Sowohl von den politischen Eliten als auch von den betroffenen Menschen als PatientInnen selbst wird immer wieder von der Zweiklassenmedizin gesprochen. Tagtäglich kann nachvollzogen werden, wie sich diese simple Sprachschablone in der österreichischen Wirklichkeit abbildet. Die Betroffenen und die vermögenden Eliten teilen gemeinsam das Wissen davon, dass die gleichberechtigte Teilhabe an qualitativer Gesundheits- und Krankenversorgung ein Ziel ist, das bis dato noch nicht realisiert werden konnte.
Ökonomische und strukturelle Ursache haben dies stets verhindert. Vor allem die Ungleichverteilung von privaten finanziellen Ressourcen führt zunehmend zum Ergebnis, dass einige sich modernere Behandlungsangebote leisten und Wartezeiten auf zeitgerechte Therapien minimieren können. Die privaten Krankenversicherungen entziehen den Pflichtversicherten den Zugang zu Krankenbetten, zu SpitzenärztInnen und bester Pflege und Betreuung. Sie unterstützen den Trend, dass man nur dann gut betreut wird, wenn man dafür anständig zahlt. Selbstbehalte bei Medikamenten, Pflegeartikel und steigende Selbstkostenbeiträge bei der Altenbetreuung verursachen für Menschen mit niedrigen Pensionen den Ausschluss von der gleichberechtigten Teilhabe am Gesundheitssystem. Die verschärften budgetpolitischen Vorgaben und der nachweisbare Mangel an Fachkräften hat dazu geführt, dass notwendige Leistungen entweder nicht mehr wohnortnah erbracht werden oder unzumutbar lange Wartezeiten in Kauf genommen werden müssen. Nicht selten verursacht dies eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes.
Gleichzeitig verspricht man sich durch Auslagerung bisher krankenhausinterner Dienste an private AnbieterInnen höhere wirtschaftliche Effizienz und Einsparung von Kosten, die oft genug den gegenteiligen Effekt haben. Diese Effizienzsteigerungen stehen in zunehmend krassen Widerspruch zu den objektiven Bedürfnissen der PatientInnen und dem Wunsch der Betreuenden nach qualitativ hochwertiger Betreuung. Effektive und menschengerechte Behandlungsstrukturen werden ausgedünnt, zurecht gestutzt oder in »Gesundheitsfabriken« zentralisiert. Gerade bei der medizinischen Betreuung von Menschen dürfen Effektivitätsstandards aber nicht durch Effizienzüberlegungen relativiert werden. Die BürgerInnen benötigen neben den GesundheitsökonomInnen auch die StrukturentwicklerInnen, die die Bedürfnisse der Menschen kennen und diese wirkmächtig in die Planungen einbringen.
»Strukturelle Gewalt ist die objektiv vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse und des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.«
Die Definition des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung von struktureller Gewalt verzichtet auf die Voraussetzung, dass eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss. Wenn aber Klassenmedizin tatsächlich von so vielen Menschen subjektiv als Beeinträchtigung erlebt wird, ist es unsere Pflicht hier von Gewalt zu sprechen. Und es ist an der Zeit, für das zu kämpfen, was potentiell möglich ist!