänen ab. In Schärfs Augen hätte eine Verfassungsreform der Kommunistischen Partei in die Hände gespielt, die auf ein neues Staatswesen – auf eine »Volksdemokratie« – orientierte. Um einer grundsätzlichen Diskussion über die Weichenstellungen der wiedererstandenen Republik auszuweichen, forcierten SPÖ und ÖVP die rasche Wiederherstellung der alten verfassungsrechtlichen Grundlagen. Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stand für sie im Kabinettsrat nicht mehr zur Diskussion.
Insgesamt spiegeln sich in den Gegensätzen, die in der Verfassungsfrage auftraten, die unterschiedlichen Vorstellungen der politischen Parteien über die künftige Verfasstheit Österreichs. Im Kern ging es darum, ob 1945 nur das »alte« Österreich wiederhergestellt oder ob ein neues Staatswesen geschaffen werden sollte. Die Vorstellungen von SPÖ und ÖVP gingen nicht über die Wiedererrichtung der politischen und sozioökonomischen Strukturen der Jahre vor 1933 hinaus, die nun allerdings auf Klassenzusammenarbeit gestützt sein sollten. Eine Verfassungsdiskussion schätzten sie als unnötiges Risiko ein.
Die KPÖ hingegen forderte eine »neue Demokratie« und eine »wahre demokratische Volksverfassung«, deren Kernstück die Verankerung demokratischer Freiheits- und Grundrechte war. Mit Hinweis auf den ungenügenden Charakter des Staatsgrundgesetzes aus der Zeit der Monarchie sollte ein Grundrechtskatalog – darunter das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung – in die Verfassung selbst eingebaut werden. Zudem sollten die Demokratisierung des Staatsapparats und verfassungsmäßige Garantien gegen Faschismus, Großdeutschtum und Rassismus festgeschrieben werden. »Demokratie bedeutet nicht allein das Bestehen von Parlament und Parlamentarismus. Demokratie ist wirkliche Mitarbeit des Volkes an der Entscheidung und an der Durchführung der wichtigsten Angelegenheiten, die das Volk betreffen«, argumentierte Johann Koplenig als Vorsitzender der KPÖ. Hierfür sei aber der Rahmen der bisherigen Verfassung zu eng. Mit der kommunistischen Forderung nach einer »Wirtschaftsdemokratie« wurden vor allem die verfassungsrechtliche Verankerung der Verstaatlichung und die Mitbestimmung der ArbeiterInnenschaft in den Betrieben angesprochen. Insgesamt ging es darum, die politische Demokratie um wirtschafts- und sozialpolitische Reformen zu ergänzen und dadurch die Kampfbedingungen der ArbeiterInnenbewegung zu stärken.
Autoritärer Führungsstil
Die Wiederinkraftsetzung der Bundesverfassung in der Fassung von 1929 war im Kabinettsrat der Provisorischen Regierung von heftigen Auseinandersetzungen begleitet, die zwei Mal bis hart an die Grenzen des Bruches führten. Als am 13. Mai 1945 das (auf den 1. Mai rückdatierte) »Verfassungs-Überleitungsgesetz« zur Beschlussfassung stand, war dies die erste große Belastungsprobe der Dreiparteienregierung aus SPÖ, ÖVP und KPÖ. Adolf Schärf argumentierte, dass eine Rückkehr zur Verfassung von 1920 deshalb nicht möglich sei, da man sich nicht berechtigt fühlen könne, das Ergebnis einer 14-jährigen demokratischen Entwicklung rückgängig zu machen. Die KPÖ hingegen interpretierte die Verfassung von 1929 als Ausdruck des Niedergangs der Demokratie in der Ersten Republik, da sie unter dem Druck der faschistischen Heimwehr erzwungen worden war und autoritäre Elemente enthielt. Eine »Verfassung des bundespräsidentiellen Notverordnungsrechtes, des Bürokratismus und der Polizeigewalt« könne »nicht die Verfassung des neuen, demokratischen Österreich sein«, so die kommunistische Argumentation.
Staatskanzler Renner weigerte sich jedoch, den kommunistischen Einspruch gegen das Verfassungs-Überleitungsgesetz zu protokollieren und erklärte das Gesetz geradezu handstreichartig für beschlossen. Nach Protesten der kommunistischen Regierungsmitglieder stellte er diesen die Demission anheim, beruhte die Provisorische Regierung doch auf dem Konsensprinzip. Da die demokratische Zusammenarbeit geradezu im Mittelpunkt der kommunistischen Wiederaufbaukonzeption stand und die Einheit des Landes nicht gefährdet werden sollte, konnte ein Ausscheiden aus der Regierung für die KPÖ jedoch keine Option darstellen. Auch bei der Wiederinkraftsetzung der Verfassung der Stadt Wien in der Fassung von 1931 erklärte der Kanzler das Gesetz in autoritärer Manier für beschlossen, obwohl in der vorangegangenen Debatte keine Einstimmigkeit erzielt werden konnte. Im Mittelpunkt dieser Kontroverse über die Neuordnung des Gemeinderechtes stand die Frage des Wirkungsbereichs der Bezirksvorsteher und der Bezirksvertretungen. Die KPÖ trat für erweiterte Kompetenzen der Bezirksebene ein, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sie in Wien zahlreiche Kommunisten als Bezirksbürgermeister eingesetzt worden waren. Renner überging jedoch erneut die kommunistischen Einwände und erklärte das »Wiener Verfassungs-Überleitungsgesetz« für angenommen.
