Die utopische Fantasie von der geschichtslosen Marktgesellschaft, aber auch der wie auch immer geartete Traum von einem vereinten Europa, haben am 23. Juni 2016 eine herbe Niederlage erlitten. Was einem Papandreou vor dem Hintergrund des rücksichtslosen politischen Kurses der EU in der griechischen Schuldenfrage verwehrt blieb – nämlich sich mit demokratischen Mitteln gegen die Politikkonzepte der EU bzw. der Troika zu stellen –, das haben die Briten jetzt aus viel eigensinnigeren, nationalistischeren Motiven knallhart durchgezogen. Mit einer knappen Mehrheit hat man sich für den Austritt aus der EU entschieden. Im Gegensatz zum folgenlosen Drama des Oxi-Referendums von Alexis Tsipras dürfte diese Volksabstimmung nun jene Konsequenzen haben, die ihrem Text nach zu erwarten waren. Was das für das Vereinigte Königreich selbst bedeutet – man vermutet nun bestärkte Unabhängigkeitstendenzen in Schottland und Nordirland, denn dort ging das Referendum mehrheitlich gegen einen Austritt aus – ist eben so unklar wie die Zukunft der Europäischen Union.
In den Führungsetagen letzterer wird nun hektisch versichert, dass dem Referendum keine wirtschaftliche oder politische Kettenreaktion folgen wird. Man habe jetzt immerhin zwei Jahre Zeit, um den Brexit auszuverhandeln und korrekt über die Bühne zu bringen. Aber die formale Abwicklung dieses beispiellosen Ausscherens in der Geschichte der europäischen Integration ist im Moment wohl das geringste Problem der EU.
Die weltweiten Märkte als EKG der Finanzwirtschaft reagierten mit einem Schock – ob Herzstolpern oder Infarkt, das derzeit ohnehin volatile Kreislaufsystem des Kapitals, das mit der City of London immerhin eines seiner lebenswichtigen Komponenten im Vereinigten Königreich hat, wird nun einige Zeit aus seinem Rhythmus gebracht. Die Finanzmärkte müssen nun ausschnapsen, was das alles für sie zu bedeuten hat. Die Konsequenzen davon werden sich in den nächsten Wochen zeigen. Ob Juncker Recht behält, dass man keine Kettenreaktion zu befürchten hat, wird also auch vom Verhalten der Börsen abhängig sein.
Die Rechtspopulisten in ganz Europa haben derweil Blut geleckt und werden den 23. Juni feiern. Sie waren strategisch sicherlich bestens auf dieses Ergebnis vorbereitet und werden (spätestens nach dem Ende der Fußball-EM) in die Offensive gehen. Dass Strache, Le Pen und Co. erst vor einigen Tagen bei einem inszenierten Gipfel der Europäischen Rechtspopulisten von einer neuen Vision für Europa gesprochen haben, ist kein Zufall. Die ersten Forderungen nach weiteren Austritten sind schon in den frühen Morgenstunden des 24. Juni bei den Nachrichtenagenturen eingelangt.
Man darf jedenfalls auf die Reaktionen in der Presse und seitens der marktkonformen PolitikerInnen in der EU gespannt sein. Wird man über die Motive für dieses Ergebnis offen diskutieren? Wird man versuchen, den rechtspopulistischen nationalistischen Tendenzen eine progressive Reform des postdemokratischen Exekutivföderalismus entgegenzustellen, gar vielleicht einen fruchtbaren Weg für mehr Demokratie, Solidarität und politische Souveranität gegenüber den Märkten einschlagen? Oder wird man den Kopf in den Sand stecken, die Britinnen und Briten – besonders seitens des Boulevard – für verrückt erklären und die Instrumente der direkten Demokratie verteufeln? Gibt es statt den »Schuldengriechen« bald die »Abspaltbriten«? Und wie wird die Linke reagieren, besonders wenn es vielleicht am Sonntag den SpanierInnen gelingt, eine weitere Regierung gegen die Austeritätspolitik zu wählen?
Sicher ist nur, dass nun nichts mehr sicher ist. Es war trotz vielem Geschwafel von einem vereinten Europa nur eine Frage der Zeit, wann die von der europäischen Elite durchgesetzte Entwicklung hin zur marktkonformen Demokratie und zum innereuropäischen Standortwettbewerb mit ihren inneren Widersprüchen konfrontiert werden würde. Schon seit der »Eurokrise« und natürlich auch mit der »Flüchtlingskrise« wurden und werden die Bruchstellen deutlich. Am 23. Juni ist zumindest eine davon endgültig aufgebrochen.