Von KATARZYNA WINIECKA und ANDREAS AIPELDAUER
Denken wir zurück an das erste Wochenende diesen März in Wien. Es ist zwei Wochen nach den rassistischen Morden in Hanau, zwei Wochen, nachdem wir im Gedenken an die Ermordeten vor der Deutschen Botschaft standen. Am Freitag demonstrieren rund 4.000 Menschen bei einer spontan innerhalb weniger Tage organisierten Demo für die Öffnung von Grenzen für transnationale Solidarität, gegen Rassismus und Krieg. Am Samstag stören hunderte Antifaschist*innen einen Aufmarsch der »Identitären«. Am Sonntag, dem 8. März, am internationalen feministischen Kampftag, stehen wieder Tausende auf den Straßen gegen Kapitalismus und Patriarchat. Was für ein Wochenende! Aus heutiger Perspektive betrachtet wie aus einer anderen Welt.
Transnationale Solidarität gegen Krieg und Grenzen
Nach einer Eskalation in der nordsyrischen Provinz Idlib kündigt die Türkei ihren Deal rechtswidrige Zustände in Geflüchtetenlagern auf griechischen Inseln und dem mit der EU Ende Februar vorläufig auf. Sie hält ihre Grenzen zu Syrien weiterhin geschlossen, erklärt jedoch, dass sie Geflüchtete, die Europa erreichen wollen, nicht länger daran hindert. Tausende Menschen fliehen in Richtung türkisch-griechischer Grenze und versuchen, diese zu überwinden. Sie werden von griechischen Polizeikräften am Übertritt in die EU mit Tränengas und scharfer Munition abgewehrt. Im Grenzbereich feststeckend, werden sie als politisches Druckmittel zwischen Brüssel und Ankara instrumentalisiert. Die EU-Grenzpolitik lässt Schutzsuchende nicht nur passiv im Mittelmeer sterben: Am 2. März wird der 22-jährige Mohamed Al-Arab, der aus Syrien geflüchtet war, von griechischen Grenzschützer*innen getötet. Weitere Geflüchtete werden schussverletzt. Am 4. März wird Muhamad Gulzar aus Pakistan an der Grenze erschossen. Es zirkulieren Bilder, die schwerste Misshandlungen an Geflüchteten durch griechische Polizeikräfte dokumentieren. Türkische Einsatzkräfte wiederum hindern die Menschen daran, in die Türkei zurückzukehren. Zeitgleich herrschen menschenFestland. Faschistische Gruppen – auch aus Deutschland und Österreich – treffen in Griechenland ein. Solidaritätsstrukturen und Community Center für Geflüchtete werden abgebrannt. Diese Zuspitzung der Situation können viele Menschen in Österreich nicht mehr schweigend hinnehmen. Zusammen mit 50 anderen Organisationen schließen sie sich dem Aufruf von Cross Border Solidarity Wien an, um am 6. März auf den Straßen Wiens Widerstand gegen das österreichische und europäische Grenzregime zu zeigen. Unsere politischen Forderungen von damals sind aktueller denn je.
Zusätzlich erleben wir gerade einen Bruch. Anfang März konnte sich noch kaum jemand vorstellen, wie stark die Covid-19-Pandemie das gesellschaftliche Leben und unseren täglichen Alltag verändern würde. Anfangs noch bagatellisiert, sahen wir kurze Zeit später zusammenbrechende Gesundheitssysteme, rasch steigende Arbeitslosenzahlen und das Heraufziehen einer globalen Wirtschaftskrise, deren Ausmaß wir heute noch nicht abschätzen können. Es begann auch in Österreich die Zeit der sozialen Distanzierung und der radikalen Einschränkung von Bewegung und Begegnung im öffentlichen Raum. Zunächst beherrschten vor allem gesundheitspolitisch und virologisch begründete Fragen den Diskurs. Mittlerweile wird aber immer mehr Menschen bewusst, dass die im Ausnahmezustand sichtbarer gewordenen Missstände und Ungleichheiten in unserer Gesellschaft bereits vorher vorhanden waren. Sie liegen als schwerwiegende Probleme in kapitalistischen Gesellschaften begründet, eskalieren nun in der Krise und zeigen auf, wie verschiedene Unterdrückungsmechanismen miteinander verwoben sind. Es ist höchste Zeit für Veränderung. Es ist Zeit, über neue politische Möglichkeiten nachzudenken, unter anderem in Vorbereitung auf die kommenden Verteilungskämpfe um die in der Krise entstehenden Kosten.
