UNGLEICHHEIT VON VERMÖGEN UND EINKOMMEN
Nach dem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert erscheint im März 2020 das zweite große Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty, Kapital und Ideologie in deutscher Übersetzung. Der englische Marxist und Ökonom MICHAEL ROBERTS, Betreiber des viel gelesenen Blogs*, hat darüber eine sehr kritische Buchbesprechung geschrieben:
Bereits 2014 veröffentlichte der französische Ökonom Thomas Piketty das vielbeachtete Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert. Indem der Titel des Marxschen Hauptwerks, Das Kapital, verwendet wurde, lag die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um eine Aktualisierung der Marxschen Kritik für das 21. Jahrhundert handelte. Piketty argumentierte darin allerdings nur, dass die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in den großen kapitalistischen Volkswirtschaften Extreme erreicht habe, die seit dem späten 18. Jahrhundert nicht mehr zu verzeichnen waren, und wenn nichts unternommen werde, werde die Ungleichheit weiter zunehmen.
Das Buch hatte einen großen Einfluss, nicht nur auf ÖkonomInnen (vor allem in Amerika, weniger in Europa), sondern auch auf die breite Öffentlichkeit. Zwei Millionen Exemplare seiner monumentalen 800 Seiten Publikation wurden verkauft, die voll von theoretischen Argumenten, empirischen Daten und Anekdoten ist, um die zunehmende Ungleichverteilung des Reichtums in modernen kapitalistischen Volkswirtschaften zu erklären. Das Buch gewann schließlich die zweifelhafte Ehre, für das Jetzt, sechs Jahre später, hat Piketty ein neues Buch mit dem Titel Kapitalismus und Ideologie herausgebracht, das noch umfangreicher als sein erstes Buch ist: etwa 1200 Seiten; wie ein Kritiker sagte, länger als Krieg und Frieden. Während Pikettys erstes Buch Theorie und Beweise über die zunehmende Ungleichheit in modernen Ökonomien lieferte, versucht dieses Buch zu erklären, warum dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich war. Davon ausgehend schlägt er einige die Ungleichheit mildernde Maßnahmen vor. Piketty erweiterte zudem seine Analyse auf die ganze Welt und präsentiert ein historisches Panorama, wie das Eigentum an Vermögenswerten in verschiedenen Gesellschaften, von China, Japan und Indien über die ursprünglich europäischen amerikanischen Kolonien bis hin zu feudalen und kapitalistischen Gesellschaften in Europa, behandelt und begründet wurde. meistverkaufte Buch, das niemand durchgelesen hatte und übernahm damit die Nachfolge von Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit.
Produktionsmittel versus Vermögen
Obwohl beide Bücher den Begriff Kapital in ihren Titeln verwenden, folgen beide nicht den Ideen von Marx. Tatsächlich lehnt Piketty die Gesetze von Marx über Wert und Profit als nicht relevant für das Verständnis des modernen Kapitalismus ab. Für Piketty ist die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital (privates Eigentum an den Produktionsmitteln) nicht relevant, bedeutend sei hingegen das Eigentum am Vermögen. Dank Vermögen könnten die Reichen ihren Anteil am Gesamteinkommen in einer Wirtschaft erhöhen. Es sei also nicht die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise erforderlich, sondern die Umverteilung der großen Vermögen.
Für Piketty ist Ungleichheit eine politische Entscheidung. Während Marx Ideologien als ein Produkt von Klasseninteressen betrachtete, vertritt Piketty die idealistische Ansicht, dass Geschichte durch den Kampf der Ideologien bestimmt sei. Die großen Volkswirtschaften haben die Ungleichheiten verschärft, weil die herrschenden Eliten falsche ideologische Rechtfertigungen für Ungleichheiten geliefert haben. Jede ungleiche Gesellschaft, sagt er, schafft eine Ideologie, um Ungleichheit zu rechtfertigen. All diese Rechtfertigungen ergeben das, was er die »Heiligsprechung des Eigentums« nennt.
Die Aufgabe von ÖkonomInnen sei es, diese falschen und legitimierenden Argumente zu widerlegen. Denken wir an die Milliardäre. Piketty sagt: »Schafft ihre ExisSteuererträ tenz tatsächlich Güter, die allen zugutekommen? Im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird, beruht umgekehrt ihr Reichtum auf Gemeingütern wie das öffentliche Wissen, die Infrastruktur und den Forschungslabors.« Die Vorstellung, dass Milliardäre Arbeitsplätze schaffen und das Wachstum ankurbeln, ist falsch. Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens betrug in den USA zwischen 1950 und 1990 2,2 Prozent pro Jahr. Als jedoch in den 90er und 2000er Jahren die Zahl der Milliardäre explodierte – von rund 100 im Jahr 1990 auf heute rund 600 – sank das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens auf 1,1 Prozent.
Vom Erben und den Steuern
Piketty sagt, dass der marktwirtschaftliche Kapitalismus à la Ronald Reagan reformiert werden muss. »Der Reaganismus begann jede Konzentration von Reichtum zu rechtfertigen, als wären die Milliardäre unsere Retter.« Und weiters: »Der Reaganismus hat seine Grenzen gezeigt: Das Wachstum wurde halbiert, die Ungleichheiten haben sich verdoppelt. Es ist an der Zeit, diese Phase der Heiligsprechung des Eigentums zu beenden.« Aber er scheut davor zurück, das vorzuschlagen, was die meisten Menschen als »Sozialismus« bezeichnen, nämlich die Enteignung von privatem Kapital. Stattdessen will er über den Kapitalismus »hinwegkommen«. Weit davon entfernt, Eigentum oder Kapital abzuschaffen, will er die Reichtumsverteilung auf die untere Hälfte der Bevölkerung ausweiten, die selbst in reichen Ländern nie viel besessen hat. Dazu bedürfe es einer Neudefinition des Privateigentums als »temporär« und begrenzt: Man kann es zu Lebzeiten in moderaten Mengen genießen, aber man kann es nicht an seine Erben weitergeben.
