Putins Reden haben sich in den letzten 20 Jahren nur scheinbar verändert. Diana Leah Mosser hat am Anfang und am Ende hingehört und fragt sich, von welcher Ideologie der russische Krieg getrieben wird.
Am 25. September 2001 hielt der junge Wladimir Putin als erstes russisches Staatsoberhaupt eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. In dieser über weite Strecken auf Deutsch gehaltenen Rede beschrieb Putin den Niedergang der UdSSR als Folge der Entwicklung der Informationsgesellschaft und meinte, man könne nun behaupten, dass »niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann«. Der Geist der Ideen von Demokratie und Freiheit hätte die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung ergriffen, und die totalitäre stalinistische Ideologie könne diesem Geist nicht mehr gerecht werden.
Das Ziel von Putins Rede war klar: ein Vertiefen der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Es klang auch an, welche Beziehungen ihm dabei ein Hindernis zu sein schienen, etwa als er ausführte: »Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.«
Die transatlantische Orientierung der europäischen Wirtschafts- und Geopolitik scheint der russischen Politik bereits damals ein Dorn im Auge gewesen zu sein.
Putin beschrieb Russland als friedlich gesinntes, europäisches Land und nannte den stabilen Frieden als Hauptziel. Um einen »großen Mangel an objektiver Information über Russland« zu beheben, informierte er den Deutschen Bundestag darüber, dass das »Hauptziel der Innenpolitik Russlands […] vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes« sei. Von der Verwirklichung dieser Hauptziele war allerdings schon in den Jahren unmittelbar nach dieser Rede nicht viel zu merken.
Gescheiterter Frieden
Man möchte fragen, was passiert ist, dass die Putin-Administration diese Hauptziele nicht nur verfehlt hat oder untergräbt, sondern sie mit brutaler Gewalt attackiert und – im Wortsinn – zerschießt. Jahrzehntelang bestand eine große Angst meiner Eltern (als Kind der 60er hat mein Vater 1978 den Wehrdienst absolviert) darin, dass Russland in Österreich, Deutschland und dem Rest Europas einfallen könnte. Die Worte des russischen Staatspräsidenten im neuen Millennium müssen eine Erleichterung gewesen sein. Aber jetzt?
Hat Putin die Europäer*innen von Anfang an getäuscht und belogen? Ist Europa auf »den Russen« hereingefallen? Liegt die große Errungenschaft der »beispiellos niedrigen Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region« (wie auch in Putins Rede zu hören war) gar nicht im dadurch erreichten Frieden, sondern in der schleichenden Entwaffnung der Europäischen Gemeinschaft? Sind das die Ängste, die unter führenden Politiker*innen und Journalist*innen nun zu einer besonders aufgeheizten Stimmung führen? Die Angst, dass man es hätte wissen müssen?
Aus meiner Sicht gibt es keinen Hinweis darauf, dass der ehemalige KGB-Agent sein Amt mit Kriegsplänen in der Tasche angetreten hätte. Selbst wenn ich mich nur sehr dunkel an die ersten Jahre seiner Amtszeit
erinnern kann: Ich sah von Anfang an keinen Grund, ihm zu trauen. Hat er nicht immer wie ein Autokrat gewirkt? Da war der Tschetschenien-Krieg. Dann der Einsatz im Dubrowka-Theater. Irgendwann habe ich aufgehört, Putin zuzuhören, weil er mir Angst machte.
