MICHAEL GRABER sucht und findet Verborgenes im Koalitionspakt von Türkis-Grün.
»Besser Mitte-Rechts mit den Grünen als mit einer rechtsextremen Partei.« Mit dieser politischen Philosophie begann der neue grüne Vizekanzler sein öffentliches Wirken. Sie ergänzt den Satz des Kanzlers, der davon sprach, die neue Regierung vereine das Beste aus den zwei Welten, die der türkisen Mitte-Rechts-Politik und die der Öko-Agenden der Grünen. Allerdings ist auch Blau dabei, ohne dabei sein zu müssen. Wir brauchen hier nicht über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse, was hier nebeneinandersteht, zu resümieren. Sie sind offensichtlich, bekannt und wurden ausführlich kommentiert.
Überrascht hat aber dann doch, dass als eine der ersten Maßnahmen, die die Regierung ankündigte, die im September von allen Parteien mit Ausnahme der Neos beschlossene und ab 1.1.2020 geltende Hacklerregelung (abschlagsfreie Pension nach 45 Arbeitsjahren mit 62 Jahren) wieder gekillt werden soll. Das erinnert an den Antritt der schwarz-blauen Regierung, deren erste Maßnahme Anfang 2018 war, die Aktion 20.000 zugunsten älterer Arbeitsloser abzuschaffen. Grüner Kommentar: Es sei ungerecht gegenüber Frauen, Männer mit 62 Jahren ungestraft in Pension gehen zu lassen, solange das Pensionsalter der Frauen 60 Jahre beträgt. Eine Angleichung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters nach unten ist also unvorstellbar?
In diesem Beitrag soll eher das »Kleingedruckte« in einigen wenigen ausgewählten Kapiteln sichtbar gemacht werden, auf die sich die Regierungsparteien im Koalitionspakt geeinigt haben und auf das in den gängigen Medien kaum oder gar nicht eingegangen wurde.
Wie eh und je
Umverteilung von unten nach oben: Nehmen wir das Kapitel Wirtschaft und Finanzen. Dass dabei Grün nichts mitzureden hatte (vielleicht mit Ausnahme der erst zu konzipierenden CO2-Steuer oder deren Derivate) ist klar. Die schrittweise Senkung der unteren Grenzsteuersätze ist zwar positiv für kleine und mittlere Einkommen (mit Ausnahme der kleinsten EinkommensbezieherInnen, die keine Einkommensteuer zahlen), gilt aber zum Teil nur ab, was die kalte Progression seit der letzten Steuerreform weggefressen hat. Der nach oben umverteilende Nebeneffekt besteht aber darin, dass davon auch die Höchsteinkommen profitieren, was noch durch das Auslaufenlassen des Höchststeuersatzes von 55 Prozent für Einkommen über eine Million Euro ab 1.1.2020 verstärkt wird. Hier scheint die Regierung den Symboleffekt erkannt zu haben, denn nun plädieren der Finanzminister und der Kanzler für die Beibehaltung, offen bleibt allerdings, ab wann und wie lange. Geplant wird weiters die Senkung der Profitsteuer der großen Konzerne von 25 auf 21 Prozent, was einen Steuerausfall von 1,5 Milliarden Euro bedeutet.
Damit werden die großen Kapitalgesellschaften prozentmäßig nur die Hälfte dessen zahlen, was einem mittleren Jahresarbeitseinkommen (ab 31.000 Euro) abgezogen wird. Das symbolhafte Kleingedruckte: ausgerechnet die Sektsteuer wird abgeschafft. Tabu ist eine Mehrwertsteuersenkung oder gar deren Abschaffung auf Grundnahrungsmittel, Mieten oder Heiz- und Betriebskosten. Das Kleingedruckte: sie wird nur auf Frauenhygieneprodukte gesenkt.
Für WertpapierbesitzerInnen (maximal 10 % der Bevölkerung) gibt’s einige Zuckerln: Die Kapitalertragsteuer auf Kursgewinne soll abgeschafft werden, ebenfalls für »ethische und ökologische« Investitionen (auch Finanzinvestitionen).
