Ein literarischer Essay von Eva Schörkhuber mit Illustrationen von Paulina Molnar
Vorgeschichten
Meine erste Fahrt nach Klagenfurt/ Celovec seit vier Jahren: Das letzte Mal bin ich auf der Durchreise nach Slowenien, Kroatien und Bosnien/Herzegowina hier gewesen. Die Städte Jajce und Sarajevo waren damals das Ziel, wobei, wenn eine sich entscheidet, nicht in das Flugzeug zu steigen, sondern auf Land- und Seewegen zu reisen, immer auch der Weg ein Ziel ist.
Das vorletzte Mal war ich vor mehr als dreißig Jahren hier: ein Stadtausflug vom Klopeinersee aus unternommen. Vom Lindwurm und von Mini-Mundus, davon gibt es Fotos: Wir, meine Mutter, mein Opa, mein Bruder und ich, stehen vor dem Mini-Eiffelturm, vor dem Mini-Atomium und auf dem Mini-Golfplatz. Die meisten Fotos hat mein Vater gemacht, mit einer silber-schwarzen Nikon, die ich mir Jahre später ausleihen durfte, um Dias auf meinen Reisen zu machen. Dass Fotografie eine Art und Weise ist, mit Licht zu schreiben, gefällt mir noch heute.
Mein Großvater, pensionierter Mathematik-Professor an der HTL in Steyr, hat mit mir während dieser Kärnten/Koroška-Urlaube immer gerechnet: Ich habe ihn im Kopfrechnen gegen meine Rechenspielmaschine, den »Kleinen Professor«, der, wenn eine Rechenaufgabe gelöst wurde, fröhlich mit dem Schnurrbart gewackelt hat, antreten lassen. Meistens hat der große Professor gewonnen.
Mäh-Opa habe ich den großen Professor genannt: Als ich zwei oder drei Jahre alt war, ist er oft mit mir zu den Schafen gegangen, die in einem Gehege neben der Donau grasten. Bei jedem Spaziergang habe ich befürchtet und doch insgeheim gehofft, dass eines der Schafe blöken würde. Wohliges Schaudern an der Hand eines Menschen, dem ich mein vollstes Vertrauen schenkte.
Dieser Großvater wurde am 23. November 1920 geboren, am selben Tag wie Paul Celan. Zwei Leben, die gleichzeitig ihren Ausgang genommen haben und so unterschiedlich verlaufen sind.
Eine der Lieblingsgeschichten meines Großvaters war, wie der Kater seiner Familie sich im Winter ins Vogelhaus gesetzt und darauf gewartet hat, dass ihm die hungrigen Vögel ins Maul fliegen. Der schlaue Kater Gucki.
Mein Großvater war in Reichraming, in der Nähe von Steyr, aufgewachsen. Er hatte drei Brüder. Seine Mutter, meine Uroma, war stolz darauf, dass ihr von den Nationalsozialisten das Mutterkreuz verliehen wurde. Ihren Lieblingssohn, meinen Großonkel, habe ich nie kennengelernt. Er ist im Zweiten Weltkrieg umgekommen.
Paul Celan war in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, aufgewachsen. Er hatte keine Geschwister. Seine Eltern wurden im Zwangsarbeitslager Michailowka von den Nationalsozialisten ermordet. Auch er musste Zwangsarbeit verrichten. Nach der Befreiung durch die Rote Armee kehrte er nach Czernowitz zurück.
Mein Großvater wurde am Ende seiner Schulzeit, kurz vor der Matura, zur Wehrmacht eingezogen. Dass er dem Marschbefehl nach Russland nicht nachkam, lag daran, dass sein Pferd ausschlug und seine Kniescheibe zertrümmerte. Zeit seines Lebens hatte er Probleme mit seinem Knie und Zeit seines Lebens liebte er Pferde. Meine Reitstunden als Kind hat er mir geschenkt.
Paul Celan ging 1945 nach Bukarest, um sein Studium fortzusetzen. Zwei Jahre später floh er über Ungarn nach Wien, wo er Ingeborg Bachmann kennenlernte. Er übersiedelte Ende der 1940er Jahre nach Paris. 1970 nahm er sich dort das Leben.
Perspektivische Erweiterungen
Edith Bernhofer hat mich auf meinen Aufenthalt als author@musil gut vorbereitet. Ich weiß, wo ich arbeiten, wo ich wohnen werde und fühle mich sehr willkommen.
Das Musil-Haus liegt gegenüber des Bahnhofs. Es gehört zu den ersten Gebäuden, die ich bei meiner Ankunft sehe: Das schöne alte Haus mit der orange getünchten Fassade, die weiß-grau schattierten Bilder von Ingeborg Bachmann, Christine Lavant und Robert Musil.
Ingeborg Bachmann ist seit vielen Jahre eine literarische Gefährtin. Das letzte Mal habe ich mich länger mit ihrem 30. Jahr beschäftigt, als ich einen Essay für die Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben verfasst habe. Der Essay trägt den Titel »Das ikste Jahr« und ist in der Nummer 4 zum Thema »alter« 2018 erschienen.