Die letzte Rede
Erst nach dem Kriegsausbruch hörte ich wieder genauer hin bzw. las seine Rede an die Nation vom 21. Februar 2022. Dort beschreibt er die Ukraine als integralen Bestandteil der eigenen Geschichte, der russischen Kultur und des »geistigen Raums« Russlands. Ein Narrativ, das Putin bereits im Juli 2021 in einem Essay »zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern« bedient hat. Unter ständigem Verweis darauf, dass man niemandem die Geschichte erklären müsse, weil sie so offensichtlich sei, gibt er einen sehr langen Einblick, wie er die ukrainische Geschichte sieht. Weltweit wurde kolportiert, dass Putin in dieser Rede das Existenzrecht der ukrainischen Nation geleugnet habe. Dass sich seine Suada allerdings über weit mehr als dreißig Absätze erstreckte, ist eine Dimension, die in keinem Nachrichtenüberblick Platz fand. Putin sprach wie ein Familienoberhaupt, das den Angehörigen erklärt, warum man seine Familie schlagen müsse – niemand will hinhören, weil allen klar ist, dass dieses Arschloch einfach tut, was es für richtig hält. Aber anscheinend sind die Ausführungen ein Element der Selbstbestätigung, ein Teil der Züchtigung als Machbeweis. Eine Mischung aus Geschichtsklitterung und Gaslighting.
Heilige Allianz
Vielleicht mag es keine Anzeichen dafür geben, dass Putin sein Amt bereits mit dem Vorhaben angetreten hat, Russland zu vergrößern. Allerdings fallen seit 2008 Ideologen aus seinem Umfeld immer öfter mit invasorischen Ideen auf, die Putins Politik unterfüttern. Spätestens ab 2014 wurden Behauptungen lauter, dass Alexander Dugin – ein Ideologe, auf den sich damals sowohl Identitären-Chef Martin Sellner als auch HC Strache, später auch Jürgen Elsässer, positiv bezogen – ein wesentlicher Wortgeber Putins sei. Manche erinnern sich vielleicht an die Pressekonferenz der »heiligen Allianz«: Ende Mai 2014 trafen sich hier Alexander Dugin, Heinz Christian Strache, Marion Marechal-Le Pen und andere Rechtsradikale im Palais Liechtenstein, wo Dugin ein europäisch-asiatisches Bündnis unter Führung Russlands bewarb.
Le Monde diplomatique vom 12. Juni 2014 beschreibt Dugins Ideologie vom Neo-Eurasismus als »transkontinentale Allianz der ›Traditionen‹ – bei aller Anerkennung der Unterschiede. Das ›Große Europa‹ darf dieser Allianz beitreten, nachdem es sich von der amerikanischen Bevormundung befreit hat.« Dugins Neo-Eurasismus ist anschlussfähig an die Ideen der neuen Rechten in Europa, enthält aber auch Elemente der deutschen Konservativen Revolution, die zumindest öffentlich nicht als Versatzstücke neofaschistischer Ideologie bekannt sind. Im Buch »Eurasien über alles« schreibt Dugin: »Das eurasische Ideal ist der mächtige, leidenschaftliche, gesunde und schöne Mensch, und nicht der Kokainsüchtige, der Bastard aus weltlichen Diskos, der asoziale Kriminelle oder die Prostituierte.« So richtig ernst wurde Dugin allerdings nie genommen. Man war nur immer aufs Neue überrascht, wenn einmal sein Name in einer Hintergrundanalyse auftauchte.
Geht man davon aus, dass Putin die Dinge, die er in seinen Ansprachen sagt, nicht nur instrumentalisiert, sondern auch glaubt, dann wäre er der mächtigste Vertreter des Neo-Eurasismus.
Seit wann Putin Ideen von Alexander Dugin aufgreift, lässt sich nicht wirklich beantworten. Bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2001 äußerte er sich aber zur europäischen Sicherheitspolitik mit folgenden Worten: »Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich.«
Wir sollten Putin kein Vertrauen mehr schenken. In den unzähligen Analysen zu möglichen russischen Plänen in der Ukraine versuchen wir oft wirtschaftliche und geopolitische Interessen nachzuvollziehen. Während wir uns über den kapitalistischen und neokolonialen Hintergrund von NATO-Einsätzen und Erweiterungen einig sind, fällt uns die ideologische Einordnung russischer Expansion immer noch schwer.