Durch die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Corona-Virus erfährt die österreichische Gesellschaft zum ersten Mal seit langer Zeit einen tiefgreifenden Wandel. Mit solchen Schocks kennt sich die Kunst gut aus, und nur mit ihrer Hilfe ließe sich die Krise sinnvoll gestalten. Es sieht leider nicht danach aus.
VON FRANK JÖDICKE
Kurt Waldheim hatte die Angewohnheit, früh aufzustehen und zunächst ganz heiß und dann ganz kalt zu duschen. Andreas Khol sagte ähnliches von sich und damit wäre ausreichend belegt, dass der österreichische Konservativismus ein vegetatives Phänomen ist. Ziel ist es, das sich nachts im »Schlaf der Gerechten« befindliche Bewusstsein am möglichst frühen Morgen in die österreichische Alltagsrealität hinein zu foltern. Damit es dann frisch rasiert am Frühstückstisch sitzen kann, um das Frühstücksei zu genießen, das genauso wie der eigene Geist durch heißes und kaltes Wasser »abgeschreckt« wurde.
Warum ist dies anscheinend nötig? Vermutlich, weil der Alltag nach Betäubung und Folter verlangt. Zugleich erscheint das Immer-Gleiche und zu gering die Hoffnung auf irgendeinen Wandel, der insgeheim auch nicht gewünscht wird. Eine vegetative Existenz fühlt sich dann am wohlsten, wenn alle Fluchttunnel fest verstopft sind. Die Frage danach, ob es irgendwo oder irgendwann etwas Anderes hätte geben können, erübrigt sich so, und die eigene Höhle darf von ganzem Herzen geliebt werden. Aber dann kam das Virus.
Das Veto des Virus
Zum ersten Mal in ihrem Leben haben viele Menschen eine gesellschaftliche Änderung erlebt. Übrigens erleben sie keinen »Ausnahmezustand«, denn alles wird in Österreich vom Epidemie-Gesetz geregelt. Der Staat funktioniert lediglich nach einem etwas anderen Rule-Book. Dennoch war der Alltag von einem Tag zum nächsten keiner mehr. Züge fuhren nicht, die Flugzeuge blieben am Boden, die Menschen durften nicht mehr zur Arbeit gehen. Genau darin darf man einen alten Traum der Kunst erkennen: Der Betrieb steht still und der Alltag ist keiner mehr. Augenblicklich machte sich eine gewisse Nervosität in Vielen breit. Befürchtungen darüber, wie sehr sich die Situation noch verschlimmern könnte. Ein argwöhnischer Blick auf die Regale im Supermarkt. Ist die Versorgung wirklich gesichert?
Ein Baufehler der Mediendemokratie wurde sichtbar. Wenn in den USA, in UK oder auch in Österreich medienschlaue Blender an der Macht sind, dann glaubt man denen (zu Recht) Nichts, wenn sie ihre beschwichtigenden Reden halten. Sebastian Kurz ist ein Mensch, dem zugetraut werden darf, auf einem sinkenden Schiff dessen Fahrtüchtigkeit wortreich zu loben – mit beiden Beinen fest im Beiboot stehend. Die Anfangspanik führte aber zu nichts Schlimmeren als übermäßigem Klopapierkauf und verflog bald, weil der Staat ja doch funktionierte. Aber lag nicht noch tiefer in dieser allgemeinen Unruhe eine Lust am Aufbruch verborgen? Eine allgemeine Frage flüsterte leise in den Herzen: Ändert sich jetzt endlich etwas? Fliegen bald die alten Statuen von ihren Sockeln? Heißt dies vielleicht, dass auch ich selbst anders leben kann und sogar sollte? Wäre nun die Chance dazu?
Woran erkannt man Geschichte?