Christine Lavant bin ich erst vor einigen Jahren begegnet: Zunächst über eines der Klangbücher vom Mandelbaum Verlag. Ihr Wechselbälgchen wurde von Sophie Rois eingesprochen und von Franz Hautzinger, Matthias Loibner und Peter Rosmanith vertont. Ihre gesammelten Gedichte sind kurze Zeit später in meine Bibliothek eingezogen.
Robert Musils Mann ohne Eigenschaften ist während meines Germanistikstudiums aufgetaucht, in stundenlangen Erörterungen innerhalb und außerhalb der Seminarräume das berühmte Heimwegkapitel:
»Wohl dem, der sagen kann ›als‹, ›ehe‹ und ›nachdem‹! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömenden Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste ›perspektivische Verkürzung des Verstandes‹ nicht schon zum Leben selbst gehörte.«
Es ist nicht nur »der Roman«, der sich diese »perspektivische Verkürzung des Verstandes« »künstlich zunutze gemacht hat«: Jede Erzählung, die ein singuläres Ereignis als Auslöser einer kausalchronologischen Abfolge setzt, jede narrative Konstruktion von etwas Ursprünglichem stellt eine Verkürzung dar, die mit gewissen Ab-Sichten vorgenommen wird. Oft blenden diese Ab-Sichten die Komplexität von Geschichte aus und dienen dem Erhalt des Status Quo: sie bestätigen die vorherrschende Ordnung. Das gilt insbesondere für nationale Gründungserzählungen. Es ist kein Zufall, dass sich Ulrich, während er diese Überlegungen anstellt, auf dem HEIM-weg befindet.
Die »verbohrten Heimaterer« und die »Heimatfinstler« nennt der Pokržnikov Luka in seinem Tagebuch auch jene Zeitgenossen, die ihren Heimatdienst im Zeichen kärntner Deutschtümelei verrichten. Janko Messner hat seine für die Zeitschrift Kladivo verfassten politischen Glossen zu einem Buch versammelt, das in der aus dem Bleiburger Slowenischen übersetzten deutschsprachigen Ausgabe Aus dem Tagebuch des Pokržnikov Luka heißt: Dieses Buch zählt zu den ersten neuen literarischen Begleiter:innen hier in Klagenfurt/Celovec.
Wege durch die Stadt
Am 10. Oktober 2020 bin ich eine gute Woche hier. Der 100. Jahrestag der Volksabstimmung, bei der sich eine Mehrheit der damaligen Bevölkerung in Kärnten/Koroška für einen Verbleib bei der Ersten Republik Österreich ausgesprochen hat, wird begangen. In der Stadt sind überall CarinthJA-Transparente zu sehen, die meisten einsprachig; einige Kärnten Flaggen hängen aus Fenstern von Privathäusern und Gaststätten. Der Jahrestag soll im Zeichen eines Brückenschlags zwischen der slowenischsprachigen und der deutsch sprachigen Bevölkerung stehen, und ich frage mich, warum stets von den über viele Jahrzehnte hinweg Verfolgten, Stigmatisierten und Ausgegrenzten erwartet wird, dass sie eines schönen Tages über all das hinwegsehen, was ihnen, ihren Familien, ihren Genoss:innen und Freund:innen angetan wurde, und sich versöhnlich zeigen. Als trügen die Opfer nationalistischer Gewalt Mitschuld an dem, was ihnen eine Mehrheit, die mit staatlicher Verfügungsgewalt ausgestattet ist, zufügt.
Ich mache mich gemeinsam mit in etwa hundert anderen auf den Weg, um für einen antifaschistischen Konsens in Kärnten/Koroška einzutreten. Wir versammeln uns am Vorplatz des Bahnhofs und ziehen über die Bahnhofstraße vorbei an der Parteizentrale des BZÖ, überqueren den Viktringer Ringer, passieren das Amt der Landesregierung und biegen in die Mießtalerstraße ein. Einmal ums Eck und wir stehen am Domplatz, vor dem großen Marmorblock, in den gemeißelt steht, dass es die Opfer der Partisan:innen sind, an die erinnert werden soll. Schräg gegenüber, in der Karfreitstraße, hat der kärntner Abwehrkämpferbund sein Quartier.
Die Oktobersonne verfängt sich in der gläsernen Fassade am Domplatz, bricht sich, streut sich, wirft Lichtsprenkel auf das Steinpflaster, auf die Köpfe und Schultern der Passant:innen. Haare flammen auf, getönte Augengläser spielen alle Farben. Ein Sonnenstrahl fädelt eine Scheibe aus der Fassade, lässt sie über den Platz schweben. Vor dem Marmorblock setzt er sie ab. Im Widerspiegel beginnt der Stein zu zittern. Die Inschrift zerfließt, dunkle Lachen bilden sich am Boden. Im Spiegel flackert das Bild von zwei Frauen, ihre Blicke sind entschlossen. Eine trägt ein Gewehr und eine Mütze mit einem roten Stern. Die Hügel und Wälder im Hintergrund sind blau. »Smrt fašizmu« steht nun in großen weißen Buchstaben auf dem Marmorblock. Ob sich alle daran erinnern werden, dass es der Faschismus ist, den wir bekämpfen wollen?