Die Abschlussdiskussion dieser Sitzung des Kabinettsrats am 10. Juli 1945 lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Nach dem Einwand des kommunistischen Unterstaatssekretärs Karl Altmann unterbrach Renner die Debatte mit einer Drohung in Richtung der kommunistischen Regierungsmitglieder, mit der er deren Austritt aus der Regierung in den Raum stellte. Nach Wiederaufnahme der Sitzung stellte er die lakonische Frage, ob sich die Auffassung der Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre mit seiner eigenen decke, die Verfassung der Stadt Wien durch das vorliegende Überleitungsgesetz wieder in Kraft zu setzen, registrierte sogleich Zustimmung und erklärte das Gesetz für angenommen. Den darauffolgenden Einwand des kommunistischen Unterstaatssekretärs Otto Mödlagl, dass es sich dabei »um einen Dreh« handle, wischte Renner mit einer herablassenden Reaktion weg. Noch bevor Mödlagl seinen Einwand begründen konnte, erklärte er die Sitzung kurzerhand für geschlossen.
Zurück in das alte Österreich
Die KPÖ hatte sich im Mai 1945 insgesamt dagegen ausgesprochen, Verfassungsgesetze zu beschließen, sondern nach dem Vorbild von Jugoslawien, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zunächst nur Übergangsbestimmungen zu schaffen. Die endgültige Ausarbeitung und Beschlussfassung einer neuen Verfassung sollte dem erst zu wählenden Parlament vorbehalten sein. Auch die zunächst vom Kabinettsrat beschlossene Wiedereinführung der Verfassung von 1929 betrachtete die Partei nur als ein Provisorium. »Nur wer die entscheidenden Erfahrungen des großen antifaschistischen Befreiungskampfes verschlafen hat, wie die maßgebenden Männer der beiden großen österreichischen Parteien, kann sich mit der unzureichenden vorfaschistischen Verfassung begnügen, die so offensichtlich im Kampf gegen den Faschismus versagt hat«, wurde etwa in der theoretischen Zeitschrift der KPÖ festgehalten.
Nach den Novemberwahlen des Jahres 1945, die für die KPÖ eine herbe Enttäuschung brachten, gelang es aber nicht mehr, die Wiederherstellung des verfassungsrechtlichen Zustands von 1933 aufzuweichen und den Verfassungsdiskurs in Gang zu bringen. So beschloss der neugewählte Nationalrat in seiner ersten Sitzung am 19. Dezember 1945 ohne Debatte ein Verfassungs-Übergangsgesetz, worin die Verfassung von 1929 wieder in vollem Umfang zur Bundesverfassung gemacht wurde.
Der zwischen SPÖ und ÖVP erzielte »Verfassungskompromiss« erwies sich als eine der wichtigsten restaurativen Weichenstellungen des Jahres 1945. Er verdeutlicht auch die frühe Defensive der KPÖ und das Scheitern ihrer Vorstellungen über ein »neues Österreich«. Während in den meisten befreiten Ländern Europas den geänderten politischen Verhältnissen Rechnung getragen wurde und angesichts der faschistischen Erfahrungen neue Verfassungen ausgearbeitet wurden, war die Verfassungsdiskussion in Österreich bereits im Sommer 1945 beendet bzw. hatte im Grunde nie stattgefunden: Über den Kabinettsrat hinaus hatte sie kein Forum gefunden, eine öffentliche Auseinandersetzung über neue Verfassungsinhalte fand nicht statt.
Ein kurzes Nachspiel erlebte die Verfassungsdiskussion im April/Mai 1946, nachdem das Verfassungs-Übergangsgesetz aufgrund des Einspruchs der sowjetischen Besatzungsmacht nicht die Zustimmung des Alliierten Rates erhalten hatte. Unter den Alliierten herrschte zwar zunächst Einigkeit über die Ablehnung der Verfassung von 1929; deren Auftrag an die österreichische Regierung, bis 1. Juli 1946, also binnen kurzer Frist, eine vollständig neue, zeitgemäße Verfassung auszuarbeiten, wurde von dieser jedoch nicht erfüllt. Als das Verfassungs-Übergangsgesetz am 12. April 1946 vom Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP und SPÖ bekräftigt wurde, wertete dies Ernst Fischer, der Hauptsprecher der KPÖ in Verfassungsfragen, als ein Zurück »in das alte Österreich, [...] in das Österreich der sterbenden Demokratie«. Die Forderung der KPÖ, eine neue, »wahrhaft demokratische« Verfassung auszuarbeiten, blieb ohne parlamentarischen Widerhall. Da in weiterer Folge bei den Alliierten keine Einigkeit mehr über die Frage einer neuen Verfassung bestand, wurden der sowjetische Einspruch und die gesamte Verfassungsfrage schließlich innenpolitisch bedeutungslos.
Während etwa in Deutschland eine Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung stattfand und in Frankreich und Italien auf Betreiben der kommunistischen Parteien grundlegende demokratische Prinzipien in den neuen Verfassungen verankert wurden, konnte Adolf Schärf in seinem 1950 erschienenen Erinnerungsbuch erleichtert feststellen, dass Österreich Verfassungskämpfe erspart geblieben waren. Letztlich hatte die fehlende Verfassungsdiskussion der Jahre 1945/46 zu Folge, dass aus der autoritären Verfassungsnovelle des Jahres 1929 ein bis heute währender Dauerzustand wurde.