Wie soll das geschehen? Nun, Piketty fordert eine abgestufte Vermögenssteuer von 5 Prozent bei Besitz von zwei Millionen Euro und bis zu 90 Prozent bei mehr als zwei Milliarden Euro Besitz. »KapitaleignerInnen werden weiterhin Millionen oder Zehnmillionen besitzen«, sagt er. »Aber darüber hinaus müssen diejenigen, die Hunderte von Millionen oder Milliarden haben, mit den AktionärInnen und MitarbeiterInnen teilen. Also nein, es wird keine Milliardäre mehr geben.«. Aus Steuererträ
gen könnte ein Land wie Deutschland jedem/jeder BürgerIn im Alter von 25 Jahren eine Geldsumme in Höhe von rund 120.000 Euro zur Verfügung stellen.
Piketty fordert auch »Bildungsgerechtigkeit«, indem er im Wesentlichen den gleichen Betrag für die Bildung jedes Einzelnen vorschlägt. Und er plädiert auch für ein allgemeines Mitspracherecht der Lohnabhängigen bei der Führung ihrer Unternehmen, wie es in Deutschland und Schweden existiert. Die MitarbeiterInnen sollten 50% der Sitze in den Organen der Gesellschaft einnehmen, zugleich soll das Stimmrecht auch der größten Aktionär Innen auf 10 Prozent begrenzt werden. Für die deutschen LeserInnen stellt sich sofort die Frage, warum die VertreterInnen der Belegschaften in den Unternehmensleitungen bisher nichts getan haben, um die wachsende Ungleichheit zu stoppen oder einzudämmen.
Neoliberale Zustände und ihre Überwindung
Piketty nennt seine Orientierung über den Kapitalismus hinaus einen »partizipatorischen Sozialismus und Sozialföderalismus«. Aber sie trägt den Beigeschmack der Rückkehr zum so genannten goldenen Zeitalter von 1948-65, als die Ungleichheit viel geringer war, es Vollbeschäftigung gab und die ArbeiterInnen in der Lage waren, sich zu bilden und dadurch qualifiziertere und besser bezahlte Jobs bekamen. Das Problem sei ein Wechsel in der Ideologie der sozialdemokratischen Parteien gewesen. Die sozialdemokratischen Parteien ließen ihre ursprünglichen Ziele der Gleichstellung fallen und entschieden sich stattdessen für die Leistungsgesellschaft, um ein besseres Leben für die ArbeiterInnenklasse zu ermöglichen. Und zwar deshalb, weil sie sich allmählich von Parteien der weniger gebildeten und ärmeren Schichten zu denjenigen der gebildeten und wohlhabenderen Mittel- und Oberschicht gewandelt hatten. Diese Menschen, die GewinnerInnen der Sozialdemokratie, wählten weiterhin linke Parteien, aber ihre Interessen und ihre Weltanschauung waren nicht mehr die gleichen wie die ihrer (weniger gebildeten) Eltern. Die Ideologie der sozialdemokratischen Parteien änderte sich als Ergebnis ihrer eigenen erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Soweit Pikettys Analyse.
Aber ist sie korrekt? Die Ideologie der Sozialdemokratie änderte sich nicht nur, weil sich die Klassenzusammensetzung dieser Parteien von IndustriearbeiterInnen zu gebildeten Fachleuten änderte. Das kurze »goldene Zeitalter« der Sozialdemokratie ging nicht wegen eines Ideologiewechsels zu Ende, sondern weil die Rentabilität des Kapitals in den 1970er Jahren eingebrochen ist (wie es von Marx im Kapital beschrieben wird). Das bedeutete, dass pro-kapitalistische PolitikerInnen keine Zugeständnisse mehr an die ArbeiterInnenklasse machen konnten; in der Tat wurden die Errungenschaften des goldenen Zeitalters in der neoliberalen Epoche umgekehrt. Die Ideologie änderte sich mit der Profitkrise des Kapitals, nicht umgekehrt. Und die sozialdemokratischen FührerInnen haben diesen Wandel mitgetragen, weil sie es letztlich nicht für möglich halten, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen. Auch nach ihrer Ansicht gilt: »Es gibt keine Alternative« – um Thatchers Phrase zu verwenden.
Piketty meint, dass die Besitz- und Leistungsideologie der neoliberalen Periode fragil wird. »Es wächst das Verständnis, dass die Reichen die so genannte Leistungsgesellschaft dadurch dominieren, in dem sie ihre Kinder an den besten Universitäten studieren lassen, politische Parteien kaufen und ihr Geld vor der Besteuerung verstecken.« Dies ermögliche mehr Spielraum für Ideen der Umverteilung. Aber er will nicht das Privateigentum und die Ausbeutung der Arbeitskräfte durch ein System des gemeinsamen Eigentums und der gemeinsamen Kontrolle ersetzen. So gesehen können die großen multinationalen Unternehmen weitermachen, die großen Pharma unternehmen können weitermachen, ebenso die Unternehmen für fossile Brennstoffe; der militärisch-industrielle Komplex wird weiter bestehen. Ebenso werden die wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Produktionsweise bestehen. Aber welche Chance besteht, dass die gegenwärtige »Ideologie der Heiligsprechung des Eigentums« überwunden werden kann, ohne die kapitalistische Produktionsweise selbst zu übernehmen?
*) Michael Roberts Blog blogging from a marxist economist
https://the nextrecession.wordpress.com