Wir ziehen weiter, biegen von der Karfreitstraße in die Lidmanskygasse und schließlich in die 10. Oktober Straße. Dort werden wir von einer Gruppe Männer angepöbelt, einer streckt die rechte Hand nach oben. Es sind selbst ernannte Mehrheits-Kärntner, die ihre Überlegenheit demonstrieren wollen. Immer wieder müssen sie sich selbst beweisen, dass sie stark und überlegen sind: Ahnen sie, dass ihre vorgestellte Überlegenheits-Gemeinschaft auf nichts anderem gründet als auf einer Illusion, die nur so lange Bestand hat, so lange viele daran glauben? Haben sie Angst aus einem vagen Schuldgefühl heraus? Ist es die Angst vor sich selbst, die Angst vor dem Anderen, das im auf Biegen und Brechen behaupteten Selbst schlummert?
Durch die 10. Oktober Straße weht plötzlich ein anderer Wind. Er rüttelt an den Mützen, saust um die Ecken, wirbelt Blätter auf. Die Straßenschilder an den Häuserwänden beginnen zu klappern. Wie blecherne Zähne schlagen sie auf Stein, nagen an den Fassaden. Das Scheppern ist ohrenbetäubend. Alle halten sich die Ohren zu und schließen die Augen. Mit der Stille, die einsetzt, hat die Straße ihren Namen geändert: Partizanska Cesta steht nun auf den blauen Schildern, die in der Herbstsonne glänzen. Ob sich alle daran erinnern werden, dass es die Partisan:innen waren, die den Faschismus und den Nationalsozialismus bekämpft haben?
Durch die Partizanska Cesta geht es weiter. Wir biegen in die 8.-Mai-Straße, von dieser aus wieder in die Karfreitstraße, überqueren die Paradeisergasse und den Neuen Platz. Wir stehen am Arthur-Lemisch-Platz. Arthur Lemisch war ein Verfechter einer deutschnationalen Eigenständigkeit, Vergeltung wollte er an jenen üben, die den »heiligen Frieden unserer Heimat schändeten«.
Der Platz ächzt und stöhnt unter der Last der Geschichte. Viel zu lange schon wird ihm die Losung »Ehre Freiheit Vaterland« ins Pflaster gehämmert, nicht nur unter den Schritten der Tauriska-Burschen zu Klagenfurt. Er hat genug davon und bäumt sich auf. Unter den wankenden Beinen der Passantinnen und Passanten wölbt sich das Pflaster, die Häuserfluchten stürzen aufeinander ein und bilden Schalltrichter, aus denen es an allen Ecken und Enden tönt: »Platz des antifaschistischen Widerstandes«. Ob alle verstanden haben, dass es der Kampf gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus ist, der in dieser Stadt seinen Platz haben soll?
Über den Platz des antifaschistischen Widerstandes gehen wir weiter am Wörtherseemandl vorbei in die Kramergasse, die in den Alten Platz mündet. Wir überqueren den Alten Platz und biegen ein in den Landhaushof mit seinen schönen Arkaden. Im rechten Eck befindet sich die Stätte der Kärntner Einheit.
Über die Stätte der Kärntner Einheit zieht eine dunkle Wolke. Sie bauscht sich auf und senkt sich auf die Säulen herab. Ein flirrender Baldachin wirft seinen Schatten auf die Marmorplatten und auf das gusseiserne Kreuz. Die Flügelschläge tausender Finken wirbeln Luft auf. Die umherstehenden Menschen greifen sich an die Köpfe, halten ihre Kappen und Hüte fest. Sie trauen ihren Augen nicht: Das gusseiserne Kreuz löst sich von der Marmorplatte, fliegt auf und beginnt sich um die eigene Achse zu drehen. Immer schneller kreist es um sich selbst, ein wilder Kreisel, der durch die Luft zischt. Die Buchstaben, die sich zuvor noch zum Kärntner Freiheitskampf gefügt haben, brechen aus. Auf den Marmorplatten klirren sie wie Groschen, die fallen. Das Kreuz ist immer noch ein wirbelndes Blatt, das sich durch die Marmorsäulen fräst. Die Freiheit, die Begegnung, die Einheit und der Frieden stehen nicht mehr stramm. Sie teilen sich und nehmen unterschiedliche Formen an. Alle können Freiheit, Begegnung, Einheit und Frieden nun in die eigenen Hände nehmen, alle können nun mit ihnen etwas anfangen, das nicht ein gusseisernes Kreuz flankieren muss. Um das aufgewirbelte Tatzenkreuz kümmern sich die Vögel: Sie nehmen es in ihre Mitte und ziehen von dannen damit.
Eine Hör-Version dieses Essays ist unter d. Link abrufbar:
www.aau.at/musil/aktuelles/ authormusil/ authormusil-2020-eva-schoerkhuber