Die Wirtschaftlobbies sollen Zugang ins Bildungssystem erhalten. So steht es im Kapitel Standort- und Industriepolitik »Unternehmerisches Denken« soll im Bildungssystem verankert werden, z. B. durch eine »freiwillige Unternehmerwoche« ab der Oberstufe, um »Zugang zu unternehmerischem Denken zu ermöglichen«.
Zynisches
»Beraten vor strafen« gilt nur für Unternehmen, aber nicht für den kleinen Mann oder die kleine Frau, die sich nicht »regelkonform« verhalten.
Zynisch wirken die paar Zeilen zur finanziellen Förderung von »Social Entrepreneurs«, d. h. gewinnorientierte Unternehmer, da angesichts der Auseinandersetzung im Sozialbereich, wo die Beschäftigten derzeit unter Hintanstellung einer Gehaltsforderung für die Durchsetzung der 35-Stundenwoche gegenüber den von öffentlichen Subventionen abhängigen gemeinwohlorientierten Sozialverbänden kämpfen.
Im Kapitel Wahlrechtsreform wird lang und breit die Behandlung der Briefwahlstimmen erörtert, eine Vereinfachung der für eine Kandidatur notwendigen Aufbringung der Unterstützungserklärungen bleibt nach wie vor außen vor. Erwähnt werden die Kammerwahlordnungen (was sich natürlich auf die Arbeiterkammerwahlen bezieht), um diese »transparenter« und »serviceorientierter« zu gestalten – das lässt sich nur als gefährliche Drohung lesen. Eher lustig ist ein Absatz, der verlangt, dass in Vorwahlzeiten das Parlament keine budgetrelevanten Beschlüsse ohne ordentliches Begutachtungsverfahren fassen dürfe. Zur Erinnerung: Türkis-Blau tat eben dies, sie peitschten nämlich ohne ordentliches Begutachtungsverfahren den 12-Stunden-Arbeitstag bzw. die 60-Stunden-Arbeitswoche im Parlament durch.
Im Kapitel Familien- und Eherecht wird verlangt, die Unterschiede »zwischen dem Institut der Ehe und der eingetragenen Partnerschaft« herauszuarbeiten, um sie der »heutigen gesellschaftlichen Lebensrealität anzupassen«. Es steht also alles andere, aber nicht die volle Angleichung an.
Widersprüchliches
Widersprüchlich: Einerseits wird eine höhere Effizienz des Exekutionsverfahrens gefordert, andererseits »Beiträge zur effektiven Entschuldung und Armutsbekämpfung«.
Widersprüchlich auch das Kapitel Wohnen. An vorderster Stelle steht »Eigentumsbildung« u. a. durch Mietkauf als »sozial orientierter Einstieg ins Eigentum«. Dem dadurch entstehenden Entzug von Wohnungen am Wohnungsmarkt steht der Satz gegenüber, »die Bundesregierung möchte das Angebot an Wohnungen vergrößern«. Allerdings bezieht sie sich dabei vor allem auf Leerstände und die Wiederherstellung der Zweckwidmung der Wohnbauförderung, was natürlich positiv wäre.
Positiv vermerken wir auch die Absicht, das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) zu stärken, was allerdings noch keine konkrete Finanzzusage bedeutet. Es soll auch für einen jährlich zu erstellenden Rechtsextremismusbericht zuständig werden, wobei das DÖW auch Zugang zu den Daten des Innen- und Justizministeriums erhält.
Nach langem Suchen im außenpolitischen Teil findet sich doch ein Satz zur österreichischen Neutralität, der allerdings gleich mit der GASP (Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik) und PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, die langfristig zu einer Euro-Armee führen soll) in Verbindung gebracht wird. Im gleichen Kapitel findet sich eine Bemerkung, die sogar zweimal aufscheint: Österreich trete weltweit nicht nur gegen Rassismus und Antisemitismus, sondern auch gegen Antizionismus auf. Die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus läuft hier darauf hinaus, die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik zu delegitimieren.