Aus dem Faktum der Geschichte an sich darf geschlossen werden, dass es ja bereits Änderungen gegeben haben muss. Eine nicht unwichtige Beobachtung für ein betäubtes Bewusstsein. Wie haben sich diese Änderungen in dem Moment angefühlt, als sie passiert sind? Als plötzlich immer mehr Menschen klar wurde, dass es so nicht weitergeht. Dies ist aber allein deswegen schwer vorzustellen, weil es so schwer zu beschreiben ist. Genau hier hat Kunst und künstlerisch-ästhetische Analyse ihren Auftritt.
Wer Kunst schätzt, mag nicht unbedingt den Betrieb. Eine gewisse anarchistische Ader gehört in den Mix, weil diese das Erbe der Moderne ist. Wenn Kunst nicht Kult ist und damit rituelle Wahrung der bestehenden Verhältnisse (was zugegeben einige Jahrhunderte ganz gut funktioniert hat), sondern nun modern ist, dann gibt es nur Sprengung, Auflösung und Hinterfragung. Solange Kunst einen Kult ausstaffiert hat, durfte auch gerne die Herrschaft unterstützt werden. Das alles darf heute als bekannt vorausgesetzt werden. Auch ohne Theorie, denn jedes Werk, das dem Sprengzwang nicht folgt, offenbart sich schnell als muffig und betäubend.
Ohne ein gerüttelt Maß an Anarchie also keine moderne Kunst. Wobei hier die Obrigkeit das Problem ist, nicht aber die Regeln und Ordnung. Dieser Unterschied wird gerne von konservativer Seite verwischt, wo sich die Obrigkeit mit der Ordnung verwechselt. Ruhe und Ordnung ist dann Problem, wenn sie zum Diktat wird. Auch Anpassung ist nicht per se verurteilenswert, denn ein kluges Zusammenleben braucht diese und damit auch eine gewisse Einordnung. Und genau an dieser Stelle wird es knifflig, und hier liegt vielleicht der Grund dafür verborgen, warum auch diese Krise wieder sinnlos verstreichen wird.
Die Änderung, der Aufbruch, die Revolte sind dialektisch rotierend, denn in einer Gesellschaft, in der alles außergewöhnlich sein muss, in der die überhitzte Selbstanpreisung ohne Ausbruch und dauernde Regelverletzung kaum möglich ist, erscheinen die meisten Revolten schnöselig, selbstbezogen und dumm. Tatsächlich müssen wir heute von jedem Buch lesen, es sei bahnbrechend, jeder Film ist eine Offenbarung und das Tanztheater ist sowieso chronisch revolutionär. Belegt wird damit nur eines: die Worte sind abgeschabt, sie meines nichts mehr außer die werbliche Lüge. Allerdings, ohne Worte ist schlecht was sagen.
Analyseopfer Austria
Genau diese Misere zeigt nun wiederum die Kunst selbst auf. Allerdings ist auch hier der Erfolg fraglich. Österreich ist beispielsweise überanalysiert. Das Land wird seit Generationen von Trupps kluger Autor*innen und Künstler*innen durchleuchtet. Vielfach ist das Ergebnis eine Provinzliteratur, die nichts bewirkt.
Warum sich überhaupt mit einer historischen Besonderheit beschäftigen, die zehn Jahre später von niemandem mehr verstanden wird?
Meist liegt der Grund darin, dass in Österreich die letzte Instanz die Touristiker*innen sind. Alles kann zur Außendarstellung des Landes dienen und wird somit gefördert. Die Nestbeschmutzung ist nur eine Ausprägung werblicher Selbstanpreisung. Auch darf ein intellektuelles Publikum nicht mit Lobpreisung gelangweilt werden. Deswegen kommt es gut an, wenn Österreich »pfui gack« erscheint. Genau so weit kam die Revolte der Kunst in Hietzing an.