Widersprüche, fehlende Rechtssicherheit und Polizeiwillkür
Zurzeit ist unsere Gesellschaft jedoch vor allem von Verunsicherung geprägt. Niemand kann voraussagen, was die Zukunft bringen wird. Auch wenn die Regierung Fahrpläne präsentiert, wissen wir, dass sich diese innerhalb kürzester Zeit wieder ändern können. Der Staat versucht, diese Verunsicherung zu kompensieren, indem er vorgibt, dass Ordnung und Kontrolle diese Krise lösen werden. Dabei wird eine Doppelstrategie gefahren. Zum einen erleben wir klassische autoritäre Maßnahmen. Zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die die Verbreitung von SARS-CoV-2 verhindern sollen, wurden erlassen. Bei Nichteinhaltung werden hohe Strafen angedroht bzw. verhängt. Die Polizeipräsenz auf den Straßen wurde deutlich erhöht. Die stark steigende Zahl an Anzeigen wird vom Innenminister bereitwillig verkündet – innerhalb der ersten drei Wochen nach Inkrafttreten des Covid-19-Maßnahmengesetzes immerhin 17.417 österreichweit. Viele dieser Anzeigen wurden mit fadenscheinigen Begründungen und in den Augen von Jurist*innen ohne ausreichende Rechtsgrundlage erstattet. Die unterschiedliche Auslegung der Ausnahmeregelungen durch die Exekutive bringt uns zum zweiten Teil der Strategie, die Kriminologin Angelika Adensamer und Soziologe Reinhard Kreissl treffend mit Desinformation als Herrschaftsmittel beschreiben.
Denn: Seit Wochen scheint gar nicht so klar zu sein, welches Verhalten aufgrund der vage formulierten Ausnahmeregelungen der Ausgangsbeschränkungen nun gesetzeskonform ist und welches nicht. Oft widerspricht das, was in den Verordnungen steht, dem, was auf Pressekonferenzen kommuniziert oder durch die Polizei exekutiert wird, deutlich. Diese undurchsichtige Rechtslage verstärkt die ohnehin vorhandene Unsicherheit in der Bevölkerung, sie verängstigt die Menschen und führt dazu, dass sie im Zweifel zuhause bleiben. Sie versucht, uns in die Vereinzelung zu zwingen und die Lösung der Krise auf unser individuelles Verhalten zurückzudrängen. Dieses Ergebnis ist ein Ziel der beschriebenen Strategie. Wir begreifen sie als Form von Repression.
Vor dem Virus sind nicht alle gleich
Weil das Virus vor Grenzen nicht Halt macht, zeigt es uns auf, dass das Überleben Einzelner von den Verhaltensweisen vieler Anderer abhängig ist. Es bringt die Verletzlichkeit all unserer Leben im globalen Kapitalismus zum Vorschein. Beschwörungen eines gemeinsamen Schicksals und Bekundungen eines solidarischen Zusammenhalts zeugen vom verbreiteten Verständnis, dass die Pandemie – anders als zuvor Kriege, Terror oder Naturkatastrophen – alle betrifft. Auch die Ausgangssperren betreffen uns alle gleichermaßen, doch die Unterschiedlichkeit ihrer Auswirkungen ist gravierend. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind von polizeilichen Maßnahmen stärker betroffen als andere. Die ungleiche Verteilung von Rechten, Chancen und Solidarität lässt manche Menschen Last und Gesundheitsrisiko in einem viel höheren Ausmaß tragen.
Um eine Ausbreitung zu verhindern, ist es notwendig, den Schutz der von Ansteckung und Erkrankung aktuell am meisten gefährdeten Gruppen zu organisieren. Das wird immer wieder beteuert. Allerdings betrifft es de facto nicht nur Menschen mit Vorerkrankungen oder im höheren Alter, sondern auch jene, welche aufgrund der ihnen auferlegten Lebensbedingungen den Risiken der Pandemie am direktesten ausgesetzt sind: Bereits davor marginalisierte Personen, wie Sexarbeiter* innen, People of Color, Schwarze Menschen und Geflüchtete, insbesondere jene mit unsicherem oder ohne Aufenthaltsstatus. Die zu einem großen Teil migrantischen Beschäftigten in all den meist unterbezahlten und häufig prekären Jobs, in denen Home Office keine Option ist und sich vielmehr die Wahl zwischen arbeiten gehen mit Infektionsrisiko oder Erwerbslosigkeit stellt. Nicht zuletzt die Menschen des globalen Südens, für die eine drohende Verschärfung von Armuts- und Hungerkrisen durch die Corona-Pandemie wahrscheinlich bedrohlicher ist als das Virus an sich.
