Nachträglich zu G. W. F. Hegels Geburtstag
VON LINDA LILITH OBERMAYR
»Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirklich Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden.« (Hegel, PdG)
Das Problem einer Würdigung anlässlich des 250. Geburtstags Hegels ist die Position, in die sich die/der Würdigende dabei unweigerlich begibt. Es ist die Position der Überlegenheit, von der herab die/der Würdigende »souverän dem Toten seine Stelle zuweis[t]« im Hinblick auf dessen Bedeutung, das heißt dessen Funktion für die Gegenwart. So würde die Gegenwart als Maß der Hegelschen Philosophie genommen werden, statt das Verhältnis umzukehren und zu fragen, »was die Gegenwart vor Hegel bedeutet«.
So möchte ich im vorliegenden Artikel auch nicht davon schreiben, was wir – als die fragwürdige Gemeinschaft von ZeitgenossInnen – von Hegel lernen oder gar welchen Aspekten des Hegelschen Denkens wir Aktualität abgewinnen können. Statt mich auf diese Weise über die Sache zu stellen, möchte ich mich in die Sache selbst begeben.
»Das Wahre ist das Ganze«
Es ist jedoch alles andere als einfach, einen Aspekt des Hegelschen Denkens, etwa einen einzelnen Gedanken darzustellen. Das liegt nicht an der Sprache der Hegelschen Philosophie. Die Schwierigkeit liegt in der Sache selbst und zwar in dem Sinne, dass einzelne Gedanken dem Hegelschen Denken insgesamt zuwiderlaufen. Denn der Versuch, einen solchen einzelnen Gedanken zu referieren, hält den Gedanken einerseits als abgeschlossen, starr, unbewegt fest und andererseits fasst er den Gedanken ohne Bezug zu seiner Entwicklung. Denken ist für Hegel aber immer nur als Prozess, einzelne Gedanken sind Momente der Denkbewegung als Ganze oder als Geschichte.
Das Jetzt der Sinnlichen Gewissheit
Ich möchte also versuchen, einen solchen einzelnen Gedanken in seiner Bewegung vorzustellen, der zugleich für das Hegelsche Denken insgesamt charakteristisch ist. Dieser Gedanke bringt Jetzt auf den Begriff. Jetzt beansprucht unmittelbare Wahrheit, denn Jetzt ist eben jetzt, weil jetzt Jetzt ist. Sehen wir uns Jetzt näher an, so entschwindet es im selben Augenblick. Immer dann, wenn wir Jetzt begrifflich fassen wollen, ist es nicht mehr, da jetzt nicht mehr Jetzt ist.
Bestimmen wir etwa nachts, dass Jetzt Nacht ist, so verkehrt es mit den ersten Sonnstrahlen seine Wahrheit: Jetzt ist Tag. Jetzt kann also nicht jetzt sein. Aber auch die Bestimmung, dass Jetzt nicht jetzt, sondern gewesen ist, ist falsch: denn das Gewesene ist ja nicht. Jetzt ist folglich nicht jetzt, aber auch nicht nicht jetzt. Formallogisch stehen wir an diesem Punkt vor einem Widerspruch: Wie soll etwas sein und gleichzeitig nicht sein oder anders gefragt, wie sind diese beiden Widersprüche zusammenzudenken? Das Problem stellt sich nur dann, wenn die beiden sich widersprechenden Gedanken als solche festgehalten, wenn sie also nicht in der Bewegung gefasst werden.
Der Springpunkt liegt aber genau in dieser Erfahrung der Widersprüchlichkeit bzw. der Negativität. Die Einsicht, dass Jetzt nicht jetzt ist, sondern gewesen ist, ist die Aufhebung/Negation der ersten Wahrheit, von der wir ausgegangen sind: die Unmittelbarkeit dessen, dass Jetzt jetzt ist. Die Einsicht, dass Jetzt aber auch nicht gewesen ist, da Gewesenes nicht ist, ist die Aufhebung/Negation genau dieser zweiten Wahrheit: dass Jetzt gewesen ist. Diese doppelte Negation – die Negation der ersten Negation – führt uns zurück zum Anfangspunkt: Wenn Jetzt nicht gewesen ist, dann ist es jetzt. Aber dieses letzte Jetzt ist nicht einfach die tautologische Wiederholung des anfänglichen Jetzt, sondern trägt seine Geschichte in sich. Hegel schreibt: »Es [das letzte Jetzt] ist eben ein in sich Reflektiertes oder Einfaches, welches im Anderssein bleibt, was es ist: Ein Jetzt, welches absolut viele Jetzt ist«.
Wir machen also die Erfahrung, dass Jetzt nicht positiv durch irgendeine Zuschreibung bestimmbar ist – Jetzt ist Tag oder Nacht –, sondern sich negativ bestimmt bzw. negativ vermittelt ist. Jetzt ist genau dadurch bestimmt, dass es weder Tag noch Nacht, oder allgemeiner formuliert, dass es Anderes nicht ist.
Das Hegelsche Denken als implizite Ideologiekritik
Hegel denkt die Unmittelbarkeit in ihrer Vermittlung und die Identität in ihrer Widersprüchlichkeit. Das ist nicht einfach ein theoretisches Unterfangen, sondern ist mit einem spezifisch praktischen Weltbezug verbunden. Denn die unmittelbare Wirklichkeit wird nicht einfach als geschichtliche – also in ihrer Vermittlung – entlarvt, so als wäre sie ein bloßer Schein. Die unmittelbare Wirklichkeit ist nicht nur eine scheinbare Unmittelbarkeit, sondern wird als diese scheinbare Unmittelbarkeit in ihrer wirklichen Vermittlung begriffen. Das impliziert einen ideologiekritischen Gestus gegenüber der Welt, der die Unmittelbarkeit als wahr und falsch zugleich fasst und den (gesellschaftlichen) Widersprüchen der Welt nicht versöhnend begegnet. Denn die Erkenntnis über einen Gegenstand entspringt, wie wir bei Jetzt gesehen haben, der Radikalisierung, nicht aber der Aufhebung seiner Widersprüchlichkeit.
LITERATUR:
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974.