Nun wohnt aber der Reflexion ja doch eine gewisse Reflexion inne. Und Haslinger, Menasse, Jelinek, Schuh etc. sind Autor*innen, die sich mutig des Provinzthemas Österreich angenommen haben und von denen nicht gesagt werden darf, sie hätten dem Land nicht ordentlich was ins Stammbuch geschrieben. Nur leider war die Versöhnung mit der Verdorbenheit immer schneller als der Schrecken an ihr. Die Covid-Krise zeigt deswegen heute erbarmungslos, wie verfestigt die konservative Mehrheit ist.
Die Sozialist*innen gewinnen einzig dann, wenn sie auf bewahrend machen, und ansonsten gibt es jetzt drei Volksparteien in den Modefarben türkis, pink und grün. Über tiefgreifenden Wandel machen sich alle drei Volksparteien aktuell lustig. Die einen betonen die Wahrung des Bestehenden in einem etwas mehr christlichen Sinn (wobei Christus hier den Erfolg meint), die anderen sind ein bisschen mehr »pro Wirtschaft«, und die letzte Volkspartei macht halt etwas auf Öko, so lange das nur niemandem irgendwie wehtut. Ihr aller Motto aber lautet: keine Experimente! Oben muss oben bleiben und Unten unten.
Is this the End?
Aus dem aufgezwungenen Wandel durch das Virus haben sie nichts gelernt, und sie sind sogar stolz drauf. Die Krise wurde quasi überwältigt. Heißes Bad, kaltes Bad, und alles ist wieder beim Alten. Die Volksparteien haben auch ein anderes gemeinsames Kriterium: Kunst ist ihnen komplett blunzn. Wer an der Macht ist, lässt gerne die Hofkasper aufkreuzen, aber will sich bloß nicht mehr in Diskussionen verwickeln lassen, die gefährlich werden könnten. Der technokratische Machterhalt verlangt die vage Formel, die nichts anderes meint als: »Vertrauen Sie mir«. Darüber hinaus wird alles im getäfelten Hinterzimmer ausgedealt. Dass die Grünen hierbei allenfalls am Katzentisch mit dabeisitzen, scheint sie wenig zu stören. Den Revolutionsdiskurs (der eben jener der Kunst wäre) trotz aller seiner kniffligen, dialektischen Widersprüche verbieten sich die Machthaber*innen, und sie fahren anscheinend gut damit.
Und dennoch. Die nach wie vor größte Sünde für Künstler*innen ist das verstockte Herz. Wir dürfen uns heute ziemlich sicher sein, dass nie jemand Christus am Wegesrand hat stehen sehen, die Aufgabe für die Kunst war und ist es aber, dies zumindest für möglich zu halten. Das Leben von Künstler*innen mag sinnentleert erscheinen und ihre Kunstübung ermüdend öde, dennoch sollten sie etwas in sich bewahrt haben, das es für möglich hält, dass sich eines Tages doch noch etwas fundamental ändert. Zur aktuellen Situation in den USA meinte der marxistische Theologe Cornel West sinngemäß: »Wir können nur über die Kunst unsere wichtigen Anliegen kommunizieren, ohne die bleibt alles theoretisch und nur für winzige Kreise interessant. Unsere wichtigste Botschaft ist, dass wir fest daran glauben, jetzt eine bessere Welt erreichen zu können.« Vielleicht tut sich ja doch genau jetzt etwas, vielleicht werden jetzt uralten Fesseln abgelegt und vielleicht hören jetzt, im Zeitalter des Virus, viele den Weckruf. Allerdings, ohne den afrofuturistischen Beat von Bootsy Collins wird es vielleicht nicht gehen, denn ohne den bleiben doch alle wieder bewusstlos-trüb im Bett liegen und müssen sich morgens nach dem Aufstehen erst einmal foltern. Für Österreich ist es also noch ein weiter Weg.
Frank Jödicke ist Chefredakteur von skug, dem Magazin für Musikkultur (www.skug.at). Den Lock-Down mit zwei kleinen Kindern im Home-Office hat er gerne hinter sich und freut sich sehr, dass es BAM!, das Bündnis alternativer Medien, gibt.