Grenzregime
Die Frage, welches Leben als schützenswert betrachtet wird, welches Leben von Bedeutung ist, rückt in diesen Tagen wieder einmal mit brutaler Deutlichkeit ins Bewusstsein. Wen lassen wir leben, wen lassen wir sterben? Der kamerunische postkoloniale Denker Achille Mbembe bezeichnet die Nutzung politischer Macht, um zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss, als Nekropolitik und hält fest, dass ebendiese die aktuelle Antwort auf die Pandemie auf nationaler als auch internationaler Ebene ist. Obwohl der Erhalt von Gesundheit als oberste politische Priorität der Regierungen deklariert wird, beobachten wir dem entgegenlaufende Maßnahmen, wie das Fortbestehen und Quarantänieren von Massenlagern für Geflüchtete statt deren sofortiger Auflösung. Dies zeigt auf, dass wir uns in keiner medizinischen, sondern in einer schon vor der Pandemie bestehenden tiefen politischen Krise befinden. Hier tritt einer der größten Widersprüche aktueller Politik zu Tage: Die Frage nach dem Umgang mit schutzsuchenden, migrierenden Menschen in Zeiten militarisierter Grenz- und Kriegspolitik sowie kolonialer und kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden.
Mbembe erklärt, dass die absichtliche Untätigkeit des Staates – die oft mit dem Tod der Betroffenen endet – als maßgeblicher Teil nekropolitischer Strategien zu verstehen ist. Beispiele dafür sind die sich andauernd im Ausnahmezustand befindenden Lager für Geflüchtete oder die Verhinderung und Kriminalisierung von Seenotrettung. Sie wird erst möglich, nachdem die Figur des Anderen als tiefe Bedrohung für die Nation konstruiert und damit entmenschlicht wurde.
Was passiert aber, wenn das Wohl der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund eines unsichtbaren Krankheitserregers plötzlich in direkter Abhängigkeit zu einer Gruppe von Menschen steht, deren Rechte zuvor systematisch abgebaut wurden, deren Ausbeutung die nationale Wirtschaft maßgeblich mitaufgebaut hat, deren Stimmen, politische Forderungen und Kämpfe unterdrückt werden?
Was müsste eigentlich passieren, wenn die Gesundheit der österreichischen Staatsbürger*innen mit der Gesundheit eingesperrter Menschen in Lagern wie Traiskirchen, entrechteter migrantischer 24h Pfleger*innen, eigens dafür aus osteuropäischen Ländern eingeflogener Erntehelfer*innen in Wechselwirkung steht?
»Corona lehrt, dass meine Krankheit auch deine Krankheit ist, da sie dich morgen treffen kann. Deshalb müssen wir für uns selbst und füreinander verantwortlich sein. Corona lehrt die Welt über Leben von Geflüchteten, was es bedeutet, verletzlich, ignoriert, am Leben, aber unsichtbar, frei, aber eingesperrt zu sein, mit Tausenden von Worten, mit Tausenden von Gedanken, aber zum Schweigen gezwungen. Corona ist für alle die gleiche Lektion.« (Parwana Amiri)
Der Schutz ausnahmslos aller Menschen wird nicht vom Staat kommen. Wir werden ihn gemeinsam und von unten organisieren müssen. Es wird hierbei auch um ein Verständnis von Solidarität gehen, das neben der Unversehrtheit von Körpern auch soziale und politische Teilhabe sowie eine Transformation der Gesellschaft mitdenkt und erkämpft.
Katarzyna Winiecka ist Künstlerin und Aktivistin. Sie arbeitet vorwiegend zu Fragen der Kriminalisierung von Migration und Fluchthilfe sowie Sichtbarkeit der Kämpfe Geflüchteter.
Andreas Aipeldauer studierte Geschichte und beschäftigt sich mit Fragen zu Repression und praktischer Solidarität. Beide sind u. a. bei Cross Border Solidarity Wien organisiert.